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Kinderraub durch Nationalsozialisten
Blond, blauäugig, entführt

Weil sie ihrem ideologischen Schönheitsideal entsprachen, raubte die SS-Organisation Lebensborn in den osteuropäischen Ländern einst unzählige Kinder. Viele davon wurden überzeugten Nationalsozialisten zur Adoption angeboten. Die Opfer leiden noch immer unter ihrem Schicksal – und warten auf Anerkennung.

Von Otto Langels | 08.08.2016
    Eine Krankenschwester in einem sogenannten Lebensborn-Heim, ein Verein der nationalsozialistischen SS.
    Eine Krankenschwester in einem sogenannten Lebensborn-Heim, ein Verein der nationalsozialistischen SS. (imago stock&people)
    "Ich bin ein Lebensborn-Kind, laut der Papiere der Lebensborn-Gesellschaft am 17.10.1940 geboren in Oderberg, Oberschlesien. Aber diese Angaben sind gefälscht vom Verein Lebensborn. In der Tat heiße ich Alexander Litau, geboren in Alnowa auf der Krim."
    Alexander Litau ist heute 75 Jahre alt und lebt in Hamburg. Als Kind bekam er bei seinen Adoptiveltern den Namen Folker Heinecke. Er wurde nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Herbst 1941 von der SS vor seinem Elternhaus auf der Krim aufgegriffen und verschleppt.
    "Vorher war ja Heinrich Himmler in Kiew und hat gesagt, alles was blond, blauäugig, arisch ist, nehmen wir mit, werden wir rauben und nach Deutschland bringen. Ich entsprach ganz genau den blonden Rassemerkmalen, blaue Augen, Kopfform etwas rundlich, aber auch in der Größe in allen Maßen ganz genau den Rassemerkmalen von Heinrich Himmler.
    Kinder wie Alexander Litau, der heute Folker Heinecke heißt, wurden im Zweiten Weltkrieg verschleppt, weil sie den kruden Vorstellungen der SS von "arisch" aussehenden Menschen entsprachen.
    "Was an gutem Blut überhaupt auf der Welt vorhanden ist, an germanischem Blut, das haben wir zusammen zu holen", hatte SS-Führer Heinrich Himmler 1942 auf einer Tagung erklärt. Und so raubten seine Verbände in Polen, Slowenien, Tschechien, Norwegen und der Sowjetunion sogenannte "rassisch wertvolle" Kinder mit dem Ziel, sie "einzudeutschen", wie es hieß. Viele Opfer wissen bis heute nicht, woher sie kommen und wer ihre wahren Eltern sind, da man sie als Kinder mit einer neuen Identität ausstattete. Wie viele Kinder von der SS verschleppt wurden, lässt sich nur mutmaßen, weil die meisten Unterlagen gegen Kriegsende vernichtet wurden und fundierte wissenschaftliche Untersuchungen bislang fehlen. Christoph Schwarz, Vorstandssprecher des Freiburger Vereins "geraubte Kinder – vergessene Opfer":
    "Die Zahl der Opfer ist zum Teil sehr unterschiedlich. In Polen geht man davon aus, dass es zwischen 50.000 und 200.000 Kinder waren. In Slowenien, in diesem kleinen Land, was ja auch total eingedeutscht werden sollte, wurden an die 1.000 Partisanenkinder verschleppt. Da gibt es auch Listen. Da leben heute noch an die 200 Opfer, die sind organisiert. Und wenn man anhand dieser Zahlen das projiziert auf diese annektierten Ostgebiete, dann ist es durchaus glaubhaft, dass mehrere hunderttausend Kinder verschleppt worden sind."
    "Ich war bei meiner leiblichen Mutter ja lediglich zehn Tage, als mich die Nazis dann wegholten und in eine Jugendsammelstelle brachten vom Jugendamt für zu arisierende Kinder", erzählt Alexander Orlow. Er kam 1944 in Rudamühl in Westpreußen als Sohn der russischen Zwangsarbeiterin Ludmilla Orlowa zur Welt. Der Vater ist unbekannt.
    "Vom Aussehen her bin ich als Arier durchgegangen. Das war mein großes Glück, zu überleben. Meine Stiefmutter hat mich dann am 14. Dezember 1944 aus dieser Sammelstelle herausgeholt. Meine Stiefmutter hat mir zwar nachher immer erzählt, dass die alle umgekommen wären, meine ganze Familie sei erschossen worden, ich wäre in einem Zelt vom Roten Kreuz gefunden worden - das ist alles gelogen gewesen. Denn nach Recherchen des Internationalen Suchdienstes hat man herausgefunden, dass meine leibliche Mutter noch bis April 1945 in dem Ort sehr lebendig gesehen wurde."
