Bettina Klein: Herr Mahrenholz, Vertrauensfrage mit dem Ziel, sie zu verlieren. Was Gerhard Schröder 2005 zur Auflösung des Bundestages recht war, kann Peter Harry Carstensen 2009 doch eigentlich billig sein, oder nicht?
Ernst Gottfried Mahrenholz: Ja, das sehe ich auch so. Die Frage ist eben, ob diese Art von Vertrauensfrage nicht im Grunde eine der Demokratie nicht entsprechende Form ist, Neuwahlen zu erzwingen.
Klein: Eine der Demokratie nicht entsprechende Form, aber juristisch vollkommen in Ordnung, denn das Bundesverfassungsgericht hat ja damals auch 2005, ist angerufen worden, und hat das bestätigt, dass das im Rahmen des Möglichen sei.
Mahrenholz: Ja, juristisch völlig in Ordnung, und bei der ersten Abstimmung, die von Kohl, weil der auch das Misstrauensvotum auf diese Weise eingefordert hat geradezu, gab es ja auch einen Prozess. Ich war seinerzeit im Bundesverfassungsgericht und habe damals auch dafür gestimmt, dass diese Sache in Ordnung ist. Heute würde ich die Sache etwas differenzierter sehen. Ich meine, dass die Bevölkerung, die auf vier Jahre wählt, und die Abgeordneten, die auf vier Jahre gewählt worden sind, nur dann den Landtag praktisch entbehren müssten, weil neu gewählt wird, wenn es ernsthafte Gründe dafür gibt. Und diese ernsthaften Gründe sehe ich bei Herrn Carstensen so wenig wie bei Herrn Kohl und bei Herrn Schröder damals.
Klein: Das Bundesverfassungsgericht ...
Mahrenholz: Die sozialdemokratischen Minister wurden gelobt, von Herrn Carstensen ausdrücklich gelobt. Es war im Grunde gar keine Notwendigkeit, jetzt neu zu wählen, aber er hat es getan, weil er sagte, die Union ist im Hoch, die SPD ist im Tief, und außerdem möchte ich Schwarz-Gelb als Regierung, und das ist allemal ein Grund, so eine Situation auszunutzen. Nur ist es natürlich kein Grund, der, sagen wir einmal, der politischen Moral standhält.
Klein: Wir sind jetzt bei der politischen Diskussion, Herr Professor Mahrenholz, die SPD spricht von einem Schmierentheater, aber wir halten fest, dann ist es ein Schmierentheater, das das Verfassungsrecht vorsieht.
Mahrenholz: Ja, genauso ist es. Es ist ein Schmierentheater, was das Verfassungsgericht vorsieht, und ich bin allerdings der Meinung, dass eine verfassungsgerichtliche Überprüfung ansetzen muss bei der Frage - und das hätte es auch in Schleswig-Holstein tun müssen, da wird es ja vermutlich nicht zu einem solchen Prozess kommen, ansetzen muss bei der Frage, gab es objektiv ernsthafte Gründe oder nur vorgeschützte Gründe, und die liegen hier, wie bei Herrn Kohl, wie bei Herrn Schröder, liegen ernsthafte Gründe nicht vor. Sowohl hätte Herr Kohl weiterregieren können als auch Herr Schröder und ebenso Herr Carstensen. Es gab die objektive Notwendigkeit, den bestehenden Abgeordneten das Mandat praktisch zu entziehen durch Auflösung und das Volk selbst um die ja von ihm für vier Jahre gewählte Regierung zu bringen, eine solche Notwendigkeit bestand nicht.
Klein: Wir sind heute wieder bei der Diskussion darüber, ob das, was juristisch möglich ist, aus Sicht mancher politisch fragwürdig sei und ob wir mit diesem Zustand, dieser Lücke, die da eventuell klafft, leben können.
Mahrenholz: Ja, und ich meine, es wäre klug, wenn man solche Möglichkeiten nicht mehr vorsähe, sondern dass eine Regierung, wenn sie glaubt, sie müsste zurücktreten, wenn sie wirklich sozusagen die Sache an die Wand gefahren hat, dann muss sie dem Parlament sagen: Das sieht auch die Bundesverfassung ausdrücklich vor, das ist mein Programm und für dieses Programm bitte ich um eure Zustimmung. Und dann kann man Ja oder Nein geantwortet werden, und wenn es dann Nein heißt, dann natürlich ist der Bundestag aufzulösen, weil die Regierung nicht mehr funktioniert und weil offenbar dann auch keine neue Regierung sich abzeichnet durch eine neue Koalition.
