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"Kiezdeutsch ist sehr komplex"

Das sogenannte Kiezdeutsch, die Sprache vieler Jugendlicher vor allem in den Großstädten, sei eine Art neuer Dialekt, betont die Potsdamer Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese. Seine Sprecher seien offen gegenüber Sprachvariation. Wer nur Kiezdeutsch spreche, komme allerdings in der Gesellschaft nicht weiter.

Heike Wiese im Gespräch mit Jörg Biesler | 13.02.2012
    Jörg Biesler: Die Sprache von Jugendlichen besonders in Großstädten kommt Nichtjugendlichen seltsam vor: "Ich U-Bahn, ey Alter, voll krass", darüber machen sich Comedians lustig und alle anderen befürchten Sprachverfall. Nicht so Heike Wiese. Und die muss es wissen, denn sie ist Sprachwissenschaftlerin an der Universität in Potsdam und hat das Kiezdeutsch erforscht. Guten Tag, Frau Wiese!

    Heike Wiese: Hallo!

    Biesler: Sie sagen, - "echt cool, Leute, kein Problem das!" -, da entsteht ein neuer Dialekt, also, so genervt auch mancher sein mag, wir können hier Sprachtransformation erleben?

    Wiese: Ganz genau. Also, es ist ja eigentlich schön, dass wir einen neuen Dialekt ins Deutsche dazu kriegen. Man beklagt ja immer so das große Dialektsterben durch die Standardsprache und hier haben wir mal einen ganz dynamischen neuen Dialekt jetzt im Deutschen zusätzlich.

    Biesler: Also, es kommt was dazu zur Sprache, was es vorher nicht gegeben hat?

    Wiese: Ganz genau.

    Biesler: Als Wissenschaftlerin beobachten Sie natürlich, also, Sie analysieren die Vorgänge, die Sie da sehen, da spielt Geschmack jetzt erst mal keine Rolle. Aber die meisten Leute sagen ja, das ist kein gutes Deutsch. Also, wenn man jetzt nur Kiezdeutsch spricht, dann wird man vieles nicht sagen können, oder?

    Wiese: Man kann alles auf Kiezdeutsch sagen, was man auch in anderen Varianten sagen kann. Und Leute sagen eigentlich zu allen Dialekten, das ist kein gutes Deutsch, egal in welchem Dialekt Sie sprechen. Wenn Sie nur Kiezdeutsch sprechen, dann kommen Sie in dieser Gesellschaft nicht weiter. Das mag man mögen oder nicht, aber das ist so. Das heißt, das darf nicht geschehen, dass wir Jugendliche haben, die nur Kiezdeutsch sprechen können. Sie müssen immer auch das Standarddeutsche der Schule lernen. Aber das ist ganz unabhängig vom Kiezdeutsch. Jugendliche können besser oder schlechter im Schriftdeutsch der Schule sein, ob sie Kiezdeutsch außerdem dazu noch sprechen, das hat keinen Einfluss darauf.

    Biesler: Sie würden also verneinen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Komplexität des Denkens und Komplexität der Sprache? Das ist eine gleichgültige Sprache, die nur aus geschmacklichen Gründen abgelehnt werden kann?

    Wiese: Diesen Zusammenhang zwischen Denken und Sprache, da könnte man, glaube ich, sehr lange drüber sprechen. Wichtig ist, sich deutlich zu machen: Kiezdeutsch ist nicht weniger komplex als Standarddeutsch. Das hat keinen geringeren Wortschatz oder besteht nur aus Verkürzungen, Kiezdeutsch ist sehr komplex, Kiezdeutsch ist schwierig.

    Biesler: Also, es ist einfach ein eigener Code, den man lernen muss?

    Wiese: Ganz genau, das ist eine eigene Variante des Deutschen, die man genau so lernt wie andere Dialekte auch.

    Biesler: Und es hat mit Bildungsunterschieden absolut nichts zu tun?

    Wiese: Nein, Kiezdeutsch hat was damit zu tun, dass ich eine Sprachgemeinschaft habe, in der sehr viele mehrsprachige Sprecher sind, die also kompetenter sind, die mehr als eine Sprache sprechen und deshalb sehr viel offener gegenüber Sprachvariation zum Beispiel sind. Dadurch ist es ein besonders dynamischer Dialekt.

    Biesler: Kommt das bei Ihnen im Umfeld irgendwo vor, also, machen Sie persönliche Erfahrung mit Kiezdeutsch oder hören Sie es nur in der U-Bahn?

    Wiese: Ich höre es in der U-Bahn, ich höre es im Bus und ich höre es auch beim Abendessen. Meine Kinder sind noch etwas zu jung für Jugendsprache, aber bringen doch auch schon einiges aus Schule und Kindergarten nach Hause.

    Biesler: Zum Beispiel?

