Donnerstag, 28. März 2024

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"Kinder wollen gestalten"

Gutes Spielzeug ermöglicht es Kindern, die Welt auszugestalten und zu formen, sagt Professor Wolfgang Bergmann, Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover. Kinder seien Handmenschen und dann erst Kopfmenschen. Werde beides von einem Spielzeug herausgefordert, dann könnten die Kinder stundenlang spielen.

Wolfgang Bergmann im Gespräch mit Christoph Heinemann | 04.02.2010
    Christoph Heinemann: Die 61. internationale Spielwarenmesse öffnet heute in Nürnberg die Tore für Besucher. Einige Zahlen dazu. Mehr als 2600 Aussteller sind angereist, sie präsentieren etwa eine Million Produkte und 70.000 Neuheiten. 75.000 Fachbesucher werden erwartet. Im vergangenen Jahr hat sich die Branche trotz der Wirtschaftskrise stabil gezeigt. Der deutsche Spielzeugmarkt verzeichnete sogar einen Zuwachs von 3,5 Prozent. So viel zur Quantität.

    Es gibt nach wie vor tolle Spiele und hervorragendes Spielzeug, aber nicht nur. "Seelenlose Plastikmonster, bewaffnete Plüschtiere und rosarote Laptops – wie die Spielzeugindustrie den Kindern das Kindliche austreibt", so überschrieb die Wochenzeitung "Die Zeit" kurz vor Weihnachten einen Artikel, in dem vor einem Trend auf dem Spielzeugmarkt gewarnt wurde, der die Kinderzimmer folgendermaßen beschallt.

    Über Spielzeug und Spielen wollen wir heute früh sprechen. Am Telefon ist Professor Wolfgang Bergmann, der Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover. Guten Morgen!

    Wolfgang Bergmann: Guten Morgen!

    Heinemann: Herr Bergmann, wodurch unterscheidet sich gutes Spielzeug von schlechtem?

    Bergmann: Gutes Spielzeug ist eine Herausforderung an die Kinder, eine Herausforderung an ihre Lust, die Welt umzuformen, das gibt ihnen viele Möglichkeiten, so und so zu gestalten. Also ein richtig gutes Spielzeug ist einerseits ein lockendes und andererseits aber ein völlig unperfektes und unfertiges.

    Heinemann: Kann man umgekehrt sagen, schlechtes Spielzeug kann sich als Spielverderber erweisen?

    Bergmann: Ja, bis zu einem gewissen Grat ist das so. Nun haben Kinder massive Selbstheilungskräfte. Wenn sie denen so völlig perfektes, was weiß ich, so einen Roboter, der Überschlag machen kann und sonst was, hinstellen, dann freuen die sich fünf Minuten, dann drehen sie den einmal nach links, einmal nach rechts, und dann verlieren sie den Spaß, sie können ja nichts damit machen. Sie empfinden ihre Fingerspitze nicht, die Intelligenz ihrer Augen und ihrer Hände nicht. Das ist für Kinder langweilig. Kinder wollen gestalten, Kinder sind Handmenschen und dann erst Kopfmenschen. Wird beides von einem Spielzeug herausgefordert, dann ist das ein richtig gutes Spielzeug, dann können die stundenlang spielen.

    Heinemann: Können Sie ein Beispiel nennen? Womit sollten Kinder spielen?

    Bergmann: Mein Lieblingsbeispiel oder meine zwei Lieblingsbeispiele sind einmal diese kleinen Figuren, mit denen man Bauernhöfe oder auch ganze Straßenzüge aufbauen kann. Da verliert sich ein Kind in eine kleine Fantasielandschaft. Das heißt, die kreativen Impulse werden bewegt. Aber gleichzeitig lernt es auch eine Ordnung herzustellen. Der ganze Laden muss ja irgendwie funktionieren. Auch das wird sozusagen in die Geschicklichkeit der Hände und in die Überlegenheit der Vernunft aufgenommen. Diese Kinder sind wie versunken in dieser kleinen Welt. Das ist gutes Spielzeug.

    Für die etwas ungeduldigeren sind aber auch die Spielzeuge, die man so nach einem Modell relativ schnell zusammenbasteln kann, aber nicht zu schnell. Eine halbe Stunde, dreiviertel Stunde soll man sich schon abschuften, bevor man dann irgendein Flugzeug zusammengebaut hat. Es kommt ein bisschen auf das Kind an. Manche sind sehr fantasievoll, sehr still, die brauchen eher dieses erste Beispiel; andere werden schnell ungeduldig, da muss es sozusagen klicken und klappen. Aber in jedem Fall muss es unfertig sein.