Klein: Das verstehe ich jetzt nicht ganz mit Blick auf Kiel, denn Carstensen hat ja versucht, Neuwahlen zu erzeugen, indem er versucht hat, das Parlament aufzulösen - das ist ja sogar vorgesehen in der Landesverfassung -, er ist ja damit nicht weitergekommen. Welche Alternative hätte er denn gehabt?
Mahrenholz: Er hat gar keine, fair war nur diese Lösung durch die Auflösung des Landtages, die ist ihm versagt worden, und dann muss er, wenn er keine objektiven Gründe hat, diese Neuwahl vorzunehmen oder vornehmen zu lassen, dann muss er weiterregieren mit diesen Ministern oder wie auch immer er weiterregieren will. Aber es geht nicht an - das ist eben meine These -, dass man sich manipulativ ein Misstrauen bestellt, was gar nicht vorliegt. Die Union wird ja jetzt ihm das Vertrauen versagen, obwohl er Vertrauen hat. Und das ist eine Art und Weise, von der ich sogar glaube, dass sie verfassungsrechtlich noch mal genau überprüft werden müsste, aber jedenfalls ist sie zutiefst manipulativ.
Klein: Und ich verstehe Sie auch richtig, Sie üben da durchaus auch Selbstkritik, auch an dem Spruch des Verfassungsgerichtes seinerzeit, und glauben heute rückblickend, dass ein anderes Urteil angemessen gewesen wäre.
Mahrenholz: Ja, genauso ist es.
Klein: Wieso haben Sie damals anders gedacht?
Mahrenholz: Was haben Sie gefragt?
Klein: Weshalb haben Sie denn damals anders gedacht darüber, als es um Schröder ging?
Mahrenholz: Ja, bei Schröder war ich schon der Meinung, es geht nicht - ich habe damals auch einen Aufsatz dazu geschrieben. Bei Kohl, als ich selbst noch Richter war, habe ich damals in der Tat gemeint, dass diese Regierung, die angefangen hat und die mit großem Nachdruck erklärt hat, sie könne jetzt nicht weiterregieren, ohne dass sie ein neues Votum erhalten müsse - und dann gab es die Zustimmung des Bundespräsidenten, der auch das Gleiche sagte -, da habe ich gemeint in der Tat, jetzt muss gewählt werden. Aber die damaligen Gründe des Gerichts halten heute genauso wenig stand wie die Gründe des Gerichts bei dem Misstrauensantrag von Schröder.
Klein: Abschließend, Herr Mahrenholz: Muss die Konsequenz dann sein, wenn die Staatspraxis einen leichteren Weg zu Neuwahlen weiß, wie den jetzt der unechten Vertrauensfrage, muss man dann so konsequent sein und sagen, die Konsequenz muss eigentlich Grundgesetzänderung bedeuten?
Mahrenholz: Die Konsequenz muss sowohl in Schleswig-Holstein wie in Karlsruhe gar keine Grundgesetzänderung erfordern, man muss es eben einfach unterlassen. Ich kann einer Regierung in Schleswig-Holstein nicht übel nehmen, wenn sie keinen Ausweg weiß, keinen Koalitionspartner mehr hat - sie hatte ihn ja, der wollte ja auch weitermachen -, dass sie dann die Vertrauensfrage stellt, weil eine andere Regierung sich nicht ergibt. Und genauso ist das in Berlin. Aber man muss vorher erst einmal sehen, ob nicht die Regierung tatsächlich weiter im Amt bleiben kann. Das war in Berlin der Fall, Rot-Grün war ja stabil und konnte dieses letzte Jahr noch durchstehen, und das war in Schleswig-Holstein genauso der Fall. Diese Koalition - wenn Herr Carstensen sagt, die sozialdemokratischen Minister hätten vorzüglich gearbeitet, dann weiß ich nicht, warum man eine Vertrauensfrage stellt, wenn sie ehrlich ist.