    Wiese: Zum Beispiel neue Wörter, so was wie "abu" als Ausdruck von Empörung, wenn man im Standarddeutschen vielleicht so was wie "ey" sagen würde. Bestimmte grammatische Wendungen, so was wie "ich weiß nicht, wo die gibs". Das habe ich zum ersten Mal bei meinen Kindern gehört, später dann bei Jugendlichen untersucht, wir sind in Schulen und Kindergärten gegangen ...

    Biesler: Gemeint wäre dann in dem Fall, "ich weiß nicht, wo es das gibt" oder "wo man das kaufen kann".

    Wiese: Ganz genau, "wo es dies gibt", genau, das heißt, dieses "es gibt" ist nicht mehr auseinander, sondern steht zusammen als ein Wort, "gibs". Das ist eine neue Entwicklung, die eigentlich besser in das grammatische System des Deutschen passt. Wir haben da von der Grammatik her eine größere Systematizität, die aber im Standarddeutschen so nicht vorkommt. Man muss sich einfach mal angucken: Was passiert hier? Das ist kein Standard. Das heißt nicht, dass es falsch ist, das heißt, dass es anders ist. Und was passiert hier anderes? Hat sich da jemand einfach nur versprochen, beim Reden nicht richtig aufgepasst, oder steckt da wirklich ein System dahinter, ergibt das Ganze aus grammatischer Sicht Sinn?

    Biesler: Und dann wird es ein Dialekt? Also, ansonsten ist es ein Einzelphänomen, aber wenn man solche Strukturen erkennen kann, würden Sie sagen, sprachwissenschaftlich, das ist ein Dialekt?

    Wiese: Genau, und wenn verschiedene Ebenen auch zusammenarbeiten. Also, wenn ich etwas auf Bedeutungsebene habe, was im Bereich der Wortstellung Niederschlag findet, wenn ich etwas in der Zusammenziehung von Wörtern habe wie bei "gibs", was in dem Aufbau des Satzes sich widerspiegelt. Das heißt, verschiedene Teilsysteme der Grammatik arbeiten zusammen und das Ganze finde ich wieder. Das sagt nicht nur einer einmal aus Versehen, sondern das verbreitet sich.

    Biesler: Wie bilden sich denn solche Strukturen heraus, also, wie entsteht so ein Dialekt?

    Wiese: Sprache entwickelt sich ja nie weiter nach expliziter Absprache, wo wir sagen, wir haben eine Grammatikkommission und die sagt jetzt, ab heute Morgen redet ihr alle so. So ist es ja nicht, sondern Sprache entwickelt sich intuitiv. Einer spricht vielleicht so, das verbreitet sich, das passt, Kinder lernen das so. Warum sagen wir alle "er brauch" ohne das T, aber keiner sagt "er rauch" ohne das T. Das ist, weil brauchen ein Modalverb ist und wir haben das, wir wissen das intuitiv, benutzen das, unser Grammatikwissen im Kopf einfach, ohne jetzt bewusst darüber nachzudenken.

    Biesler: Und mit Rückblick auf die Geschichte würden Sie sagen, ein ganz normaler Vorgang, kein Grund zur Beunruhigung?

    Wiese: Ganz genau, das passiert ja überall. Also nicht, dass neue Dialekte entstehen, das ist wirklich was besonders Schönes, aber dass sich Sprache verändert, dass wir gesprochene Sprache haben, dass wir verschiedene Sprachvarianten haben, dass nicht alle gleich sprechen und dass nicht jeder in jeder Situation gleich spricht. Man spricht ja nicht immer Kiezdeutsch, nur weil man Kiezdeutsch beherrscht.

    Biesler: Wird man davon ausgehen müssen, dass dann in 15, 20 Jahren zumindest Teile dieses Kiezdeutschs Eingang gefunden haben in die ganz normale, normierte Mittelschichtsprache?

    Wiese: Diese sogenannte standardnahe Umgangssprache - könnte sein. Nicht unbedingt, weil das eins zu eins übernommen wird, es ist immer noch eine Jugendsprache, es müsste sich dazu wirklich schon in andere Altersgruppen verbreiten. Aber vieles passt einfach sehr gut in das deutsche System und ich könnte mir gut vorstellen, dass andere Dialekte da sozusagen nachziehen.

    Biesler: "Kiezdeutsch" heißt das Buch von Heike Wiese, erschienen ist es im Beck-Verlag. Vielen Dank, Frau Wiese! Wie würde man auf Kiezdeutsch dann Tschüss sagen oder auf Wiederhören?

    Wiese: Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel "Hadi Tschüsch". Das kommt aus dem Türkischen, bedeutet im Türkischen eigentlich gar nicht Tschüss, ist, glaube ich, nur übernommen worden, weil es wie immer so gut ins Deutsche passt.

    Biesler: Dann Hadi Tschüsch, Frau Wiese!

    Wiese: Tschüss!

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