    Heinemann: Wie wichtig ist Spielen überhaupt für Kinder?

    Bergmann: Spielen ist für Kinder so wichtig, wie später Lesen und Schreiben lernen und für uns Erwachsene unsere Arbeit. Das heißt, Spielen ist zum einen: die Kinder machen sich die Welt vertraut. Das ist eine Riesenaufgabe. Wir erwachsenen haben oft gar nicht genug Respekt davor. Diese Welt ist ja völlig unerkundet, diese kleinen wissen nichts, weder körperlich, noch seelisch von dieser Welt, und jetzt bauen sie sich ihre Spielwelt auf und erschließen sich die Funktion, die Eigenart, entwickeln aber auch die Feinfühligkeit ihrer Hände, der Anspannung der Muskeln und der ganzen Plastizität ihres Verstandes.

    Heinemann: Das heißt, es gibt auch einen körperlichen Einfallsreichtum?

    Bergmann: Ja, ja, aller Einfallsreichtum, alles Funktionswissen, wie baut man einen Turm im Bauklotz und jetzt kann man den noch so ein bisschen so biegen und jetzt fällt er um, Sauerei, muss ich wieder von vorne anfangen. Sogar die Sprache – das kann ich hier nicht ausführen -, unsere Sprachfähigkeit geht ursprünglich elementar aus den Körpererfahrungen hervor. Kinder sind zunächst einmal über weite Strecken fast ausschließlich Körperwesen, in die dann ganz allmählich die Welterfahrung durch die Berührung mit den Dingen und dem Hantieren mit den Dingen hervorgeht, dann kommt die Sprache, dann die Vernunft.

    Heinemann: Herr Bergmann, Sie haben es eben gesagt: Wenn man kleineren Kindern, also Eins- bis Sechsjährigen, während des Spielens zuschaut, dann hat man manchmal den Eindruck, als befinden sie sich in einer anderen Welt. Was geschieht genau in einem Kinderhirn, wenn ein Kind spielt?

    Bergmann: Es passieren zwei oder drei Dinge gleichzeitig. Das eine ist: Kinder verfügen über das, was wir verlernt haben, nicht nur über Fantasie, sondern fantasmisches Erleben, nenne ich das mal. Das heißt, sie erleben dann die Dinge so, wie wir die Realität erleben, aber ganz jenseits dieser normativen und geordneten Welt. Das ist eine unendlich plastische Welt, die die Kinder dann verändern. Das gibt ihnen auch die Gewissheit, ich beherrsche das Ganze hier. Das ist wichtig für das Selbstgefühl. Sie geben ihm aber auch eine Ordnung. So schließen sie an an die Ordnung der Dinge, Zeit und Raum und was dergleichen mehr ist. Die Grundlagen der Vernunft werden gleichzeitig mit dem Ausagieren des Fantastischen und Magischen von den Kindern erworben. Deswegen ist so wichtig, dass man denen Märchen vorliest, dass man mit ihnen spannende Geschichten erlebt, und Erwachsene, die sich dann mal hinknien, nicht alles besser wissen, sondern so ganz allmählich sich spielerisch mit in diese Fantasiewelt einfinden, die erleben noch mal eine Dimension des Wirklichen, die ihnen vorher fast schon verschlossen worden war.

    Heinemann: Wir sprechen mit dem Kinderpsychologen Professor Wolfgang Bergmann. – Eines Ihrer Bücher trägt den Titel "Die Welt der neuen Kinder – Erziehen im Informationszeitalter". Die Beschleunigung, die zu diesem Informationszeitalter gehört, macht auch vor den Kinderzimmern nicht halt. Heute belächeln Siebenjährige, was Zwölfjährige vor 20 Jahren begeisterte. Haben sich die Kinder weiterentwickelt, oder wie bewältigt ein Kinderhirn die neuen Angebote?

    Bergmann: Na ja, die Kinder haben sich verändert auf die neue Kultur hin. Kinderentwicklung ist über wesentliche Schritte Anpassung. Da darf man auch nicht zu sehr herummoralisieren und nicht zu sehnsüchtig auf die guten alten Zeiten starren. Auf der anderen Seite, das ist auch eine Gefahr vieler Eltern, dass sie gar nicht genug tun können, permanent überbieten, noch ein moderneres, und da gibt es ja noch ein elektronisches Spielzeug, das braucht mein Kind aber ganz bestimmt, weil da die Synopsenbildung im Gehirn stimuliert wird, davor kann man Eltern nur warnen.

