
"Ich habe dann nur gemerkt, dass ich in den künftigen Tagen nicht mehr an den Strand durfte, musste dann im großen Speisesaal auf meinem Platz alleine essen. Und man gab mir auch keine neue Unterwäsche, man gab mir keinen neuen Schlafanzug, keine neue Bettwäsche. Und in diesem beschmutzten Bett musste ich also etwa vier bis fünf Wochen liegen."
Zu diesen Demütigungen und Strafen kamen Zwangsmahlzeiten. Der Erfolg der Kur wurde unter anderem an der Gewichtszunahme der Kinder gemessen.
"Und dann gaben sie mir Haferschleim zu essen. Ich konnte es einfach nicht essen, und ich musste es natürlich essen und dann habe ich erbrochen in den Teller rein, und dann haben sie mir die Nase zugehalten und den Mund aufgesperrt und ich musste das Erbrochene essen."
"Du musst dich schämen ..."
"Meine Eltern haben mir das nicht geglaubt. Und meine Mutter hat mir dann nur verboten, darüber zu sprechen. Sage das bloß niemandem, ich habe es heute noch im Ohr, du musst dich schämen, dass du noch ins Bett und in die Hose machst."
Anzahl der Betroffenen geht in die Tausende
Röhl ist selbst betroffen, sie wurde als Kind nach Föhr und Bad Rothenfelde verschickt und hat die "Initiative Verschickungskinder" vor eineinhalb Jahren gegründet. Im November 2019 organisierte Röhl auf Sylt die erste Konferenz zur Aufarbeitung von Kinderverschickungen. Mehrere Tausend Betroffene haben mittlerweile auf der Webseite verschickungsheime.de von Schlafentzug, Schlägen, körperlicher und psychischer Gewalt berichtet. Anja Röhl:
"Also seitdem wir an die Öffentlichkeit gegangen sind, arbeiten hier mehrere Leute acht bis zehn Stunden pro Tag an dem Ganzen, um überhaupt die Kommunikation hinzukriegen."
Die Nachwirkung nationalsozialistischer Erziehung
"Dass zum Beispiel in Borkum Kinder nicht mit ihrem Namen sondern mit einer Nummer angeredet wurden. Sie waren Teil in einer Masse, die verwaltet wurde. Kinder haben sich in eine Ordnung fügen müssen. Sie sollten die Abläufe nicht durcheinanderbringen, sie wurden eingenordet."
Drei dokumentierte Todesfälle
Nicht nur beim Personal, auch auf der Führungsebene gab es Kontinuitäten, so leiteten bekannte Kinderärzte der Nazi-Zeit später Kinderkurheime. In Bad Dürrheim etwa wirkte der Arzt Hans Kleinschmidt, er testete sogar Medikamente an Kurkindern. Gerade ist eine zehnseitige Liste aus dem Landesarchiv Baden-Württemberg aufgetaucht, welche Kleinschmidts Zusammenarbeit mit Pharmaunternehmen belegt. Ebenfalls gesichert ist mittlerweile, dass in Kinderkurheimen auch Kinder ums Leben kamen. Dokumentiert sind drei Todesfälle in der Heilanstalt Bad Salzdetfurth im Jahr 1969. Das erste Kind erstickte – wahrscheinlich, weil es zum Essen gezwungen wurde. Das zweite Kind starb an Herzversagen nach einer rasant verlaufenden Infektion. Das dritte wurde von drei Jungen zu Tode geprügelt.

Als erster Verband hat die Diakonie Niedersachsen die Todesfälle in einer Studie aufgearbeitet und sich im November 2020 bei Angehörigen entschuldigt.
Träger der Kinderheime waren nicht nur Wohlfahrtsverbände, sondern auch Kommunen, Versicherungsanstalten und Krankenkassen. In das System der Verschickung waren sowohl Institutionen der Länder wie etwa Jugendämter involviert als auch bundesweit tätige Sozialträger. Dass es so viele unterschiedliche Akteure gibt, macht die Aufarbeitung daher nun mühsam. In vielen Bundesländern organisieren sich ehemalige Verschickungskinder ehrenamtlich in Regionalgruppen. Die meisten Heime gab es in Baden-Württemberg, gefolgt von Bayern, dann Nordrhein-Westfalen. In Baden-Württemberg ist die Aufarbeitung in vollem Gange. Es gibt einen Runden Tisch mit Betroffenen, Versicherungsträgern und einer Arbeitsgruppe im Sozialministerium, seit Anfang des Jahres unterstützt das Ministerium die Regionalgruppe der Verschickungskinder finanziell. Der baden-württembergische Sozialminister Manfred Lucha:
"Ich bin froh, dass Betroffenen so die benötigte Hilfe zuteil werden kann. Gemeinsam mit allen Akteuren auf Bundes- und Landesebene werden wir auf eine wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung der Geschehnisse in den Kinderkurheimen hinarbeiten."
