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Kindersoldaten
Opfer und Täter zugleich

Etwa 250.000 Kinder und Jugendliche werden weltweit als Soldatinnen und Soldaten missbraucht. Sie werden gezwungen zu töten und zu plündern - von Rebellengruppen, aber auch von regulären Armeen. Gelingt ihnen der Ausstieg, brauchen sie dringend Hilfe und psychologische Betreuung.

Von Bettina Rühl |
Ein Kinder-Soldat der so genannten Union Kongolesischer Patrioten (UPC) posiert mit einer Waffe in der Hand am 19.6.2003 in Bunia (Kongo). Die zum Volk der Hema gehörende UPC-Miliz verfügte in der Stadt über mehrere hundert Kämpfer, viele von ihnen Kinder. Nach UN-Angaben vom 30.6. überfallen Rebellen in den afrikanischen Bürgerkriegsländern Liberia und Kongo gezielt Schulen und Krankenhäuser, entführen Mädchen und zwingen Jungen zum Kriegsdienst. Dieses Vorgehen der Rebellen verstößt gegen vier Sicherheitsratsresolutionen und andere Bestimmungen des Völkerrechts.
Schätzungen zufolge gibt es weltweit rund 250.000 Kindersoldaten (picture-alliance / dpa/dpaweb | Maurizio Gambarini)
200 Kinder wuseln durcheinander, spielen und streiten in einer großen Halle, dem zentralen Raum eines Kinderheims in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Einige der Jungen und Mädchen sind hier, weil ihre Eltern nicht genug Geld haben, um sich um sie zu kümmern. Andere haben vorher auf der Straße gelebt, oder sie waren Kindersoldaten. Moustapha Aphta Mere kennt beides. Wann er von zu Hause weglief, weiß der 14-Jährige nicht mehr so genau, vermutlich hat er kein Gefühl für die Zeit. An anderes erinnert er sich umso besser.
"Ich habe mich somalischen Soldaten angeschlossen und ihnen an einer Straßensperre geholfen. Wenn sie irgendetwas brauchten, zum Beispiel Zigaretten, haben sie mich geschickt. Ich wollte bei ihnen sein, weil ich selbst Soldat werden wollte, wenn ich mal groß bin. Ich will mein Land gegen die Terroristen verteidigen, gegen die Shabaab-Miliz. Schließlich haben die Soldaten mir sogar eine Uniform gegeben. Als ich damit in einen Laden gegangen bin, hat ein Shabaab-Mitglied auf mich geschossen und mich verletzt."

Kindersoldaten in Somalia

"Al Shabaab" heißt auf Deutsch "die Jugend". Die islamistische Miliz gehört zum Al-Qaida-Netzwerk. Für ihren Krieg gegen die somalische Regierung rekrutiert sie auch Kinder. Aber auch die somalische Armee hat Kindersoldaten in ihren Reihen. Nach UN-Angaben war Somalia im vergangenen Jahr eins der Länder, in denen die meisten Kinder und Jugendliche für den Krieg missbraucht wurden. Weltweit sind es nach Schätzungen bis zu 250.000: Sie werden zum Töten und Plündern gezwungen, müssen Hilfsdienste leisten, spionieren oder werden an die Front geschickt. Und viele Mädchen außerdem als Sexsklavinnen missbraucht.
Das Gebäude des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
Zwei Kindersoldaten und der Internationale Strafgerichtshof - Zwei Opfer, ein Täter
Zwei Jungen werden von einer ugandischen Miliz verschleppt und als Kindersoldaten rekrutiert. Jetzt steht der eine als Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Strafgerichtshof – der andere arbeitet für die Institution.
"Nachdem ich verletzt worden war, brachten mich die Soldaten ins Krankenhaus. Sobald ich dann entlassen wurde, wollte ich wieder zu ihnen zurück, aber sie haben gesagt: "Du kannst nicht bei uns bleiben, geh nach Hause! Wir wollen nicht, dass Du nochmal verwundet wirst." Nach Hause wollte ich nicht, also bin ich auf die Straße zurückgegangen."

