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Keine zusätzlichen Bedingungen für die EU-Beitritts-Kandidaten

Heuer: Im Oktober findet nochmals ein Referendum in Irland über den Grundlagenvertrag für die Osterweiterung, den Vertrag von Nizza, statt. Wenn die Iren wieder 'Nein’ sagen, dann sei die ganze Osterweiterung in Gefahr, hat Günter Verheugen heute früh im Deutschlandfunk gesagt. Rechnen Sie mit einem 'Nein’ der Iren?

    Pöttering: Nein. Ich hoffe, dass die Iren beim zweiten Anlauf 'Ja’ sagen, denn es steht sehr viel auf dem Spiel, und wir dürfen jetzt die mitteleuropäischen Völker nicht enttäuschen mit ihren Wunsch, der Europäischen Union beizutreten. Ich kann nur an die irischen Wählerinnen und Wähler appellieren, dass sie mit 'Ja’ stimmen, so dass der Beitritt termingerecht erfolgen kann.

    Heuer: Teilen Sie denn die Einschätzung von Günter Verheugen, dass wenn die Iren doch 'Nein’ sagen, dann die ganze Osterweiterung wieder auf dem Spiel steht?

    Pöttering: Es würde natürlich zu einer sehr maßgeblichen Verzögerung kommen. Die Osterweiterung wäre damit nicht vom Tisch, aber es würde Verzögerungen geben, und ich glaube, das ist nicht das, was wir den mitteleuropäischen Ländern zumuten dürfen, sondern sie haben Vertrauen in uns, dass sie in unsere Wertegemeinschaft beitreten können – darum geht es ja -, in die Wertegemeinschaft der Demokratie, des Rechtsstaates und der marktwirtschaftlichen Ordnung, und deswegen hoffe ich sehr, dass die Iren 'Ja’ sagen werden.

    Heuer: Sind denn aus Ihrer Sicht wirklich alle zehn Länder, deren Beitritt heute Nachmittag empfohlen wird, schon so weit, der Europäischen Union beizutreten?

    Pöttering: Wir werden ja heute Nachmittag mit Kommissionspräsident Romano Prodi und mit Kommissar Günter Verheugen darüber diskutieren. Natürlich gibt es in einigen Ländern, zum Beispiel Polen, noch große Schwierigkeiten, aber auch in anderen. Dafür müssen wir Lösungen finden, und wir können nur an die Länder Mitteleuropas appellieren, dass sie ganz entschlossen und engagiert diese Probleme bewältigen. Wir müssen auf unserer Seite natürlich auch noch Fragen klären, und ich empfehle dringend, dass wir keine neuen Bedingungen schaffen, zum Beispiel dass noch die Agrarpolitik auf den Prüfstand kommt, wie die Bundesregierung es ja fordert. Wenn wir das machen, dann würden wir die Erweiterung verzögern, und deswegen darf auch von unserer Seite keine neue Beitrittsvoraussetzung geschaffen werden. Beide Seiten, die Beitrittsländer aber auch wir, die Europäische Union, müssen nun alles daran setzen, dass der Beitritt ein Erfolg wird.

    Heuer: Sie haben Polen, das größte Beitrittsland, erwähnt. Wo muss Polen denn noch nachlegen?

    Pöttering: Polen hat natürlich gewaltige Probleme mit dem Haushalt, mit dem Budget. Polen hat gewisse Erwartungen im Hinblick auf die Geldleistung, die die Europäische Union für das Land gibt, die Direktzahlungen. Polen hat gewisse Schwierigkeiten in den Fragen des Wettbewerbs, zum Beispiel bei der Neustrukturierung des Stahls. Und hier müssen wir unseren polnischen Freunden und Partnern sagen, dass sie zu einer Lösung beitragen, dass wir natürlich Übergangsfristen vereinbaren können, aber hier muss sich auch Polen in den nächsten Wochen bewegen.

    Heuer: Soll es den Sanktionsmöglichkeiten für die Europäische Union geben, wenn die Beitrittskandidaten die Bedingungen, die sie erfüllen müssen, nicht rechtzeitig erfüllen oder nicht einhalten?

    Pöttering: Man sollte jetzt nicht über Sanktionen sprechen, sondern es muss in den Beitrittsverträgen klar geregelt sein, welchen Weg die Beitrittsländer gehen, welche Übergangsfristen bestehen, und da fordere ich die Beitrittsländer, aber auch unsere Seite, die verhandelt, die Kommission, die Mitgliedstaaten auf, hier flexibel zu sein, so dass die Erweiterung ein Erfolg wird. Und eins darf man doch nicht vergessen: Deutschland ist seit dem 3. Oktober 1990 geeint, und Deutschland ist nur geeint worden, zum Beispiel weil die Menschen in Polen vorangegangen sind mit ihrem Willen, Freiheit und Demokratie zu verwirklichen. Polen und die anderen Länder wollen nun dieser Wertegemeinschaft beitreten. Das ist eine historische Entscheidung, eine historische Entwicklung, über die wir uns freuen sollten. Und wir sollten trotz aller Probleme, die es gibt, diese gewaltige, diese große Chance für unseren Kontinent im 21. Jahrhundert in den Mittelpunkt stellen.