Zuständig dafür: Andrea Weyrauch. Sie ist Vorsitzende der Regionalgruppe Verschickungskinder in Baden-Württemberg. Etwa 370 Betroffene haben sich bislang dorthin gewandt. Der Verein baut ein Zeitzeugenarchiv auf, hilft bei der Recherche im Landesarchiv. Mit einigen Trägern bestehen Kooperationen, andere aber mauern noch. Andrea Weyrauch sieht diese in der Pflicht, "dass sie ihre Archive öffnen, wie sie beispielsweise überhaupt selbst mal recherchieren, von wie vielen Heimen sie Träger waren. Aber eines der wichtigsten Forderungen derzeit, die uns noch nirgends ermöglicht wurden, ist das Thema Öffnung der Archive und Zugang von uns Betroffenen in die hauseigenen Archive."
Politisch will der Verein, dass das Thema für alle Parteien im Land zur Chefsache wird. Aber: Bislang steht das Thema in keinem Parteiprogramm. In anderen Bundesländern ist man in der Aufarbeitung auch noch ganz am Anfang, beispielsweise im ebenfalls stark betroffenen Nordrhein-Westfalen. Zwar sagte dort im Oktober CDU-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann im Landtag:
"Es ist jetzt an uns, Licht in das Dunkel zu bringen und das Leid der Opfer anzuerkennen."
Doch noch liegt vieles im Dunkeln. Die genaue Zahl der Kurheime, ihre Träger, damit auch die Aktenlage, ist der Landesregierung nicht genau bekannt, wie aus einer kleinen Anfrage durch Dennis Maelzer, familienpolitischer Sprecher der SPD-Opposition, hervorgeht. In der Antwort auf die Frage, wie das Land die Vorgänge aufarbeiten will, heißt es im März 2020, "dass eine Aufarbeitung auf Landesebene wenig zielführend ist, da Kinder aus dem gesamten Bundesgebiet in Kur- und Erholungsheime geschickt worden sind. Für diese waren zudem die unterschiedlichsten Einrichtungen und Träger verantwortlich. Die Landesregierung wird sich daher für eine bundesweite Aufklärung und Aufarbeitung der Geschehnisse einsetzen."
"Man möchte alles, was mit Aufarbeitung zu tun hat, am liebsten nach Berlin schieben. Ich bin aber schon der Auffassung, dass wir als Nordrhein-Westfalen, dem Land, in dem die meisten Betroffenen auch leben, es schuldig sind, Aufklärung zu leisten, für Aufarbeitung zu sorgen und vor allen Dingen auch die Selbsthilfeorganisationen von Verschickungskindern strukturell zu unterstützen. Das ist, glaube ich, keine Aufgabe, die auf Dauer nur ehrenamtlich geleistet werden kann."
Auf Antrag der SPD-Fraktion soll nun im April eine persönliche Anhörung von Betroffenen im Familienausschuss des Landtags in Düsseldorf stattfinden. SPD-Politiker Maelzer hofft auf eine finanzielle Unterstützung der Initiative wie in Baden-Württemberg, damit Betroffene eine feste Anlaufstelle haben. Was Entschädigungen betrifft, verweist die nordrhein-westfälische Landesregierung auch auf mögliche Leistungen durch das Opferentschädigungsgesetz. Für Dennis Maelzer und für viele Betroffene keine Lösung. Denn:
"Das Opferentschädigungsgesetz wird immer wieder als Unterstützungsangebot angeführt. Man hat aber schon bei den ehemaligen Heimkindern gesehen, dass das oftmals ein stumpfes Schwert ist. Denn es ist schwierig nachzuweisen, dass die aktuellen Probleme, und die aktuellen psychischen Belastungen, die ich habe, wirklich darauf zurückzuführen sind. Und darum ist es beispielsweise bei den Heimkindern, den wenigsten gelungen, auf diesem Weg eine Opferentschädigung zu erhalten und darum wird das auch für die betroffenen Verschickungskinder sicherlich eine hohe Hürde sein."
Aufklärung für Betroffene oftmals wichtiger als Entschädigung
"Die Forschung muss ansetzen an unseren Erinnerungen, denen muss nachgegangen werden. Wir haben ein Forschungsprojekt ausgearbeitet, Bürgerforschung, Citizen-Science-Projekt. Das ist schon entwickelt, das haben wir schon gemacht und sind eigentlich den Trägern, wenn die jetzt anfangen, schon um ein Jahr voraus."