    "… wir suchen einen Nachfolger oder einen Sohn"
    Alexander Orlows Pflegemutter konnte selber keine Kinder bekommen. Sie besorgte sich daher in der Sammelstelle einen "germanisch" aussehenden Jungen und floh mit ihm vor der anrückenden Roten Armee nach Hamburg, wo Alexander unter dem Namen Heinz Kathers aufwuchs.
    Während Alexander Orlow schon kurz nach der Geburt zu seiner deutschen Pflegemutter kam, hatte Folker Heinecke nach dem Raub durch die SS auf der Krim eine wahre Odyssee vor sich, wie er später durch eigene Recherchen herausfand. Im Rassehauptamt Lodz untersuchten ihn SS-Ärzte, ob er ihren "arischen Maßstäben" entsprach. Als "eindeutschungsfähiges" Kind kam der zweijährige Junge anschließend in die Gaukinderheime Bruckau und Kalisch im damaligen Warthegau, heute Polen. Von dort ging es weiter über das Heim Pommern in Bad Bolzin in das Haus Sonnenwiese in Kohren-Salis bei Leipzig. Dort blieb er etwa ein Jahr, bis ein wohlhabender Reeder aus Hamburg-Hausbruch auftauchte, der sein Adoptivvater werden sollte.
    Folker Heinecke blättert in Unterlagen beim Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes in Bad Arolsen.
    Folker Heinecke blättert in Unterlagen beim Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes in Bad Arolsen. (picture-alliance/ dpa - Rotes Kreuz )
    "Er hatte keine Kinder kriegen können. Dann musste ein Kind her. Heineckes hier in Hausbruch waren eben Nazis, die dachten, das mit Hitler ist eine gute Sache. Und dann haben sie Kontakt zu Heinrich Himmler gekriegt. Und dann sagte mein Vater wohl, du Heinrich, kannst du uns nicht helfen, wir suchen einen Nachfolger oder einen Sohn."
    Heinrich Himmler konnte helfen. Er vermittelte einen Kontakt zum Haus Sonnenwiese in Kohren-Salis bei Leipzig.
    "Wir Kinder, ungefähr 20, 30, saßen auf der linken Seite, und meine Eltern kamen dann durch den Flur und setzten sich rechts hin und suchten sich ein Kind aus, na ja, wie man das so macht, wenn man einen guten Dackel oder einen guten Hund haben will, eine gute Rasse, suchte man sich damals ein Kind aus. Und mein Vater saß ganz allein da mit meiner Mutter zusammen drüben und die guckten dann und suchten uns aus. Und ich bin aufgesprungen und hab die Initiative ergriffen, die anderen saßen alle, und ich bin zu meinem Vater rüber gelaufen und habe meinen Kopf auf sein Knie gelegt. Und mein Vater hat gleich zu Minna gesagt, der passt ja wunderbar zu uns, den nehmen wir."
    Das Haus Sonnenwiese war eine Einrichtung der NS-Rassenorganisation Lebensborn. In den Heimen des 1935 auf Veranlassung von Heinrich Himmler gegründeten Vereins wurden kleine Kinder zwangsgermanisiert, ältere ab sechs Jahren kamen in sogenannte Heimschulen. Ihre wahre Identität verschwand hinter deutschen Namen und gefälschten Lebensläufen. Christoph Schwarz vom Verein "Geraubte Kinder – vergessene Opfer":
    "Dort wurden die Kinder dann zum Deutschtum gezwungen. Wenn sie polnisch sprachen, wurden sie geschlagen, wurden bestraft. Wenn die Kinder sich dann nicht eindeutschen ließen, wurden sie direkt wieder nach Lodz zurückdeportiert."
    Die Verantwortlichen des Vereins Lebensborn saßen 1947 auf der Anklagebank des alliierten Militärtribunals in Nürnberg. Aber sie kamen ungeschoren davon. In der Urteilsbegründung hieß es unter anderem:
    "Der Anklagevertretung ist es nicht gelungen, mit der erforderlichen Gewissheit die Teilnahme des Lebensborn und der mit ihm in Verbindung stehenden Angeklagten an dem von den Nationalsozialisten durchgeführten Programm der Entführung zu beweisen."