    Heuer: Ein Beitrittskandidat ist die Türkei. Sie bleibt aber weiter außen vor. Dabei ist die Türkei ja den Europäern schon entegegengekommen, zum Beispiel mit der Abschaffung der Todesstrafe oder auch dadurch, dass einige Minderheitenrechte gestärkt wurden. Was fehlt denn noch?

    Pöttering: Also die Staats- und Regierungschefs der Länder der Europäischen Union haben es ja im Dezember 1999 für richtig gehalten, in Helsinki der Türkei einen Kandidatenstatus zu geben. Unsere Fraktion ist mit ihrer großen Mehrheit nicht der Meinung, dass dieses eine richtige Entscheidung war, aber wir müssen jetzt natürlich fair zur Türkei sein. Im August hat die große Nationalversammlung in Ankara ein Gesetzespaket zur Demokratisierung verabschiedet, aber das muss ein Stück jetzt durchgesetzt werden, es muss verwirklicht werden. Man muss den Kurden auch gewisse Rechte geben, die jetzt auf dem Papier stehen, aber noch nicht in der Wirklichkeit durchgesetzt sind, und hier wollen wir zunächst einmal Ergebnisse, so dass unsere Fraktion der Meinung ist, es ist zu früh, einen Verhandlungstermin zu benennen. Insofern unterstützen wir die Kommission.

    Heuer: Kommissar Verheugen hat heute früh im Deutschlandfunk gesagt, die Türkei brauche jetzt ein ermutigendes Signal. Was könnte das denn sein?

    Pöttering: Ein ermutigendes Signal könnte darin bestehen, dass wir auch der Türkei gewisse finanzielle, wirtschaftliche Hilfen geben, die sie enger an die Europäische Union binden, denn es kann ja kein Zweifel sein, dass die Türkei ein wichtiger Stabilitätsfaktor im geografischen Umfeld der Europäischen Union ist. Wir brauchen eine strategische Partnerschaft mit der Türkei. Sie ist ein wichtiges Land des nordatlantischen Bündnisses, und wenn wir ein solches Signal geben und das auch von den Türken so verstanden wird, dann würde das unsere gegenseitigen Beziehungen verbessern.

    Heuer: Also soll mehr Geld fließen?

    Pöttering: Das wäre ein Instrument, aber man sollte auch den politischen und den sicherheitspolitischen Dialog stärken.

    Heuer: Wäre es auch eine Möglichkeit, der Türkei formell den Beitritt zum europäischen Binnenmarkt zu gewährleisten?

    Pöttering: Das ist sicher in der langfristigen Perspektive. Das ist ja auch eine Frage, die sich im Verhältnis zu Russland stellt. Es sind ja auch Formen der Anbindung an die Europäische Union denkbar, die unterhalb der Mitwirkung in den europäischen Institutionen angesiedelt sind. Hier sollte man für alle Überlegungen offen sein.

    Heuer: Die Europäische Union nimmt jetzt auf einen Schlag zehn neue Beitrittsländer auf. Das sind 75 Millionen neue EU-Bürger. Haben Sie den Eindruck, dass die Bevölkerungen der jetzigen Mitgliedsstaaten das überhaupt schon realisiert haben?

    Pöttering: Da gibt es sicher Defizite, und wir müssen sehr intensiv den Dialog mit den Menschen in den Ländern der Europäischen Union suchen, bei uns also in Deutschland. Und da, wo wir die Möglichkeiten zu einem solchen Gespräch, führen wir diese Gespräche, die Abgeordnete des Europäischen Parlaments, aber auch alle Politiker, die nationalen Politiker und alle politisch Verantwortlichen müssen hier mithelfen, unsere Bevölkerung zu überzeugen, dass die Erweiterung der Europäischen Union eine große Chance für Frieden, Stabilität und Sicherheit auf unserem europäischen Kontinent im 21. Jahrhundert ist.

    Heuer: Gibt es ein Akzeptanzproblem hier in Deutschland?

    Pöttering: Das ist sicher unterschiedlich im Hinblick auf die Länder. Was Polen und Ungarn angeht, glaube ich, gibt es eine große Mehrheit. Bei anderen Ländern ist es etwas zurückhaltender. Ich würde mir wünschen, dass die Deutschen 'Ja’ sagen zum Beitritt der zehn genannten Länder.

    Heuer: Vielen Dank für das Gespräch.