Klein: Die Einschätzung von Ernst Gottfried Mahrenholz, dem ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht. Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Mahrenholz!
Ernst Gottfried Mahrenholz: Ja, das sehe ich auch so. Die Frage ist eben, ob diese Art von Vertrauensfrage nicht im Grunde eine der Demokratie nicht entsprechende Form ist, Neuwahlen zu erzwingen.
Klein: Eine der Demokratie nicht entsprechende Form, aber juristisch vollkommen in Ordnung, denn das Bundesverfassungsgericht hat ja damals auch 2005, ist angerufen worden, und hat das bestätigt, dass das im Rahmen des Möglichen sei.
Mahrenholz: Ja, juristisch völlig in Ordnung, und bei der ersten Abstimmung, die von Kohl, weil der auch das Misstrauensvotum auf diese Weise eingefordert hat geradezu, gab es ja auch einen Prozess. Ich war seinerzeit im Bundesverfassungsgericht und habe damals auch dafür gestimmt, dass diese Sache in Ordnung ist. Heute würde ich die Sache etwas differenzierter sehen. Ich meine, dass die Bevölkerung, die auf vier Jahre wählt, und die Abgeordneten, die auf vier Jahre gewählt worden sind, nur dann den Landtag praktisch entbehren müssten, weil neu gewählt wird, wenn es ernsthafte Gründe dafür gibt. Und diese ernsthaften Gründe sehe ich bei Herrn Carstensen so wenig wie bei Herrn Kohl und bei Herrn Schröder damals.
Klein: Das Bundesverfassungsgericht ...
Mahrenholz: Die sozialdemokratischen Minister wurden gelobt, von Herrn Carstensen ausdrücklich gelobt. Es war im Grunde gar keine Notwendigkeit, jetzt neu zu wählen, aber er hat es getan, weil er sagte, die Union ist im Hoch, die SPD ist im Tief, und außerdem möchte ich Schwarz-Gelb als Regierung, und das ist allemal ein Grund, so eine Situation auszunutzen. Nur ist es natürlich kein Grund, der, sagen wir einmal, der politischen Moral standhält.
Klein: Wir sind jetzt bei der politischen Diskussion, Herr Professor Mahrenholz, die SPD spricht von einem Schmierentheater, aber wir halten fest, dann ist es ein Schmierentheater, das das Verfassungsrecht vorsieht.
Mahrenholz: Ja, genauso ist es. Es ist ein Schmierentheater, was das Verfassungsgericht vorsieht, und ich bin allerdings der Meinung, dass eine verfassungsgerichtliche Überprüfung ansetzen muss bei der Frage - und das hätte es auch in Schleswig-Holstein tun müssen, da wird es ja vermutlich nicht zu einem solchen Prozess kommen, ansetzen muss bei der Frage, gab es objektiv ernsthafte Gründe oder nur vorgeschützte Gründe, und die liegen hier, wie bei Herrn Kohl, wie bei Herrn Schröder, liegen ernsthafte Gründe nicht vor. Sowohl hätte Herr Kohl weiterregieren können als auch Herr Schröder und ebenso Herr Carstensen. Es gab die objektive Notwendigkeit, den bestehenden Abgeordneten das Mandat praktisch zu entziehen durch Auflösung und das Volk selbst um die ja von ihm für vier Jahre gewählte Regierung zu bringen, eine solche Notwendigkeit bestand nicht.
Klein: Wir sind heute wieder bei der Diskussion darüber, ob das, was juristisch möglich ist, aus Sicht mancher politisch fragwürdig sei und ob wir mit diesem Zustand, dieser Lücke, die da eventuell klafft, leben können.
Mahrenholz: Ja, und ich meine, es wäre klug, wenn man solche Möglichkeiten nicht mehr vorsähe, sondern dass eine Regierung, wenn sie glaubt, sie müsste zurücktreten, wenn sie wirklich sozusagen die Sache an die Wand gefahren hat, dann muss sie dem Parlament sagen: Das sieht auch die Bundesverfassung ausdrücklich vor, das ist mein Programm und für dieses Programm bitte ich um eure Zustimmung. Und dann kann man Ja oder Nein geantwortet werden, und wenn es dann Nein heißt, dann natürlich ist der Bundestag aufzulösen, weil die Regierung nicht mehr funktioniert und weil offenbar dann auch keine neue Regierung sich abzeichnet durch eine neue Koalition.