    Die Lüge von den toten Eltern
    In das Haus Sonnenwiese war 1942 auch Hermann Lüdeking verschleppt worden, angeblich ein Findelkind aus Lodz mit dem Namen Roman Rostakowski. Doch einen Jungen mit diesem Namen hat es dort nie gegeben. Seine wahre Herkunft kennt Hermann Lüdeking bis heute nicht. Aus dem sechsjährigen Roman wurde in Kohren-Salis Hermann. Nach einiger Zeit tauchte Maria Lüdeking in dem Heim auf. Sie suchte nach einem Ersatzkind für ihren im Krieg gefallenen Sohn.
    "Anfang Dezember hat sie dann einen Anruf gekriegt, und dann hat man gesagt, sie könnte sich in Kohren-Salis ein Kind aussuchen. Und dann ist sie dahin gefahren. Ich habe unten gesessen mit meinem Spielkameraden. Und dann hat man uns raufgeholt in das Schwesternzimmer, und da hat die Oberschwester gesagt: Ja, Frau Lüdeking, da sind zwei Kinder, sie können sich eins aussuchen. Und dann hat sie gesagt, 'ich nehm' den kleinen Hermchen, den werde ich mal wieder aufpäppeln, der sieht mir so krank aus'."
    Der kleine Hermann konnte sich nicht über seine Pflegeeltern beklagen, sie behandelten ihn gut, waren aber überzeugte Nazis, worauf Himmler großen Wert legte. Beide waren Parteimitglieder, er Mitglied der SS, sie BDM-Führerin in Ostwestfalen-Lippe.
    "Ich habe nie ein polnisches Wort gesprochen, ich habe immer Deutsch gesprochen. Ich hab nur mal gefragt, später mal, ich glaube, da war ich zehn oder elf, da habe ich gefragt, wer meine richtigen Eltern sind. Da hat meine Pflegemutter auch nur gesagt, das, was auch in der Geburtsurkunde steht: Vater tot, Mutter tot, sie leben nicht mehr."
    Heinrich Lüdeking und auch Folker Heinecke hatten Glück im Unglück. Sie wurden als Kinder entführt, kamen aber zu Pflegeeltern, die sie anständig behandelten. Dagegen wurde Janina Kunstowicz von ihrer Adoptivmutter misshandelt, mit Händen und Füßen ans Bett gefesselt und mit einem Riemen geschlagen. Die SS hatte sie 1941 als junges Mädchen aus einem polnischen Kinderheim in Posen in das Lebensborn-Heim Oberweis im Salzburger Land verschleppt. Die heute 85-Jährige ist schwer erkrankt, so dass ihre Tochter Bettina Grundmann-Horst für sie spricht.
    "In Oberweis wurde sie dann von einer deutschen Lehrerin adoptiert, der das Amtsgericht attestiert hat, sie wäre zur Adoption aufgrund psychischer Störungen nicht geeignet. Sie hat dann irgendwie mit den Nazis einen Kuhhandel betrieben und hat illegal meine Mutter adoptiert, was dann im Laufe ihres Lebens dazu geführt hat, dass sie permanent versteckt wurde, von einer Schule auf die andere Schule."
    Denn nach dem Zweiten Weltkrieg suchte die leibliche Mutter ihre Tochter mithilfe des Internationalen Roten Kreuzes. Die Adoptivmutter versteckte daraufhin Janina, die inzwischen Johanna Kunzer hieß, und wechselte den Wohnort, um Nachforschungen zu erschweren. Nach dem Tod der Adoptivmutter beantragte Janina Kunstowicz 1989, wieder ihren polnischen Mädchennamen zu tragen. Doch das Regierungspräsidium Detmold lehnte dies ab:
    "Sie haben keine Beweise erbracht, die zu einer neuen Beurkundung ihrer Geburt führen können. Sollten Sie weiter daran interessiert sein, Ihr Anliegen zu verfolgen, so müssen Sie mir nachvollziehbare Unterlagen vorlegen, aus denen zweifelsfrei zu ersehen ist, dass Sie mit Janina Kunsztowicz identisch sind."
    Eine absurde Argumentation: Deutsche Stellen hatten während der NS-Zeit Kinder verschleppt, mit einer falschen Identität ausgestattet und systematisch Dokumente über ihre Herkunft vernichtet. Jahrzehnte später fordern deutsche Behörden von den Betroffenen zweifelsfreie Unterlagen über ihre Geburt.