"Unsere Kinder verhalten sich nicht normal"

Vor vier Monaten sprachen ihn dort Mitarbeiter des "Dr. Kadare" - Kinderheims an. Sie überredeten den Jungen, das Leben auf der Straße aufzugeben und mitzukommen. Jawahr Jama hat das "Dr. Kadare"-Zentrum gegründet, finanzielle Unterstützung bekommt sie von unterschiedlichen Gebern.
"Unsere Kinder verhalten sich nicht normal. Manchmal kämpfen sie miteinander, und viele sind drogenabhängig. Das gilt vor allem für die ehemaligen Straßenkinder. Wir tun, was wir können, damit es ihnen gesundheitlich besser geht."
Ein Junge trägt auf einer Rekrutierungsversammlung für neue Kämpfer der Huthi-Rebellen in Sanaa (Jemen) ein Gewehr über der Schulter. 
"Du bist jetzt Soldat"
Sie wurden zwangsrekrutiert oder haben sich im Chaos des Bürgerkriegs freiwillig Kämpfern angeschlossen: Schätzungsweise 19.000 Kindersoldaten gibt es im Südsudan. Auch im Jemen, Syrien und im Irak kämpfen Kinder an der Seite bewaffneter Gruppen.
Im Zentrum gibt es einige Klassenzimmer, dort werden die Kinder unterrichtet. Wer sich besonders auffällig verhalte, bekomme psychologische Unterstützung, sagt Jama. Eine Berufsausbildung kriegen die Jugendlichen hier nicht.
In etlichen der Schlafräume stehen keine Betten, stattdessen liegen Matratzen auf dem Boden. Immer wieder hätten die Jungen die Doppelbetten aus Metall kurz und klein geschlagen, sagt Jama, sie können ihre Aggressionen oft nicht beherrschen.

Am Rande der Gesellschaft

Viele Organisationen unterstützen ehemalige Kindersoldaten mit pädagogischen und therapeutischen Programmen, bieten ihnen Schulunterricht und Berufsausbildung. Aber die Rückfallquote ist hoch, viele bleiben am Rande der Gesellschaft. Der Konstanzer Psychologe Anselm Crombach forscht zu den Störungen, die ein Trauma verursacht, und zu aggressivem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen.
"Wenn wir in Ländern arbeiten, in Burundi oder dem Kongo, dann gibt es sehr wenig Versorgung für psychisch kranke Personen, und die Infrastruktur ist nicht ausreichend ausgebildet. Das heißt, was in solchen Projekten immer noch dazukommt, ist, dass man sich überlegen muss, wie man das Gesundheitssystem stärken kann."
ACHTUNG: SPERRFRIST 7. SEPTEMBER 16:00 UHR. - ACHTUNG SPERRFRIST 07.09.2017, 16:00 UHR. ARCHIV - ILLUSTRATION - Ein Kindersoldat der liberianischen Armee, der für den damaligen Präsidenten Charles Taylor kämpft, geht am 30.07.2003 mit einer Schußwaffe durch die Hauptstadt Monrovia (Liberia). (zu dpa «UN: Armut und Marginalisierung treiben junge Afrikaner zu Extremismus» vom 07.09.2017) Foto: epa Nic Bothma/EPA_FILES/dpa
Kindersoldat in Liberia (picture alliance / epa Nic Bothma/EPA_FILES/dpa | epa Nic Bothma)
Seit dem 12. Februar 2002 ist es durch das Zusatzprotokoll der UN-Kinderrechtskonvention verboten, Kinder als Soldaten einzusetzen. Bis heute sind dem Protokoll über 150 Regierungen beigetreten. Das Abkommen hat Gesetzesänderungen bewirkt und dazu beigetragen, dass der Einsatz von Kindersoldaten international als Kriegsverbrechen geächtet ist. Verantwortliche Militärs können nun vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden. Als Kindersoldatinnen und -soldaten gelten laut der UN-Kinderrechtskonvention alle Kriegsteilnehmer unter 15 Jahren. Aber in der Praxis hat das Abkommen wenig geändert. Andy Brooks arbeitet für das UN-Kinderhilfswerk Unicef in West- und Zentralafrika.