    Eltern müssen so ein Gleichgewicht finden. Die Kinder brauchen auch den Umgang mit den schnellen elektronischen Medien, aber gleichzeitig, damit sie davon nicht überwältigt und überrumpelt und zum Schluss dann ganz zappelig oder gar hyperaktiv werden, brauchen sie auch dieses ganz ruhige Spielen, das Hören auf das Vorlesen von Mama und Papa, das geduldige Mensch ärger Dich nicht Spiel. Mensch ärger Dich nicht Spiel ist ein geniales Spiel, das kann man jeden Abend spielen. Ich ärgere mich jedes Mal, wenn ich rausgeschmissen werde. Also ein ganz komplexes Lernen liegt auch im Ruhigen, im Beständigen, in der Bindung und Beziehung. Die elektronischen Spiele haben so eine Eigenart, sie haben immer so einen Hang ins Einsame. Die Kinder dürfen das begrenzte Zeit und dann macht man ihnen andere Angebote, ein Vogelhäuschen bauen oder was weiß ich, darauf reagieren sie eigentlich alle positiv.

    Heinemann: Sind die Spielräume heute zeitlich wie örtlich zu eng?

    Bergmann: Ja, natürlich. Das ist ganz eindeutig. Das ist ein großes Problem. Das können Eltern auch gar nicht so ohne Weiteres lösen. Man kann ja keinen Wald herbeizaubern. Mich sehnt nichts nach der Erziehung der 50er- und 60er-Jahre, aber da hatten wir einen großen Vorteil: Wir konnten im Wald verschwinden, wir hatten ein eigenes Kindergelände, eine authentische Kinderkultur, da kam nie ein Erwachsener vorbei, da gab es diese pädagogische Bevormundung nicht dauernd. Das können wir unseren Kindern nur begrenzt bieten. Wo wir es können, sofort zugreifen, denn das ist das Beste für die Kinderentwicklung. Die Räume sind eng geworden, aber Kinder sind einfallsreiche Wesen. Ich habe es bei meiner kleinen Tochter beobachtet, wie sie auf diesem, wie ich fand, ziemlich öden Spielplatz mit ihrer Freundin dann doch Ecken und einen Durchbruch in der Mauer fanden und dahinter lebten Gespenster, und plötzlich waren sie dann doch in ihrer eigenen Kinderwelt.

    Wichtig, dass die Erwachsenen dann nicht denken, jetzt wird die Kleidung schmutzig, oder wer weiß, was dahinter ist, ist alles viel zu gefährlich. Eltern müssen lernen, sich rauszuhalten. Das ist eine ganz zentrale Erziehungsweisheit gerade in der modernen Zeit.

    Heinemann: Womit spielen Ihre Kinder?

    Bergmann: Meine Kinder sind im Wesentlichen groß. Die 13-jährige spielt eigentlich immer noch gerne mit Puppen, passt nur auf, dass es keiner merkt. Die haben früher ganz viel Puppen gespielt. Puppen spielen mit Mama oder Papa ist auch was ganz wichtiges, weil das ist so eine Art Rollenspiel, mit dem man dann auch ganz versteckt kleine Konflikte sozusagen spielerisch nicht nur, sondern witzig bearbeiten kann. Ich habe ihr mit den Barbie-Puppen deutlich gemacht, dass ein perfekter Körper und eine perfekte gestylte Puppe eigentlich witzig ist und ein bisschen dämlich. Die Kleine bog sich vor Lachen. Ich glaube, da habe ich ihr so ein Stück Widerständigkeit gegenüber der Heidi-Klum-Show und zu etwas anderem beigebracht. Es gibt viele Möglichkeiten, letztlich müssen sich die Eltern auf die Intuition ihrer Elternliebe verlassen. Tun sie das ohne Hektik und ohne ständig zu gucken, lernt mein Kind jetzt auch genug, oder kann der andere schon mehr - diese Vergleiche, das ist tödlich für Kinder, seelisch tödlich -, wenn die Eltern da sich ihrer Liebe und der Intuition ihrer Liebe überlassen, sich Zeit nehmen, dann geht alles gut.

    Heinemann: Professor Wolfgang Bergmann, Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Bergmann: Gerne.