Im Mai 2020 haben die Jugend- und Familienminister auf ihrer Konferenz den Bund aufgefordert, sich der Aufklärung des Themas anzunehmen. Doch bis heute ist nicht geklärt, welches Ressort der Bundesregierung dabei die Federführung übernehmen soll. Da die Kuren teils auf Grundlage kinderärztlicher Verordnungen, das heißt, zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung, durchgeführt wurden, aber auch im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung als Kuren oder Reha-Maßnahmen oder im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe – sind mehrere Ressorts zuständig: Das Familien-, das Gesundheits- sowie das Arbeitsministerium. Bei Anfragen zum weiteren Procedere, verweist eines der Ministerien gerne auf das andere.
Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben
"Grundsätzlich lässt die Quellenlage belastbare Ergebnisse erwarten, da über die Staats-, Landes- und Stadtarchive eine Vielzahl von Dokumenten bewahrt werden konnte. Aufgrund der Vielzahl an Quellen und der generellen Komplexität des Themas lässt sich die Geschichte der Kindererholungskuren jedoch nicht durch eine alleinige Studie der Deutschen Rentenversicherung bewerkstelligen."
Wie es nun weitergeht, welches und ob eines der Ministerien eine groß angelegte Studie finanzieren würde, dazu äußert sich jedoch keines der zuständigen Ministerien. Für Anfang März ist nun ein weiteres Gespräch mit der AEKV geplant. Anja Röhl stellt sich auf eine jahrelange Aufarbeitung ein:
"Naja, wenn man das jetzt mit den Heimkindern vergleicht. Die Heimkinder waren ungefähr 800.000, davon haben sich 14.000 gemeldet. Wenn man unsere Dimension jetzt ansieht, die acht bis zwölf Millionen, gehen wir von zehn Millionen aus, naja, ich glaube die Dimensionen sind größer und deswegen kann das sogar länger dauern."
Derweil kämpfen viele Betroffene durch die erlittenen Misshandlungen in den Kurheimen mit körperlichen und seelischen Folgen. Christa Schneider, heute 71 Jahre alt, schildert wie der Kuraufenthalt bei ihr nachwirkte.
"Und ich muss auch meinen Eltern nicht erlaubt haben, abends wegzugehen. Also, ich habe Gespenster gesehen nachts, Ängste, geschrien, geträumt. Das war lange Zeit, lange Zeit danach noch."
Andere wie die 61-jährige Silvia Wisbar kämpfen noch immer mit den Folgen. Eine Betreuerin im Kinderkurheim Bad Dürrheim hatte sie zur Strafe in einer Badewanne immer wieder unter Wasser getaucht. Die damals Sechsjährige stand Todesängste aus.
"Ich habe nie schwimmen gelernt, weil ich heute noch Angst habe mit dem Kopf unter Wasser zu geraten. Ich bin selber Mutter von zwei Kindern, mittlerweile auch erwachsenen, und ich konnte meine Kinder im Schwimmbad nicht begleiten, konnte ihnen keine Hilfe sein."
Eine Entschädigung fordern beide Frauen nicht. Auch wissen sie, dass die Verantwortlichen nach so langer Zeit nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können.
"Für mich ist es jetzt nicht relevant, ob ich persönlich, ich sage mal, eine Art Schmerzensgeld erhalte oder nicht. Da wird es kaum noch jemanden geben von Seiten der Verantwortlichen, der noch lebt. Die Zeit hat da eben einen Strich durch die Rechnung gemacht, diese Menschen damit zu konfrontieren. Das macht mich sehr wütend."
"Es gibt viele, die heute noch leiden, die also heute noch psychosomatische Störungen usw. haben. Die habe ich nicht, Gott sei Dank. Und das wäre verlogen, wenn ich dann sage, ich will eine Entschädigung haben. Eine Entschuldigung wäre natürlich etwas Anständiges, ja."
Deutsches Rotes Kreuz will externen Historiker beauftragen
Nur ein schwacher Trost für Betroffene wie Silvia Wisbar. Sie wird weiter forschen zu ihrem "Alptraum" Kinderkur, denn:
"Wir Betroffene, wir müssen irgendwie, in irgendeiner Form es schaffen, diese Traumata anzugehen, und das können wir nur, indem wir forschen, wer was gemacht hat. Aber ich möchte, dass die ehemaligen Träger auch anfangen für uns zu forschen, mit uns zu forschen. Ich möchte einfach auch für Kinder, die heute Kinder sind, dass so etwas nie wieder passiert."