"Tendenz, Kinder zu rekrutieren, ist ungebrochen"

"In den letzten 20 oder 25 Jahren habe ich immer wieder hier in West - und Zentralafrika gearbeitet. In den 90er Jahren war ich an den großen Entwaffnungs- und Demobilisierungsprogrammen in Sierra Leone und Liberia beteiligt, und natürlich auch in der Demokratischen Republik Kongo. Wenn es solche nationalen Demobilisierungsprogramme gibt, ist es ein bisschen einfacher, einen Überblick über die Zahl der Kindersoldaten zu bekommen als in den Kriegen, die wir hier derzeit haben. Es gibt keine ernsthaften Friedensprozesse mehr, und keine klaren Demobilisierungsprogramme."
Also Programme zur Entwaffnung der Kämpferinnen und Kämpfer. Stattdessen ziehen sich viele Konflikte über etliche Jahre. Zudem hat in Westafrika - und Zentralafrika die Zahl der bewaffneten Auseinandersetzungen zugenommen. Brooks kann nicht einmal schätzen, ob das auch für die Zahl der Kindersoldaten gilt, sagt er.
"Aber die Tendenz, Kinder zu rekrutieren und zu missbrauchen, hält leider ungebrochen an."

Mit Drogen zugedröhnte Kindersoldaten

Herbst 1999. Die Kinder starren geradeaus, treten vor und treten zurück, stehen stramm und schultern ihr imaginäres Gewehr. Denn eine Waffe haben die wenigsten, die meisten imitieren die Haltung mit bloßen Händen. Die Knirpse, die in der Stadt Lunsar in Sierra Leone mit ihren Gummischlappen im Staub stehen und in ihren abgerissenen T-Shirts exerzieren, werden für den Ernstfall abgerichtet: den Krieg.
Mit Drogen zugedröhnte Kindersoldaten kamen in den 90er Jahren wie ein Albtraum über Sierra Leone und Liberia. Die beiden Kriege gehören zu den grausamsten postkolonialen Konflikten auf dem afrikanischen Kontinent. In Sierra Leone waren 7.000 Kindersoldaten im Einsatz, in Liberia waren es nach Schätzungen mehr als 20.000. Einer von ihnen war Ibrahim. An einer Geschichte wie seiner lässt sich immer noch verstehen, wie aus Opfern Täter werden. Auch wenn die Kriege, in denen er kämpfte, inzwischen beendet sind. Als Ibrahim neun Jahre alt, wurde er von der ULIMO entführt, einer liberianischen Rebellenfraktion. "Töte, oder wir töten dich" - mit dieser Drohung gewöhnten die Rebellen die Kinder an das Morden. Ibrahim weigerte sich nicht, als er seinem ersten Opfer gegenüberstand:
"Ich erinnere mich noch an ihn, es war ein kleiner Junge. Sie sagten uns, dass er ein Feind sei und dass wir ihm deshalb den Kopf abschlagen müssten. Ich stand in diesem Moment völlig unter Drogen. Deshalb kann ich mich nicht richtig daran erinnern, was ich dabei empfunden habe. Danach habe ich gelacht. Das war das erste Mal, dass ich getötet habe."
(FILE) A file photograph dated 28 July 2003 shows a 9 (nine) year old Liberian government gunman fires down the 'Old Bridge' during the civil conflict in, Monrovia , Liberia. The Human Rights Watch (HRW) announced Friday 28 October 2005 the government of Ivory Coast is recruiting Liberian fighters into its armed forces. According to Peter Takirambudde, executive director of the Africa division of Human Rights Watch, the Ivorian government is bolstering its military manpower by recruiting children who fought in Liberia's brutal civil war and added "the international community must do all it can to ensure that these children are demobilized and that their recruiters are prosecuted." EPA/NIC BOTHMA +++(c) dpa - Report+++
Kindersoldat im liberianischen Bürgerkrieg (picture-alliance/ dpa/dpaweb | epa Nic Bothma)

