Durak: Herr Geißler, teilen Sie denn diese Auffassung?
Geißler: Ja, die teile ich. Und das Papier geht ja von einer richtigen Analyse aus, dass es nämlich wegen des demographischen Faktors nicht so weitergehen könne. Nur ich finde es springt zu kurz, denn durch diese demographische Entwicklung ist ja nicht nur der Sozialstaat gefährdet, das ist ein Aspekt. Gefährdet ist aber auch die ganze deutsche Wirtschaft. Wenn nichts passiert, dann kriegen wir eine Reduzierung der Bevölkerung auf ungefähr 58 Millionen bis zum Jahre 2050 und einen Rückgang der Erwerbstätigen auf rund 26 Millionen. Der Konsum wird um 25 Prozent zurückgehen, die Innovationsfähigkeit wird sich halbieren. Und dann wird Deutschland kein Einwanderungsland mehr sein, sondern ein Auswanderungsland, weil kein vernünftiger junger Mensch mehr in einem solchen Land bleiben wird. Dafür vermisse ich allerdings in dem Papier die grundlegenden Vorschläge, wie man das verändern kann.
Durak: Herr Bahr!
Bahr: Ja, ich glaube, da gehen wir ja an die Ursache heran, weil natürlich die jungen Leute dann auswandern werden, wenn wir zum Beispiel nicht die Sozialversicherungen so reformieren, dass die Beiträge auch einigermaßen finanzierbar sein werden. Wenn ich jetzt mal den Bereich Rentenversicherung nehme und das kalkuliere, dass ohne Reform der Rentenbeitrag bald an die 30 Prozent gehen könnte, wir Krankenversicherungsbeiträge haben, die an die 20 Prozent gehen, dann sehe ich in der Tat die Probleme, dass junge Leute auswandern werden und in anderen Ländern insbesondere im hochqualifizierten Bereich ihre Arbeit suchen und dann möglicherweise auch finden werden. Aber ich bin da vielleicht noch etwas optimistischer als mein Gesprächspartner Herr Geißler, vielleicht aus jüngeren Jahren optimistischer, weil ich sage: Wenn wir an diese Reform herangehen, dann können wir das, so glaube ich, auch hinkriegen. Natürlich müssen wir, ich vermute Herr Geißler spielt auf Familienpolitik an, auch das thematisieren...
Geißler: Nein.
Bahr:... Nur allein durch eine höhere Geburtenrate, die wir vielleicht in den nächsten Jahren hinkriegen, werden wir das Problem nicht lösen, weil der Pillenknick schon in den 60er Jahren war. Und das können wir gar nicht mehr bei unserer Elterngeneration aufholen, dass unsere Eltern vielleicht zu wenig Kinder bekommen haben.
Geißler: Aber jetzt bringen Sie ein Argument, das ich nie verwandt habe. Das ist im Übrigen überhaupt nicht meine Meinung. Mit mehr Kinderkriegen ist die Sache nicht zu machen.
Bahr: Gut, ich hatte das in die Richtung verstanden.
Geißler: Sie müssen nur Folgendes sehen: Ich bin weder optimistisch noch pessimistisch, sondern ich bin einfach realistisch. Was Sie gesagt haben über die Sozialversicherungsbeiträge ist ja völlig richtig, aber deswegen müssen Sie an die Ursache des Übels heran, dass nämlich unsere sozialen Sicherungssysteme ausschließlich und allein finanziert werden über Beiträge, die vom Lohn berechnet werden. Und die Vorschläge, die Sie in dem Papier machen, die ändern daran gar nichts, weil Sie Privatisierungsvorschläge machen, Teilprivatisierung. Aber dadurch bleibt ja die Finanzierung beim Lohn hängen. Es fehlt zum Beispiel völlig der Vorschlag einer Bürgerversicherung. Ich mache das schon seit Jahren, dass ich vorschlage, dass man endlich von dieser Lohnbindung wegkommt und das Schweizer Modell übernimmt. Und inzwischen setzt sich das ja langsam durch, Gott sei Dank, wie wir heute Morgen auch wieder gehört haben. Es gibt eben keine Alternative.
Bahr: Doch, da gibt es schon Alternativen. Was die Bürgerversicherung angeht, bin ich sehr, sehr skeptisch.
Geißler: Ja, Sie schlagen die Privatisierung vor. Aber die Privatisierung wird ja deswegen nicht funktionieren, weil Sie ja nicht das ganze Volk privat versichern können. Wenn Sie Pech haben, landen Sie bei der Mannheimer oder vielleicht auch nicht oder bei einer anderen, die dann Pleite geht. Wir haben heute eine Krise der Lebensversicherung. Wollen Sie die Leute auf Aktien verweisen? Ein Volk mit 82 Millionen können Sie nicht über Privatversicherung absichern im Alter. Also müssen Sie es anders machen, und das fehlt zum Beispiel im Papier.