    Ihre Mutter habe schließlich ein anthropologisches Gutachten in Auftrag gegeben, für das sie knapp 1.000 DM zahlen musste, erzählt Bettina Grundmann-Horst.
    "Dieser Professor hat das Gutachten gemacht und hat zu 99,8 Prozent bestätigt, dass das Kind auf dem Bild meine Mutter ist mit der Geburtsurkunde in Polen. Und dann ging der Antrag los, dass sie ihre Papiere alle neu umschreiben musste."
    Janina Kunstowicz konnte schließlich wieder ihren polnischen Mädchennamen tragen, ihre leibliche Mutter aber lernte sie nie kennen.
    "Meine Mutter hat auch Zeit ihres Lebens immer ihre Mutter noch weiter gesucht. Und sie hat immer wahnsinnig darunter gelitten, dass sie nicht gewollt war, dass jeder sie irgendwo abgegeben hat, dass sie nie richtig zu Hause war."
    "Ich leide ja heute noch drunter, dass ich nicht weiß, wer meine Eltern sind"
    Was Bettina Grundmann-Horst von ihrer Mutter erzählt, trifft auch auf andere geraubte Kinder zu: Sie sind traumatisiert und leiden bis ins Alter unter Verlustängsten. Nur mühsam konnten sie sich aus der problematischen Beziehung zu ihren Pflegeeltern lösen. Es fällt ihnen schwer, dauerhafte Partnerschaften und normale Beziehungen zu ihren eigenen Kindern aufzubauen.
    Hermann Lüdeking ist Vater von acht Kindern, Alexander Orlow ist kinderlos und hat nie in einer längeren Beziehung gelebt.
    "Man will ja auch gerne wissen: Wie haben die Eltern ausgesehen, oder habe ich Geschwister oder habe ich keine Geschwister. Und das beunruhigt einen schon. Und ich leide ja heute noch drunter, dass ich nicht weiß, wer meine Eltern sind."
    "Ich wusste, dass die Ablösung von meiner Stiefmutter sehr schwer sein wird, weil die mich derartig vereinnahmt hat, quasi wie ein Stück Eigentum. Ich hatte mehrere Versuche unternommen, ich hatte mich damals gemeldet beim Deutschen Entwicklungsdienst, da wurde ich angenommen, und dann hat sie gedroht, sich umzubringen. Dann habe ich das abgeblasen. Und so habe ich dann immer weiter gelebt, bis ich dann so 30 war und dann mich selbstständig machte, und dann bin ich ausgezogen. Meinen jetzigen Geburtsnamen, den habe ich angenommen nach dem Tode meiner Stiefmutter, weil, das hätte ich nicht gewagt damals, diesen Namen zu tragen. Mir ist danach klar geworden, was diese Frau auf mich auch eine Macht, einen Druck ausgeübt hat."
    Obwohl die zwangsgermanisierten Kinder Leidtragende eines nationalsozialistischen Verbrechens sind, wurden sie in Deutschland bisher nicht als NS-Opfer anerkannt. Das Land Österreich hat den Betroffenen hingegen eine finanzielle Entschädigung in Höhe von rund 1.500 Euro zukommen lassen, eine bescheidene Summe, aber immerhin eine Geste. Die Bundesregierung hat dagegen entsprechende Vorstöße abgelehnt. Das CDU-geführte Finanzministerium stellte 2013 in einer Stellungnahme fest:
    "Das Schicksal betraf im Rahmen des Kriegsgeschehens eine Vielzahl von Familien und diente der Kriegsstrategie. Es hatte nicht in erster Linie die Vernichtung oder Freiheitsberaubung der Betroffenen zum Ziel, sondern deren Gewinnung zum eigenen Nutzen. Hierbei handelt es sich um ein allgemeines Kriegsfolgenschicksal."
    "Für mich steht außer Zweifel, dass die Zwangsgermanisierten NS-Opfer sind. Nicht einfach nur Kriegsopfer, sondern NS-Opfer", sagt dazu Günter Saathoff, Vorstand der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft, einer Organisation, die im Jahr 2000 im Rahmen der Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter gegründet wurde und heute die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus wachhält.
    "Auch wenn die Zwangsgermanisierten nicht unter die Definition des Paragrafen 1 des Bundesentschädigungsgesetzes gehören, sind sie unzweifelhaft Opfer nationalsozialistischen Unrechts und müssen in dieser Eigenschaft auch gewürdigt werden."