"Kämpfen ist wie ein Spiel"

Ibrahim machte schnell Karriere: Im Alter von 13 Jahren wurde er Kommandant einer SBU, einer "small boys unit". Seine Untergebenen waren noch jünger als er. Ibrahim schickte sie gegen Erwachsene und gegen die Kindereinheiten gegnerischer Milizen in die Schlacht.
"Wissen Sie, das Kämpfen ist wie ein Spiel: Dein Feind rückt vor, Du siehst, wie er das Feuer eröffnet, du fängst auch an zu schießen. Früher, als ich noch ein Kind war, haben meine Freunde und ich so was gespielt, und als ich an die Front ging, habe ich wie damals gesagt: "Okay, lasst uns die Gruppe da auslöschen." Dann müssen wir schießen, schießen, schießen. Der Krieg ist wie ein Spiel - wenn du verlierst, gewinne ich. Wie ein Fußball-Match."
In Sierra Leone und Liberia war der Terror gegen die Zivilbevölkerung die einzig erkennbare militärische Strategie. Das ist in vielen Konflikten der Gegenwart nicht anders. Kinder wie Ibrahim, die den Krieg als Fußballspiel missverstehen, sind dafür die perfekten Soldaten.

"Ein Kind weiß nicht, was es tut"

"Kinder sind eben anders als Erwachsene. Wenn ein Erwachsener unter Drogen steht und grausam ist, kann er immer noch über das nachdenken, was er tut. Aber ein Kind weiß nicht, was es tut. Du kannst einen kleinen Jungen losschicken, damit er irgendetwas stiehlt, und er wird mit dem Geld zurückkommen. Du freust dich mit ihm und sagst zu ihm: "Du bist mein kleiner Junge!" Aber wenn mir zu Ohren kam, dass meine Jungs etwas Falsches gemacht haben, habe ich keine Fragen mehr gestellt - ich habe sie exekutiert. Das war so meine Art."
Als der Krieg in Liberia zu Ende ging, war Ibrahim 14 Jahre alt. In einem Flüchtlingslager fand er sogar seine Mutter wieder. Aber er konnte dort nicht in die Schule gehen und verbrachte seine Tage damit, bei Lebensmittelverteilungen anzustehen. Schon nach kurzer Zeit verließ er seine Mutter wieder und ging von Liberia nach Sierra Leone, denn dort wurde immer noch gekämpft.

"Wir haben alle Lebewesen getötet"

"Ich habe gerne getötet. Ich war grausam zu Zivilisten und Soldaten. Ich war wirklich ein schlechter Mensch. Wenn ich ein Dorf einnahm und dort jemanden traf, der sich mir gegenüber mal falsch verhalten hatte, oder wenn meine Jungs vorher in einer Schlacht geschlagen worden waren, dann habe ich das ganze Dorf niedergebrannt. Selbst eine Ratte ist in solchen Momenten nicht lebend davongekommen. Wir haben alle Lebewesen getötet. Diese Operationen hießen "No living thing".
Corinne Dufka von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hält solche Berichte nicht nur für die Prahlereien eines damals Halbwüchsigen. Sie hat lange in Sierra Leone und anderen Ländern Westafrikas gearbeitet. Und sie hat viele Belege für die Verbrechen von erwachsenen Kämpfern und Kindern gesammelt.
"Ich glaube solche Geschichten. Es ist ein interessantes Phänomen, wie diese Kinder, die Opfer sind, zu Tätern gemacht werden. Und ich glaube, die Rebellenführer haben diesen Prozess ziemlich gut durchschaut. Ihre wichtigste Quelle für die Rekrutierung waren Entführungen, und vor allem die Entführungen von Kindern. Sie haben diese Kinder dann psychologisch gebrochen - zum einen natürlich, indem sie sie von ihren Familien trennen und aus ihren Dörfern wegholen. Dann setzen sie Drogen ein, um ihren Verstand zu schwächen. Anschließend werden sie durch militärisches Training und die Indoktrination umgeformt. Ich habe mit Kinder gesprochen, die überhaupt nicht begriffen haben, was sie taten, wenn sie Verbrechen begingen. Manche erinnern sich noch nicht einmal daran. Und dann wachen sie irgendwann auf und man sagt ihnen, welcher Grausamkeiten sie schuldig sind."
Der ehemalige Kindersoldat Michael Davies arbeitet heute als Sozialarbeiter. 
Kindersoldaten - "Die Angst hat alles bestimmt"
Michael Davies wurde in Sierra Leone als Kindersoldat rekrutiert. An Flucht sei vor lauter Angst nicht zu denken gewesen, sagte er im Dlf. Auch heute hole ihn die Vergangenheit immer wieder ein.