Bahr: Ich glaube, wir brauchen, Herr Geißler, ein Mehrsäulensystem. Das ist schon richtig. Wir brauchen private Sicherungsmodelle, wir brauchen eine Grundsicherung, die eine staatliche sein muss, und wir brauchen auch viel, viel mehr betriebliche Vorsorge, nehmen wir mal das Beispiel Alter. Und da haben wir in Deutschland viel zu stark auf nur eine Säule gesetzt bisher, nämlich auf das Umlagesystem, und das Umlagesystem ist nun einmal das anfälligste für die demographischen Probleme. Eben aufgrund der Altersstruktur - immer mehr Alte, immer weniger Junge - ist das Umlagesystem so nicht mehr haltbar. Wir müssen zusätzliche Säulen aufbauen. Deswegen fordern wir ja so stark im Rentenbereich betriebliche und private Vorsorge.
Durak: Und Sie fordern, Herr Bahr, um mich jetzt mal einzuschalten, Sie fordern auch, dass die Renten unter Umständen langsamer ansteigen, also im Grunde niedriger werden, dass die älteren Menschen länger arbeiten. Haben Sie nicht ein ganz klein wenig Verständnis dafür, dass viele Ältere Angst vor Ihnen bekommen und dem Gedanken, dass Sie, die älteren Berufstätigen, die jetzt noch für ihre Elterngeneration die Renten zahlen, von der jüngeren Generation im Stich gelassen werden?
Bahr: Ja, ich habe natürlich auch E-Mails bekommen oder Schreiben bekommen, die mich ansprechen wegen dieser Formulierung. Ich habe aber häufig, wenn ich darauf antworte, die Rückmeldung bekommen, dass sie sich freuen, dass wenigstens mal ein Politiker ehrlich sagt, wo er hin will. Ich glaube, die Rentner sind im Moment sehr verunsichert, weil jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird, und sie nicht erkennen, was das Konzept ist. Wenn ich eine verlässliche Rentenformel habe, die die verschiedenen Parameter - höhere Lebenserwartung zum Beispiel - berücksichtig, dann wissen auch die Rentnerinnen und Rentner wo es hingeht mit der Rente.
Durak: Gemeint, Herr Bahr, sind nicht die Rentner, sondern diejenigen, die jetzt noch arbeiten und in der späteren Zeit ihres Berufslebens sind.
Bahr: Die haben ja noch die Chance, eine betriebliche und private Vorsorge aufzubauen. Warum soll ich die denn anlügen, obwohl ich weiß, dass unser Rentensystem so nicht mehr...
Durak: Herr Geißler, finden Sie das auch?
Geißler: Natürlich müssen die Älteren auch ihren Beitrag leisten, aber das mit den drei Säulen, das Modell ist ja mit Verlaub ein uralter Hut. Die Frage ist, ob man es insgesamt finanzieren kann. Sie müssen ja die Privatversicherung genauso finanzieren wie das Umlageverfahren. Und in der Geschichte ist natürlich jede Privatversicherung viel unsicherer als das Umlageverfahren. In der deutschen Geschichte sind alle Lebensversicherungen kaputt gegangen, das Umlageverfahren hat seine Gültigkeit behalten. Es muss insgesamt finanzierbar sein. Es nützt ja nichts, wenn ich Drei-Säulen-Modell sage. Ökonomisch müssen Sie alles finanzieren. Sie müssen etwas ganz anderes machen. Sie deuten das in dem Papier ja an, und das empfehle ich Ihnen dringend. Dazu gehört natürlich Mut, nicht nur die Bürgerversicherung. Sie müssen klar erkennen, dass ohne eine gesteuerte wesentlich größere Zuwanderung ab 2010 wir das Problem nicht mehr lösen können, weder durch Geburtenhäufigkeit noch dadurch, dass die Älteren länger arbeiten. Das sind die beiden Möglichkeiten, die die Sache ein bisschen verbessern können. Wir können unsere Wirtschaft insgesamt nur retten, wenn wir wie die Amerikaner eine gezielte, wesentlich verstärkte Zuwanderung bekommen. Und das wird sich belaufen auf eine Größenordnung von 200.000 bis 300.000 netto pro Jahr. Und davor haben alle Angst, auch die Jungen haben Angst. Sie wollen sich in diese Auseinandersetzung nicht hinein begeben.
Bahr: Nein, nein, Herr Geißler. Da haben Sie uns Jüngere dann missverstanden.
