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"Keine Politik per Ordre di Mufti"

Neuer Politikstil in Niedersachsen: Die frisch gewählte rot-grüne Koalition möchte die Bürger verstärkt in Entscheidungsprozesse einbinden. Der designierte Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) will sich aber auch noch von anderen schwarz-gelben Altlasten befreien.

Von Susanne Schrammar | 07.02.2013
    Wochenlang hatte sich Michael Hettwer auf den Anhörungstermin im niedersächsischen Landtag vorbereitet; zentimeterdicke Gesetzestexte gewälzt und Argumente ausgearbeitet. Seit vor drei Jahren in der direkten Nachbarschaft des 56-Jährigen ein Maststall für rund 85.000 Hühner gebaut wird, engagiert sich der Kaufmännische Angestellte in einer Bürgerinitiative und ist inzwischen auch Landesvorsitzender des Netzwerkes "Bauernhöfe statt Agrarfabriken", das gegen Massentierhaltung kämpft. An die Anhörung im Agrarausschuss des Landtags erinnert sich Hettwer noch genau:

    "Wir waren bestellt für eine bestimmte Uhrzeit, und dann hieß es: Ja, Sie kommen aber drei Stunden zu spät! Ich sag: Entschuldigung! Meine Einladung ist aber für diese Uhrzeit, ich wusste nicht, dass der Termin vorgezogen worden ist. Dann hat man gnädigerweise noch einen Tagesordnungspunkt verschoben zu unseren Gunsten. Der Ausschussvorsitzende, der hat uns abgekanzelt wie sonst was – ich hab noch nie vor einem Parlamentsausschuss gesprochen – und nach fünf Minuten war der Auftritt zu Ende. Ich hab zu meinem Mitstreiter, der dabei war, gesagt: Meine Güte, warum haben wir uns das eigentlich angetan?"

    Nur ein Beispiel von vielen. Um das Thema Bürgerbeteiligung war es unter der bisherigen CDU-FDP-geführten Landesregierung nicht besonders gut bestellt. Weder für Christian Wulff noch für dessen Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten David McAllister spielte politische Teilhabe von Bürgern eine große Rolle. Bei einem Ranking des Vereins "Mehr Demokratie" belegt Niedersachsen in Bezug auf direktdemokratische Elemente einen der letzten Plätze.

    "Demokratie und Niedersachsen, da fällt mir als erstes Stillstand ein…"

    …klagt Vereinssprecher Tim Weber:

    "Also, da hat sich ganz, ganz wenig getan, sei es in Fragen der direkten Demokratie oder sei es in Fragen Informations- und Transparenzrechte, und im Wahlrecht hat es ja sogar Rückschritte gegeben, weil die schwarz-gelbe Koalition die Stichwahl bei Bürgermeister- und Landtagswahlen abgeschafft hat."

    Nicht nur bei den Stichwahlen soll sich jetzt was tun. Die künftige rot-grüne Landesregierung, die am 19. Februar offiziell in Niedersachsen übernimmt, hat sich mehr Bürgerbeteiligung und Transparenz auf die Fahnen geschrieben. In Niedersachsen solle ein neuer Politikstil Einzug halten, haben die Spitzenkandidaten von SPD und Grünen, Stephan Weil und Anja Piel, kurz nach dem Wahlsieg verkündet.

    Weil: "Wir werden großen Wert darauf legen, dass es keine Politik per Ordre di Mufti geben wird, sondern dass wir uns bemühen, tatsächlich überall mit Verbündeten aus ganz unterschiedlichen Bereichen heraus uns vorher abzustimmen und auf dieser Grundlage dann gemeinsam auch vorzugehen."

    Piel: "Wir haben uns die Aufgabe gesetzt, auch Mehrheiten außerhalb des Landtages einzuwerben, nämlich bei den Verbänden, bei den Bürgerinnen und Bürgern, um eine Politik zu machen, die sich wirklich nicht nur transparent nach draußen abbildet, sondern auch von draußen durch Impulse und Ideen unterstützt werden kann."

    Bürgersprechstunden beim Ministerpräsidenten sollen demnach Einzug halten genau wie ein neues Transparenz-Gesetz. Nach Hamburger Vorbild will Rot-Grün in Niedersachsen ein landesweites, zentrales Informationsregister schaffen, in dem Behörden alle im Zuge ihrer Tätigkeit entstehenden Informationen verpflichtend einstellen. Gutachten, Verträge oder Entscheidungen stehen interessierten Bürgern unbeschränkt und kostenlos zur Verfügung. Ein Schritt, der von Bürgerrechtsorganisationen begrüßt wird. Der neue Regierungschef will zudem auch Konsequenzen aus der Affäre Wulff ziehen: Zu viel Nähe zwischen Politikern und Unternehmern soll es bei Stephan Weil nicht mehr geben:

    "Eine Kommission aus Vertretern von Wirtschaft, aber insbesondere auch aus gesellschaftlichen Institutionen, die sich Gedanken machen soll, welches sind eigentlich die Regeln, nach denen die Kontakte zwischen Politik und Wirtschaft künftig sich verhalten sollen. Wir wollen versuchen, dass für alle Seiten verlässliche Leitplanken zusammengestellt werden können."

    Hürden fallen sollen auch bei der direkten Bürgerbeteiligung. Das Quorum bei einem Bürgerentscheid will Rot-Grün von bisher 25 auf 20 Prozent der Wahlberechtigten senken. Bei Bürgerbegehren sollen fünf statt bislang zehn Prozent reichen, damit die Abstimmung für gültig erklärt wird. Ein Schritt in die richtige Richtung, urteilt Tim Weber vom Verein "Mehr Demokratie". Seiner Meinung nach hätte das Land aber durchaus mutiger sein können:

    "Wenn man sich den bundesweiten Vergleich anguckt, zum Beispiel Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen, in Schleswig-Holstein, ist das erst mal bescheiden. Und ganz entscheidend bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheid wird sein, welche Themen sind zugelassen. In Niedersachsen sind noch ganz viele wichtige Themen ausgeschlossen – über Biogasanlagen, über die Ansiedlung eines Supermarktes - und da muss die Koalition ran, wenn sie tatsächlich mehr Bürgerbeteiligung und mehr direkte Demokratie vor Ort möchte."

    In den nächsten Tagen wollen SPD und Grüne den gemeinsamen Koalitionsvertrag verabschieden. Darin soll als Leitziel "Politik im Dialog" festgeschrieben werden. Regierung und Bürger begegnen sich auf Augenhöhe, die Menschen sollen bei wichtigen Entscheidungen mitgenommen werden, heißt es. Ein Punkt, bei dem vor allem die vielen Bürgerinitiativen im Land aufhorchen. Sie wünschen sich schon lange, dass ihr Know-how und ihre Meinung Einzug finden bei Beratungen für Gesetze oder Infrastrukturvorhaben. Wenn es also künftig in Niedersachsen um den Bau neuer Riesenmastställe geht, dann möchten Michael Hettwer und seine Mitstreiter vom Landesnetzwerk gegen Agrarfabriken gern ein Wörtchen mitreden:

    "Ich wünsche mir, dass wir mehr Möglichkeiten, dass wir mehr gefragt werden. Wir Bürger arbeiten uns sehr intensiv in eine Materie ein, wir sind ja viel näher dran als so ein Bürokrat an der Praxis. Und das bemerken natürlich auch Politiker. Ist auch für die Demokratie nicht gut, wenn nur ein paar Leute bestimmen, wie Gesetze gemacht werden."

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