Armut und fehlende wirtschaftliche Möglichkeiten

Aber es gibt noch andere Gründe dafür, warum sich Kinder bewaffneten Gruppen anschließen - und zwar freiwillig, sagt Andy Brooks von Unicef.
"Armut und das Fehlen wirtschaftlicher Möglichkeiten sind dafür wichtige Ursachen. Dass Kinder den Anschluss an eine bewaffnete Gruppe für den besten Weg halten können, aus ihrem Leben etwas zu machen, zeigt erschreckend deutlich, wie wenig Chancen Heranwachsende in diesen Regionen haben."
Die Angst vor Rache und der Wunsch nach Schutz für sich und ihre Familien sind weitere Gründe: in einer Situation absoluter Rechtlosigkeit kann es besser scheinen, auf der Seite der Bewaffneten zu stehen, als unter denen zu sein, die unbewaffnet sind - weil der Staat nicht in der Lage ist, Kinder - und Erwachsene - zu schützen.
"Ich will aber betonen, dass diejenigen, die das ausnutzen und Kinder rekrutieren, trotzdem deren Rechte verletzen und nach Völkerrecht ein Verbrechen begehen."
Ibrahim stieg eines Tages aus. Dass die Rebellen inzwischen Niederlage nach Niederlage einsteckten, machte die Kämpfe immer unattraktiver. Womöglich hatte er von der Gewalt auch wirklich genug. Wegen seiner Vergangenheit wurde er von seiner Familie nicht akzeptiert, aber immerhin auch nicht vertrieben. Bei seinem Onkel durfte er in einer Art Abstellraum auf dem Boden schlafen. Ansonsten war Ibrahim auf sich selbst gestellt, erhielt kaum psychologische Unterstützung, keine wirtschaftliche Hilfe.
Der inzwischen 16-Jährige wollte Pastor werden. Vielleicht auch als Sühne für die eigenen Verbrechen. Von einem weltlichen Gericht hatte er nichts zu befürchten: Wer seine Waffen abgab, erhielt in Sierra Leone Amnestie. Ob Ibrahim es je geschafft hat, die Schule nachzuholen und ein geregeltes Leben zu führen, ist unklar.

Kein Einzelfall

Dass er mit der Erinnerung an die Verbrechen, die er erlitten und verübt hat, weitgehend allein gelassen wurde, sei kein Einzelfall, meint Tobias Hecker. Er leitet an der Universität Bielefeld eine Nachwuchsgruppe, die von der deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird. Die Gruppe forscht zu Folgen und Prävention von Gewalt gegen Kinder.
Eine bemalte Wand im Unicef-Projekt "Kinderrepublik Benposta" in Bogota in Kolumbien. In der Kinderrepublik wohnen Minderjährige, die als Kindersoldat rekrutiert worden waren oder rekrutiert werden sollten und vor der Gewalt und den Paramilitärs geflohen sind.
Friedensprojekt in Kolumbien - Wo ehemalige Kindersoldaten weinen dürfen
In den Bergen oberhalb von Bogotá lernen ehemalige kolumbianische Kindersoldaten mit oft traumatischen Erfahrungen umzugehen. Sie haben eine Kinderrepublik gegründet, in der sie selbst die Entscheidungen treffen.
"Es gibt sehr wenig Demobilisierungsprogramme, die sich wirklich um die psychische Gesundheit kümmern. Und unser Ziel wäre es eben, bei denen, die die Waffen abgeben - also demobilisieren - ein Screening durchzuführen und zu sagen: okay, das sind die, die psychologische Unterstützung bräuchten, um die dann eben anzubieten. Und das könnten man auch in den Programmen der UN durchaus einführen, dass man wenigstens schon mal wüsste, wer den Bedarf hat, weil der Anteil ist jetzt nicht so, dass es unbedingt die Mehrheit ist."
Gemeinsam mit Crombach und anderen hat Hecker die klassische Trauma-Therapie für ehemalige Kindersoldaten weiterentwickelt. In der Demokratischen Republik Kongo hat er vielen von ihnen damit helfen können.
"Wir haben also über deine Kindheit in Nyabiondo geredet, und wie das war, als dein Heimatdorf zum ersten Mal von einer bewaffneten Gruppe überfallen wurde."