    Das Bundesentschädigungsgesetz aus dem Jahr 1953 bezeichnet als NS-Opfer, wer aus politischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurde. Aber zählen die geraubten Kinder nicht auch zu den rassisch Verfolgten? Schließlich wurden sie wegen ihres "arischen" Aussehens verschleppt. Seit Jahren bemüht sich der Verein "Geraubte Kinder" darum, dass die Gruppe der Zwangsgermanisierten vom Bundestag als NS-Opfer anerkannt wird, bisher vergeblich. Christoph Schwarz:
    "Wir haben seit 2012 insgesamt viermal alle Bundestagsabgeordneten angeschrieben. Zwei Petitionen wurden negativ entschieden durch die Bundesregierung, und jeder Versuch ist im Prinzip kläglich gescheitert mit der Begründung, man habe kein Geld."
    Zu den Parlamentariern, die das Anliegen der geraubten Kinder unterstützen, gehören Ulla Jelpke von der Linken und der CDU-Abgeordnete Uwe Schummer.
    "Das Wichtige ist meistens den Opfern ja gar nicht mal das Geld, was sie bekommen, sondern das Wichtige ist, dass sie anerkannt werden, dass ihnen ein Verbrechen zugefügt wurde."
    "Das ist eine Opfergruppe, die offenkundig überhaupt nicht im Zentrum der Anerkennung stand. Das Thema wird weiter bearbeitet, aber es ist ein dickes Brett. Die Regelung ist jetzt schon überfällig. Das müssen wir jetzt in dieser Zeit, wo die Menschen noch leben, auch versuchen, zumindest anzuerkennen."
    Die Bundesregierung sieht allerdings bisher keine Veranlassung, ihre Rechtsauffassung zu revidieren. Einzelne Betroffene haben deshalb inzwischen einen Antrag an den Härtefonds des Landes Nordrhein-Westfalen zur Unterstützung von NS-Opfern gestellt, unter anderen Bettina Grundmann-Horsts Mutter Janina Kunstowicz.
    "Sie hat jetzt vor einer Woche den Entschädigungsbrief vom Land Nordrhein-Westfalen bekommen, dass meine Mutter eine Entschädigung bekommen hat - 3.600 Euro -, dass ihr dieses Unrecht widerfahren ist durch die Nazis."
    "Hier gibt es eine Leerstelle in unserer Erinnerungskultur"
    In dem Schreiben heißt es unter anderem:
    "Ich bedauere, dass Sie so lange um die Anerkennung Ihrer Identität und Ihres Schicksals als Opfer der nationalsozialistischen Rassenideologie kämpfen mussten. Das Ihnen zugefügte Unrecht des Nazi-Regimes ist bestürzend und beschämend zugleich."
    Womöglich kommt aufgrund solcher Einzelfallentscheidungen auf Landesebene noch einmal Bewegung in den Kampf um die bundesweite Anerkennung als NS-Opfer. Günter Saathoff von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft:
    "Es ist ein jahrzehntelanger Kampf und eine Selbstbefassung der Gesellschaft und der Politik geschuldet, dass man das Verständnis, was war überhaupt NS-Unrecht, erweitert hat, und das ging nicht ohne Widerstände. Und ohne politische Initiative, ohne Sinneswandel im Parlament und ohne politischen Druck wäre vieles für andere Gruppen auch nicht passiert. Ohne eine Lobby gibt es keine hinreichende Anerkennung. Ganz offensichtlich braucht die Politik eine mehrjährige Sensibilisierung, um zu erkennen: Hier gibt es eine Leerstelle in unserer Erinnerungskultur."
    Einzelne Bundestagsabgeordnete wollen sich daher weiter für die geraubten Kinder einsetzen, damit nicht das eintritt, was Hermann Lüdeking befürchtet.
    "Was ich nicht verstehe, dass die Bundesregierung sich da quer stellt. Die warten jetzt noch fünf Jahre, und dann ist sowieso keiner mehr da."
    Geradezu makaber mutet es an, dass Alexander Orlow als bisher einzige Würdigung einen Ehrenplatz auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf bekommen hat, zur Verfügung gestellt von der Geschwister-Scholl-Stiftung für Menschen, die unter einer schweren Verfolgung durch den Nationalsozialismus gelitten haben.
    "Ich will ja noch nicht mal eine Entschädigung, ich will nur eine Anerkennung. Nicht, dass man das weiter bagatellisiert; vielleicht auch eine Entschuldigung dafür, dass man so da weggeschleppt wurde von seiner Mutter. Wäre schon nicht so ganz schlecht."