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Kinderarmut in Deutschland
Studie warnt vor den Folgen für die Gesellschaft

Vor kurzem wurden aktuelle Zahlen zur Situation der Kinder in Deutschland veröffentlicht. Sie zeigen, dass trotz eines positiven Konjunkturverlaufs in der Wirtschaft, die Zahl der Kinder gestiegen ist, die unterhalb der Armutsgrenze aufwachsen. Die Zukunftsprognosen für solche Kinder und Jugendliche sind denkbar schlecht.

Von Alfried Schmitz | 06.10.2016
    Aus einzelnen Buchstaben des Spiels "Buchstabensuppe" ist das Wort Kinderarmut gebildet
    Die Kinderarmut in Deutschland nimmt zu (dpa / picture alliance / Jens Kalaene)
    Ihre schulischen Leistungen bleiben oft unter dem Durchschnitt, sie ernähren sich schlecht, leben oft, wie ihre Eltern von Hartz IV und sind später von Altersarmut betroffen. Ein Teufelskreis, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt. Eine Situation mit großem Gefahrenpotential für die gesamt-gesellschaftliche Entwicklung. Dennoch ist das Themenfeld wissenschaftlich bislang nur lückenhaft untersucht worden.
    "Kinderarmut bedeutet, dass Menschen ausgeschlossen sind von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben"
    "Das sind die Kinder, die morgens, wenn sie sich anziehen, die Jeans anziehen, die ihre einzige ist, die nachts auf der Heizung gelegen hat, weil die am Abend vorher gewaschen wurde."
    "Armut ist nicht vom Himmel gefallen. Armut in einem reichen Land, wie der Bundesrepublik Deutschland, ist das Ergebnis von politischem Handeln oder Unterlassen von politischem Handeln."
    Die Zahlen sind alarmierend. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung, die in Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit und mit dem Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik entstanden ist, sind über zwei Millionen Kinder und Jugendliche betroffen.
    Hier einige Zahlen und Fakten aus der Bertelsmann-Studie:
    "Im Jahr 2015 waren 14,7 Prozent der unter 18-jährigen auf staatliche Grundsicherung angewiesen. Ein bundesweiter Anstieg im Vergleich zu 2011 von 0,4 Prozent."
    "Von allen betroffenen Minderjährigen leben die Hälfte bei alleinerziehenden Müttern oder Vätern."
    "36 Prozent stammen aus Familien mit drei oder mehr Kindern. "
    "Die meisten Kinder, die in Armut aufwachsen, leben in den Großstädten. In Bremerhaven liegt der Kinderarmutsanteil bei 40,5, in Gelsenkirchen bei 38,5, in Halle bei 33,4 oder in Berlin bei 32,6 Prozent. In ländlichen Gebieten liegt die Quote bei weit unter 10 Prozent."
    "Kinderarmut beeinträchtigt die Chancen für das ganze Leben", sagt Jörg Dräger vom Vorstand der Bertelsmann-Stiftung. "Um gezielt gegen sie vorzugehen, brauchen wir mehr Fakten."
    Um die Ursachen zu ergründen, die gesellschaftspolitischen Auswirkungen zu erforschen und um Lösungsvorschläge zu erarbeiteten, sind Meinungen und Analysen von Experten und Wissenschaftlern aus vielen Fachbereichen gefragt.
    Zwei Jugendliche in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs an einem kalten Tag auf der Straße
    Zwei Jugendliche in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs an einem kalten Tag auf der Straße (picture-alliance/ dpa)
    So sieht Dr. Nikolaus Schneider, ehemaliger Ratsvorsitzender der EKD, in der Kinderarmut eine Gefahr für die Psyche der Betroffenen. Durch die finanziellen Einschränkungen, denen sie ständig ausgesetzt sind, entstehen bei ihnen gesellschaftliche Defizite. Sie werden zu Abgehängten der Wohlstandsgesellschaft. Mit schlimmen Folgen.