"Oft sehe ich vor mir, wie ich einen Menschen töte"

Im Oktober 2011 sitzt Hecker in der ostkongolesischen Stadt Goma mit zwei Männern zusammen: einem ehemaligen Kindersoldaten, jetzt 18 Jahre alt, und einem Dolmetscher. Der 18-Jährige möchte seinen Namen aus Angst vor der Rache seiner Opfer nicht sagen. Er soll hier Philippe heißen. Während der Therapiesitzung fingert er immer wieder unsicher am Ärmel seines Pullovers herum.
"Oft sehe ich wieder vor mir, wie ich einen Menschen töte, oder wie ich selbst sterbe. Wie mich eine Kugel trifft. Ich falle auf den Boden - und wache auf, bevor ich sterbe. Aber wenn ich aufwache, bin ich voller Panik. So was träume ich oft. Oder ich bin wach, sitze irgendwo - und plötzlich denke ich an den Krieg. Ich bin auf einmal wieder mitten drin, in einer Situation, in der wir anderen Menschen etwas Schlimmes angetan haben."

Posttraumatische Belastungsstörungen

Weil Philippe seinen Erinnerungen derart ausgeliefert ist, geht Hecker davon aus, dass der junge Kongolese unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Sie führt unter anderem dazu, dass die Patientinnen oder Patienten die traumatische Situation immer wieder nacherleben. Schon ein Geruch oder ein Wort kann eine so lebhafte Erinnerung auslösen, dass sie die Gegenwart völlig vergessen - und dann in einer Weise reagieren, die der realen Situation, in der sie sich gerade befinden, völlig unangemessen ist: Sie sind vielleicht aufbrausend, aggressiv, verteidigen sich, wittern überall Gefahr.
"Und das macht dann auch die Integration wieder schwierig, weil natürlich mit den Traumafolge-Störungen auch einhergeht, dass die sich schlechter konzentrieren können, dass sie schlechter eine Ausbildung wahrnehmen können, dass sie vielleicht auch einfach ja nicht so gut lernen kann und sich deswegen auch schlechter integrieren kann."

Therapeutische Arbeit mit Tätern

In der klassischen Trauma-Therapie ist das alles beherrschende Gefühl die Angst der Opfer. Bei der therapeutischen Arbeit mit Tätern kommen positive Gefühle dazu: zum Beispiel die Lust am Töten und an Gewalt, vielleicht auch das Schwelgen im Gefühl der eigenen Macht. Ebenso wie die Angst bekommt auch das seinen Platz in der Vergangenheit. Erste Studien zeigen eine hohe Wirksamkeit dieser Therapie: die Aggressionsbereitschaft sinkt deutlich, die Integration gelingt besser. Aber bisher bekommt nur ein Bruchteil der ehemaligen Kindersoldaten eine solche psychologische Hilfe. Und wenn sie in ihrem neuen Leben nicht auch wirtschaftliche Perspektiven entwickeln können, ist die psychische Stabilisierung besonders schwer. Aber in vielen Nachkriegsgesellschaften haben gerade junge Menschen kaum Aussicht auf Beschäftigung. Nicht nur in Somalia.