Geißler: Das ist aber sehr maßvoll, was Sie da schreiben in dem Papier zu diesem zentralen Problem.
Bahr: ...weil ich auch glaube, dass die Zuwanderung nicht die Sozialversicherungsprobleme löst. Zuwanderung ist ein wichtiger Faktor, gar keine Frage. Das müssen wir gezielt machen, die müssen wir auch ausweiten, da ärgert mich im Moment mehr die Blockadehaltung der Union im Bundesrat, aber das nur am Rande. Ich glaube, wir brauchen geregelte Zuwanderung, um zukünftig auch mehr Arbeitskräfte, gerade im Bereich der Jungen, zu bekommen. Ich glaube, da gibt es gar keine Verhinderungstaktik. Ich glaube, dass wir trotzdem an die Sozialversicherungsreform ranmüssen.
Geißler: Ja, Sie müssen die Bürgerversicherung machen.
Bahr: Sie haben ja selbst die Schweiz als Beispiel genannt. Die Schweiz hat ein Drei-Säulen-Modell, die Niederlande haben ein Drei-Säulen-Modell...
Durak: Und was ist mit der Bürgerversicherung, Herr Bahr?
Bahr: Die Bürgerversicherung als Alleinseligmachendes sehe ich sehr, sehr skeptisch. Sie löst nicht die Generationengerechtigkeitsproblematik, sie verschärft sie, weil sie vom Folgenden ausgehen müssen: Sie halten ja an dem bisherigen System fest, nämlich an dem Umlagesystem...
Geißler: Nein!
Bahr:... und erweitern nur den Versichertenkreis und machen damit gute Strukturen, die wir in manchen Bereichen haben, die nämlich Kapitaldeckungselemente als Versorgungswerte haben, die machen Sie damit kaputt. Deswegen sehe ich die Bürgerversicherung als Angriff auf die Generationengerechtigkeit.
Geißler: Nein, nein, verstehen Sie, das ist ja ein bisschen Ideologie. Die Schweiz hat natürlich ein Drei-Säulen-Modell, das ist richtig, aber die Grundrenten, die über die Bürgerversicherung finanziert wird, da zahlen alle von allem für alle, also auch der Millionär und der Beamte und der Freiberufler und der Arbeitnehmer. Dadurch bekommen die Schweizer eine Grundrente, die im Schnitt höher ist als die Eckgrenze in der Arbeiterrentenversicherung. Und darauf kann man natürlich aufbauen. Aber in der Schweiz haben Sie auch das Obligatorium, die Betriebsrente, das ist auch eine Pflichtversicherung, in die müssen alle hinein. Das Problem ist: Die Schweiz geht ja den richtigen Weg. Die haben heute ja schon eine Zuwanderung. Der Ausländeranteil in der Schweiz liegt bei 19 Prozent. Die Amerikaner lassen junge Leute herein, massiv wird da Einwanderung betrieben, mit der Folge, dass inzwischen die Asienamerikaner 20 Prozent der Eingangsjahrgänge der amerikanischen Elite-Universitäten stellen. Und von den 150 Nobelpreisträgern, die die Amerikaner in den Naturwissenschaften in den letzten 15 Jahren gehabt haben, sind über 50 Prozent nicht in Amerika geboren, während wir eine Abschottungspolitik betreiben.
Bahr: Richtig, Herr Geißler. Sehen Sie doch die Einigkeit, die wir haben, was das Thema Zuwanderung angeht. Sehen Sie die Uneinigkeit, die wir haben, was das Thema Bürgerversicherung angeht. Ich sehe nicht die Schweiz als Vorbild. Wenn wir nur das Sozialsystem da rausnehmen, gibt es da gute Ansätze. Aber Sie dürfen natürlich nicht vergessen, dass die Schweiz ein ganz anderes Steuersystem hat. Wenn Sie ein solches System haben wie die Schweiz, dann können Sie natürlich über die Sozialsysteme so umverteilen. Wir verteilen in Deutschland sehr, sehr stark um über unser Steuersystem. Das heißt, wenn wir das Sozialsystem der Schweiz eins zu eins auf Deutschland umsetzen würden, dann müssten wir auch unser Steuersystem so organisieren wie die Schweiz, und das sehe ich nun wirklich als nicht machbar an.
Durak: Die Diskussion zur Bürgerversicherung hier auch bei uns im Deutschlandfunk. Ich bedanke mich sehr, sehr herzlich bei den beiden Herren: Heiner Geißler von der CDU und Daniel Bahr von der FDP im Streitgespräch heute Morgen. Herzlichen Dank, meine Herren!
Link: Interview als RealAudio