    "Dieses Sich-Ausgegrenzt-Fühlen bedeutet, dass Kinder in ihrer Reifeentwicklung zurückbleiben oder auf merkwürdige Wege geraten. Dass sie sich in ihrer Persönlichkeit nicht so ausbilden können, dass sie beitragen können zu einer gelingenden, zu einer friedlichen, zu einer gerechten Gesellschaft, sondern sie sind in der großen Gefahr, in Gruppen oder in Gangs abzudriften oder rumzuhängen und Frustration umzusetzen in Zerstörung."
    Dem pflichtet auch der Theologe, Soziologe und Erziehungswissenschaftler Franz Segbers bei. An der Universität Marburg hat er eine Honorarprofessur im Fachgebiet Sozialethik.
    "Sie leben sozusagen in einem Hinterhof einer Wohlstandsgesellschaft. Dabei ist klar, dass Armut gerade bei Kindern mehr ist, als nur die Tatsache, dass zu wenig Geld vorhanden ist. Armut wirkt sich bei Kindern so aus, dass sie unterversorgt sind, in schlechten Wohnungen wohnen, dass die Nahrungsmittel knapp sind und dass auch Ernährungsarmut bei Kindern zu einem neuen Problem wird."
    Auch in der Gesundheitsvorsorge benachteiligt
    Heinz Hilgers kennt das Problem genau. Der 68-jährige ist Kommunalpolitiker, war lange Zeit Jugendamtsleiter einer Kleinstadt bei Köln und ist seit 1993 Präsident des Kinderschutzbundes. In der Kinderarmut sieht er eine große gesellschaftliche Gefahr.
    "Weil es die Zukunftschancen eines großen Teils der künftigen Generation vereitelt. Wir hatten am ersten Januar 2000 noch 15,7 Millionen Kinder. Davon lebten 1,45 Millionen unterhalb der Armutsgrenze und mussten mit staatlichen Transferleistungen gestützt werden. Heute haben wir weniger als zwölf Millionen Kinder und 2,7 Millionen leben von Transferleistungen unterhalb der Armutsgrenze. Und sie haben keine Chance im Bildungssystem. Sie sind in der Gesundheitsvorsorge benachteiligt und das sind ja schon zwei Elemente, die ganz wichtig sind dafür, dass man künftig ein selbstbestimmtes Leben führen kann."
    Eine Perspektivlosigkeit aus der es scheinbar keinen Ausweg gibt und an der die betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst keine Schuld tragen. Sie wurden in schlechte soziale und finanzielle Bedingungen hineingeboren. Eine gesellschaftliche Position, aus der es kaum ein Entrinnen gibt, wie der Theologe Nikolaus Schneider sagt.
    "Wir haben schon seit Langem den Befund, dass die soziale Position in der Gesellschaft Kinder geradezu betoniert in dieser Position. Dass die Aufstiegschancen in unserer Gesellschaft geringer geworden sind. Ich selber komme aus ganz kleinen, einfachen Verhältnissen und hatte die Chance des Aufstieges. Aber sehr viele Kinder und Jugendliche haben diese nicht mehr und das ist primär eine Frage der Unterstützung und eine Frage des Bildungssystems."
    Für den ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche ist es unabdingbar, die betroffenen Kinder und Jugendlichen mit den nötigen finanziellen Mitteln auszustatten, die es ihnen ermöglichen am bestehenden Bildungssystem teilhaben zu können. Dass fehlende Geldmittel eine gleichberechtigte und chancengleiche Schulausbildung geradezu verhindern, bestätigt Kinderschutzbund-Präsident Heinz Hilgers. Er sieht den Staat in der Pflicht dafür zu sorgen, dass für sozial schwache Kinder und Jugendliche Lehrmittel kostenlos zur Verfügung stehen oder dass ihnen die notwendigen Geldmittel für eine umfassende Schulausbildung bereitgestellt werden.
