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Katja Petrowskaja
Familiensaga im Kontext des Zweiten Weltkriegs

Etwa 40 Millionen Tote forderte der Zweite Weltkrieg unter den Sowjetbürgern. Katja Petrowskaja, in Kiew geboren und in Berlin lebend, hat in "Vielleicht Esther" die Menschen aus der Anonymität der Masse hervorgeholt. Es ist ihre eigene Familie, von der sie über mehrere Generationen hinweg erzählt.

Von Holger Heimann | 12.05.2014
    Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja, aufgenommen am 13.03.2014 auf der Leipziger Buchmesse in Leipzig (Sachsen).
    Für die Erzählung "Vielleicht Esther", die zentraler Teil des gleichnamigen Buches ist, wurde Katja Petrowskaja mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. (Arno Burgi / dpa)
    Es wird geschätzt, dass der Zweite Weltkrieg unter der Bevölkerung der Sowjetunion 40 Millionen Tote forderte. Keine Familie ist davongekommen, jede hatte Opfer zu beklagen. Doch vorstellbar wird das Grauen so nicht. Das Schicksal des Einzelnen geht unter, wird verschluckt von der unglaublichen Zahl. Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja, die in Kiew geboren wurde und seit 1999 in Berlin lebt, hat in ihrem Debüt "Vielleicht Esther" die Menschen aus der Anonymität der Masse hervorgeholt und sichtbar gemacht. Es ist ihre eigene, weitverzweigte Familie, von der die Autorin über mehrere Generationen hinweg erzählt. Dabei unternimmt sie eine Reise durch Orte und Zeiten. Diese führt bis ins Warschau des 19. Jahrhundert und gelangt doch immer wieder zu einem einzigen Punkt: Der Große Vaterländische Krieg ist der Magnet, das monströse Zentrum.
    "Man stolpert immer wieder über den Krieg. Es war mir schon damals peinlich, als ich geschrieben habe, dass bei mir diese Erinnerung so stark ist. Ich habe darüber geschrieben, was längst vergangen ist. Und für mich ist es noch keine Vergangenheit. Das ist eine Gegend mit ganz starken Affekten und unlösbaren Konflikten, deswegen zieht es uns immer in diese Richtung. Nicht nur weil uns Gewissen und Moral in diese Richtung bringen, sondern das ist ein ganz unheimlicher Stoff."
    Und zuweilen haftet diesem Stoff auch etwas Sagenhaftes an. Der Großvater Wassilij kehrt erst nach einer 40-jährigen Odyssee aus dem Krieg zu seiner Familie zurück. Die Enkelin ist zwölf, als er plötzlich wie aus dem Nichts auftaucht, meistens schweigt und bald darauf verstirbt. Er ist zu Beginn der deutschen Invasion bei Kiew eingekesselt und gefangengenommen worden. Nach dem Sieg der Roten Armee winkt ihm nicht die Freiheit, sondern der Gulag. Denn in Gefangenschaft zu geraten und diese zu überleben, war verboten und musste bestraft werden. Eine Frau rettet ihn, bei ihr bleibt er. So geht die Familiensaga. Katja Petrowskaja aber zweifelt. Und also verfolgt sie den Weg ihres Großvaters, fährt nach Mauthausen, wo er KZ-Häftling war. Hier, so glaubt die Enkelin, geschah etwas, was die Heimkehr des Überlebenden zu seiner jüdischen Ehefrau ausschloss. Nur Andeutungen erlaubt sich die Autorin, Gewissheit erlangt sie nicht.
    "Ich habe versucht, in diesem Buch nichts zu erdichten. Ich habe sehr viel mit Dokumenten gearbeitet und verschiedenen Aussagen. Man versucht, wenn man nicht sicher ist, alle Versionen reinzunehmen. Und auch diese vage Vermutung. Das ist vielleicht die einzige Möglichkeit, irgendwie in Richtung Wahrheit zu gehen, dass man Fakten kennt, Grundlagen, Nacherzählungen und auch weitergeht mit Vermutungen."
    Eine große, schmerzhafte Erzählung über die Vergangenheit
    In immer neuen Anläufen und Windungen umkreist Katja Petrowskaja die Vergangenheit, nähert sich den einzelnen Schicksalen an, begibt sich mutig in das unübersichtliche, komplizierte Geflecht aus einer Vielzahl von vagen Hinweisen, bloßen Gerüchten und dokumentierter Überlieferung. Doch am Ende steht trotzdem lediglich die Mutmaßung. Das ist das Prinzip des gesamten Textes. Es ist eine große, schmerzhafte Erzählung über die Vergangenheit, welche die Unsicherheit der Überlieferung, die Vagheit der Recherche in das Erzählen mit einbezieht. Das Wort "vielleicht" ist ein Schlüsselbegriff des Buches. Nicht umsonst heißt die titelgebende Geschichte, für die Katja Petrowskaja im vergangenen Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, "Vielleicht Esther". Die jüdische Urgroßmutter, die vielleicht Esther hieß, niemand weiß es mehr genau, wird in Kiew auf offener Straße von deutschen Soldaten erschossen. "Mit nachlässiger Routine" – so hat es die Autorin festgehalten. Zugleich räsoniert sie: "Ich beobachte diese Szene wie Gott aus dem Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Vielleicht schreibt man so Romane. Oder auch Märchen." Aber das ist nicht ihr Anliegen.
    Ergründen, nicht erfinden
    Sie will ergründen, nicht erfinden. Und so hat sie den Hergang auf Grundlage der Berichte von Augenzeugen rekonstruiert. Die alte Frau hatte sich gehorsam und guten Glaubens aus dem Haus auf die Straße geschleppt. Lautete die Anweisung doch, dass sich alle Juden an einem bestimmten Ort einzufinden hätten. Unklar war der gebrechlichen Greisin, die sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, jedoch, wie sie zu der Sammelstelle kommen sollte. Also wandte sie sich fragend an die Patrouille. Katja Petrowskaja hat immer wieder betont, keine Schriftstellerin zu sein, weil sie lediglich das Vergangene nachzeichne. Dass ihre Methode trotzdem der Literatur weit näher steht als der Geschichtswissenschaft weiß sie gleichwohl.
    "Komischerweise an einigen Stellen dieses Buches habe ich gedacht, ich gehe nicht weiter. Man konnte noch ein Dokument finden. Das ist komplett unhistorisch, ganz bewusst auf einige Dokumente zu verzichten. Es ist ganz schlimm. Und andererseits mit 'Vielleicht Esther' war es mir auch genug für diese Geschichte. Und ganz interessant, ich habe erst im Prozess der Arbeit verstanden, wie wichtig es mir war, dass sie 'Vielleicht Esther' hieß, weil es keine Relativierung der ganzen Geschichte ist. Das war das Wichtigste für mein Buch: Es gibt überhaupt keine Selbstverständlichkeit, dass die Geschichte im 20. Jahrhundert in diese Richtung gegangen ist und nicht in die andere. Dass alle diese Toten so selbstverständlich sind. Wenn wir diese Zahlen akzeptieren, dann akzeptieren wir Gewalt."
    Das massenhafte Morden erledigen die Deutschen in der nahen Schlucht von Babij Jar. Dem Massaker entkommt lediglich, wer zuvor fliehen konnte. In letzter Sekunde gelingt es der Familie Petrowskij, einen Platz auf einem LKW zu ergattern. Dies aber nur, weil vorher ein Fikus von der Ladefläche geräumt wurde und der Vater der Erzählerin stattdessen Platz findet. Später dazu befragt, kann er sich an die Szene partout nicht mehr erinnern. Ob es den Tausch tatsächlich gab, bleibt ungeklärt. "Es hat sich also herausgestellt, oder es könnte sich herausstellen, dass wir unser Leben einer Fiktion verdanken", folgert die Erzählerin. In welchem Verhältnis Erfindung und Wirklichkeit, Leben und Literatur stehen – diese Frage beschäftigt Katja Petrowskaja. Und sie legt nahe, dass vielleicht zuweilen erst eine kleine Prise Dichtung die Erinnerung wahrheitsgetreu macht.
    "Es kann sein, dass schon in unserem Leben viel Fiktion steckt und wir stolpern ständig über diese Fiktion. Das ist ein bisschen meine These, dass viel mehr uns Fiktion bestimmt und Fiktion rettet als etwas anderes."
    Sätze von luftiger Leichtigkeit
    Das Erstaunliche an dieses Buch ist, dass es von der ungeheuren Last des Stoffes nicht erdrückt wird, ja nicht einmal ächzt unter dem Gewicht. Trotz all des Schreckens, der das Atmen schwer macht, schreibt die Autorin Sätze von luftiger Leichtigkeit. Diese so dichte wie assoziationsreiche Familienerzählung ist deshalb schockierend und tröstend zugleich. Vier Jahre hat Petrowskaja daran gearbeitet.
    "Der Text hat sich ständig bewegt, so wie eine unerzogene Pflanze. Ich habe wahnsinnig viel umgestellt."
    Und sie hat mit der Sprache gerungen. Nach wie vor bezeichnet die gebürtige Kiewerin den Umgang mit dem Deutschen als einen harten Kampf. Ihre Muttersprache, das Russische, kommt ihr leichter, fließender über die Lippen. Einige Texte ihres Buches sind anfänglich noch "im Gewühl zwischen den Sprachen" entstanden, wie sie selbst sagt. Doch im Fortgang der Arbeit wurde das Deutsche immer beherrschender – und zudem existenziell wichtig. Vorsichtig tastend und doch entschlossen hat sie sich vorwärts bewegt.
    "Ich habe das Ganze auf Deutsch geschrieben, um aus diesen Rollen rauszukommen. Ich bin absolut gegen solche Sachen, die einen zu Schuld oder Sühne oder Opfertum prädestinieren. Ich möchte nicht durch diese Geschichte definiert werden. Das ist eine enorm wichtige Geschichte. Ich wollte sie erzählen. Das ist Teil von unserer Welt. Durch diese deutsche Sprache wird plötzlich diese Vielleicht Esther so entfremdet. Es ist nicht meine Urgroßmutter. Jeder darf sie adoptieren. Es ging mir darum, dass dieses Unglück adoptiert werden soll. Ich verstehe viel mehr, was ich auf Russisch mache. Natürlich ist das meine Muttersprache. Und auf Deutsch zwar schaffe ich etwas, aber ich weiß nicht, wo es landet, in welchem Raum ich bin."
    Versöhnlicher Gesang
    Die Autorin wirkt nachdenklich beim Treffen in der geräumigen Küche ihrer Berliner Wohnung – beinah verstört angesichts der russischen Machtdemonstration gegenüber der Ukraine, wo sie ihre Eltern und viele Freunde weiß. Ihr Buch war der Versuch, aus den fixen Zuschreibungen der Vergangenheit herauszutreten. Nun aber überlagert die Gegenwart mit Vehemenz jegliche Erinnerung. Der Aufmarsch der von Moskau dirigierten Truppen auf der Krim und die Bedrohung der Ukraine lassen den Blick zurück, die Beschäftigung mit der Vergangenheit mit einem Mal als anachronistisch und beinah unangebracht erscheinen. Jedenfalls sieht das die Autorin so.
    "Wir haben inmitten meiner Heimatstadt hundert Tote. Putin marschiert in mein Land. Für mich klingt einiges in meinem Buch sehr manieriert. Wenn man heutzutage Nachrichten sieht und Herz hat und ein bisschen Gewissen möchte man sich sofort erhängen. Aber irgendwie geht es immer weiter. Und es ist die Frage, wie. Ich wolle nicht dieses Buch schreiben. Ich wollte etwas Schöneres machen, nicht so verstörend. Es ging immer in diese Richtung. Vielleicht war diese Melodik im Buch oder diese Art Bewegung auch der Versuch, eine Art Liturgie zu erstellen."
    Es ist ein versöhnlicher Gesang, der Liebe und Leiden umspannt. Gebannt und dankbar lauschen wir ihm.
    Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther.
    Suhrkamp Verlag 2014, 288 Seiten, Preis. 19,95 Euro