Klein: Das verstehe ich jetzt nicht ganz mit Blick auf Kiel, denn Carstensen hat ja versucht, Neuwahlen zu erzeugen, indem er versucht hat, das Parlament aufzulösen - das ist ja sogar vorgesehen in der Landesverfassung -, er ist ja damit nicht weitergekommen. Welche Alternative hätte er denn gehabt?
Mahrenholz: Er hat gar keine, fair war nur diese Lösung durch die Auflösung des Landtages, die ist ihm versagt worden, und dann muss er, wenn er keine objektiven Gründe hat, diese Neuwahl vorzunehmen oder vornehmen zu lassen, dann muss er weiterregieren mit diesen Ministern oder wie auch immer er weiterregieren will. Aber es geht nicht an - das ist eben meine These -, dass man sich manipulativ ein Misstrauen bestellt, was gar nicht vorliegt. Die Union wird ja jetzt ihm das Vertrauen versagen, obwohl er Vertrauen hat. Und das ist eine Art und Weise, von der ich sogar glaube, dass sie verfassungsrechtlich noch mal genau überprüft werden müsste, aber jedenfalls ist sie zutiefst manipulativ.
Klein: Und ich verstehe Sie auch richtig, Sie üben da durchaus auch Selbstkritik, auch an dem Spruch des Verfassungsgerichtes seinerzeit, und glauben heute rückblickend, dass ein anderes Urteil angemessen gewesen wäre.
Mahrenholz: Ja, genauso ist es.
Klein: Wieso haben Sie damals anders gedacht?
Mahrenholz: Was haben Sie gefragt?
Klein: Weshalb haben Sie denn damals anders gedacht darüber, als es um Schröder ging?
Mahrenholz: Ja, bei Schröder war ich schon der Meinung, es geht nicht - ich habe damals auch einen Aufsatz dazu geschrieben. Bei Kohl, als ich selbst noch Richter war, habe ich damals in der Tat gemeint, dass diese Regierung, die angefangen hat und die mit großem Nachdruck erklärt hat, sie könne jetzt nicht weiterregieren, ohne dass sie ein neues Votum erhalten müsse - und dann gab es die Zustimmung des Bundespräsidenten, der auch das Gleiche sagte -, da habe ich gemeint in der Tat, jetzt muss gewählt werden. Aber die damaligen Gründe des Gerichts halten heute genauso wenig stand wie die Gründe des Gerichts bei dem Misstrauensantrag von Schröder.
Klein: Abschließend, Herr Mahrenholz: Muss die Konsequenz dann sein, wenn die Staatspraxis einen leichteren Weg zu Neuwahlen weiß, wie den jetzt der unechten Vertrauensfrage, muss man dann so konsequent sein und sagen, die Konsequenz muss eigentlich Grundgesetzänderung bedeuten?
Mahrenholz: Die Konsequenz muss sowohl in Schleswig-Holstein wie in Karlsruhe gar keine Grundgesetzänderung erfordern, man muss es eben einfach unterlassen. Ich kann einer Regierung in Schleswig-Holstein nicht übel nehmen, wenn sie keinen Ausweg weiß, keinen Koalitionspartner mehr hat - sie hatte ihn ja, der wollte ja auch weitermachen -, dass sie dann die Vertrauensfrage stellt, weil eine andere Regierung sich nicht ergibt. Und genauso ist das in Berlin. Aber man muss vorher erst einmal sehen, ob nicht die Regierung tatsächlich weiter im Amt bleiben kann. Das war in Berlin der Fall, Rot-Grün war ja stabil und konnte dieses letzte Jahr noch durchstehen, und das war in Schleswig-Holstein genauso der Fall. Diese Koalition - wenn Herr Carstensen sagt, die sozialdemokratischen Minister hätten vorzüglich gearbeitet, dann weiß ich nicht, warum man eine Vertrauensfrage stellt, wenn sie ehrlich ist.
Klein: Die Einschätzung von Ernst Gottfried Mahrenholz, dem ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht. Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Mahrenholz!