    "Er hat zu keinem Zeitpunkt den notwendigsten Unterhalt für ein Kind so erhöht, dass er den tatsächlichen Kostensteigerungen entspricht. Wenn Sie z.B. nehmen, dass man für ein Schulpaket für ein Schuljahr einhundert Euro bekommt und weiß, dass wenn man die Materialien kauft, die die Lehrerinnen und Lehrer auch in sozialen Brennpunkten an einer Grundschule empfehlen, schon an die dreihundert Euro kosten, dann weiß man, dass dies alles der Entwicklung nicht standhält."
    "Der Zugang zu Bildungsmöglichkeiten ist ein ganz wesentlicher und entscheidender Schlüssel. Gesellschaftlicher Aufstieg hat eine gute Bildung zur Voraussetzung. Kinder und Jugendliche, die einmal selbständige Erwachsene werden sollen, die für sich selber sorgen können und die einen positiven Beitrag leisten für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft, sollen möglichst gut ausgebildet sein. Und es ist nicht nur einfach: Wir haben ja ein durchlässiges Bildungssystem, sondern die Frage heißt, was tun wir, damit diese Durchlässigkeit wirklich Realität wird."
    Keine Allzweckwaffe gegen Kinderarmut
    Um Kinder und Jugendliche mit einem speziellen Förderbedarf betreuen zu können, müssen nicht nur genügend Räume zur Verfügung stehen, auch der Personalbestand muss in den entsprechenden Einrichtungen erhöht werden. Durch überfüllte Klassenzimmer und Lehrkräftemangel fallen lernschwache Kinder und Jugendliche durch das Raster. Damit das nicht geschieht, hält es der Theologe Nikolaus Schneider in bestimmten Fällen sogar für nötig:
    "Dass zwei Lehrkräfte oder eine Lehrkraft und eine sozialpädagogische oder erziehungspädagogisch ausgebildete Kraft, den Unterricht gestalten, um so fördern zu können."
    Für den Marburger Sozialethiker Franz Segbers ist ein umfangreiches Bildungsförderungssystem nicht die Allzweckwaffe gegen Kinderarmut. Er möchte das Problem schon an der Wurzel bekämpfen. Armut hat für ihn mit sozialer Ungleichheit zu tun, verursacht durch die ungerechte Verteilung der finanziellen Mittel und dem Ungleichgewicht zwischen reichen und armen Bürgern. Bei den hohen Steuereinnahmen des Bundes soll seiner Meinung nach nicht über Steuersenkungen nachgedacht werden, die wahrscheinlich wieder nur Vorteile für die Wohlhabenden bringt. Er wünscht sich ein Umdenken von Politik und Gesellschaft.
    "Ich selber bin ein entschiedener Befürworter einer Kindergrundsicherung. Es gibt ein großes Bündnis von zahlreichen Organisationen, die sich für eine Kindergrundsicherung, ein Kinder-Grundeinkommen einsetzen. Das ist durchgerechnet. Wir könnten mit diesem Konzept, das finanzierbar ist, Kinderarmut für die Bundesrepublik Deutschland gänzlich beseitigen, wenn der politische Wille bestünde."
    Das Konzept sieht eine altersgestaffelte monatliche Grundleistung zwischen 250 und 300 Euro für jedes Kind vor. Für Familien, in denen die Not besonders groß ist, sollten auch die Kosten für das Mittagsessen in Kindertagesstätten und Schulen und die Kosten für schulische Nachhilfe übernommen werden.
    Der Sozialethiker Segbers, Autor des Buches: "Wie Armut in Deutschland Menschenrechte verletzt", stellt zwei grundlegende Forderungen an die Gesellschaft.
    "Wir brauchen ein Prinzip der Solidarität, in dem deutlich gemacht wird, dass die Erziehungsleistung von Eltern, einen solchen finanzeilen Ausgleich erfährt, dass sie davor geschützt werden, weil sie Kinder haben in Armut zu geraten. Und das zweite ist, wir brauchen einen eigenständigen Anspruch von Kindern im Sinne der Kinderrechte, der Menschenrechte, der deutlich macht, dass jedes Kind, unabhängig von den familiären Startbedingungen, das Recht hat, auf gleichberechtigte Startbedingungen und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft."