Dienstag, 14. Mai 2024

Archiv

Kindesmisshandlung
"Mit dem Leid der Kinder Kasse machen"

Der Rechtsmediziner Michael Tsokos wirft dem deutschen Jugendhilfesystem Versagen vor. Ein Problem sei etwa, dass freie Träger nur Geld verdienten, solange sie von Misshandlung bedrohte Kinder in deren Familien betreuten, sagte Tsokos im Deutschlandfunk. Sie hätte kein Interesse daran, Kinder von ihren Peinigern wegzuholen.

Michael Tsokos im Gespräch mit Jürgen Liminski | 08.02.2014
    Jürgen Liminski: Kinder sind sichtbar gewordene Liebe, meinte der Frühromantiker Novalis, und wo Kinder sind, da ist ein Goldenes Zeitalter. Das klingt schön. Das mag für viele, ja die meisten Kinder in Deutschland, auch stimmen. Aber es gibt trotz der fallenden Geburtenzahlen eine zunehmende Zahl von Kindern, die keine Liebe kennen und von Goldenen Zeitaltern oder Märchen nicht einmal träumen. Es sind die geschlagenen und misshandelten Kinder in Deutschland, auf 200.000 schätzt der Rechtsmediziner Michael Tsokos ihre Zahl. Er hat viele davon in einem jetzt erschienenen Buch mit dem Titel "Deutschland misshandelt seine Kinder" niedergeschrieben und ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Professor Tsokos!
    Michael Tsokos: Schönen guten Morgen, Herr Liminski!
    Liminski: Herr Tsokos, zunächst zum Befund: Wie viele Misshandlungen gibt es pro Jahr, wie viele enden tödlich?
    Tsokos: Die Zahlen, die wir sicher kennen, sind die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik, das sind etwa 160 Kinder im Jahr, die in Deutschland getötet werden, und zwar an Folgen von Misshandlung sterben. Das sind keine Kinder, die an Krebs sterben, an Leukämie, an Verkehrsunfällen, sondern die tatsächlich durch Gewalteinwirkung im Rahmen von Misshandlung versterben. Das sind drei Kinder pro Woche. Die Dunkelzifferforschung oder die Dunkelfeldforschung weiß, dass diese Zahlen sicherlich höher sind, wenn man das konservativ mit einem Faktor von zwei berechnet, dann sind das 320 Kinder, aber das ist auch sicherlich nur die Spitze des Eisbergs. Überlebende Kinder, etwa 200.000, die in Deutschland schwer bis schwerstmisshandelt werden im Jahr. Das sind Zahlen, die der deutsche Kinderschutzbund auch bestätigt, das sind auch Zahlen, die in der Kriminologie vorliegen, in Gewaltforschungsstudien. Und auch das ist möglicherweise nur die Spitze des Eisbergs.
    Auch Ignorierung könne Kindesmisshandlung sein
    Liminski: In welchen Familienformen geschehen die meisten Misshandlungen? Bei Alleinerziehenden, bei Hartz-IV-Familien, in Patchworkfamilien, ganz normalen bürgerlichen Familien?
    Tsokos: Also, Misshandlung von Kindern ist ein Phänomen, was sich durch sämtliche Gesellschaftsschichten zieht, sowohl in bildungsfernen, sozial schwächer gestellten Familien als auch in den Villenvierteln. In Brennpunktvierteln weiß man, dass Kindesmisshandlung in der Regel brutaler beziehungsweise so stattfindet, dass die Kinder häufig eben auch gezeichnet sind, während wir wissen – nicht nur aus Einzelfällen, sondern auch aus Fallstudien –, dass gerade in Akademikerfamilien Misshandlung etwas subtiler stattfindet. Entweder werden Areale geschlagen, die nicht so in der Schule sichtbar sind, das heißt also bekleidete Körperstellen wie Gesäß oder Rücken, oder es findet eine seelische Grausamkeit statt, eine Überforderung des Kindes, eine Ignorierung des Kindes, aber auch das ist Kindesmisshandlung.
    Liminski: Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in einer Familie von Sozialhilfeempfängern auf. Das ist an sich schon eine Schande für ein reiches Land wie Deutschland. Spielt wirtschaftlicher Druck, sprich Armut eine Rolle bei Misshandlungen?
    Michael Tsokos
    Michael Tsokos (picture alliance / dpa/ Jens Kalaene)
    Über Michael Tsokos
    geboren 1967 in Kiel, Schleswig-Holstein. Tsokos ist Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Berliner Charité. Neben Fachliteratur schrieb er drei populäre Sachbücher über Rechtsmedizin. Zusammen mit Belletristik-Autor Sebastian Fitzek verfasste Tsokos 2012 den Thriller "Abgeschnitten". Im Februar 2014 erschien das Buch "Deutschland misshandelt seine Kinder", ein Gemeinschaftsprojekt von Michael Tsokos und Saskia Guddat.
    Tsokos: Mit Sicherheit spielt das eine Rolle. Denn Eltern, die ihre Kinder misshandeln, sind in der Regel ja erst mal keine schlechten Menschen oder keine Verbrecher per se, sondern das ist natürlich eine Spirale. Da kommt Überforderung einerseits natürlich im sozialen Umfeld, was Sie sagen, eben Armut dazu, da kommt eben häufig dazu, dass es zu raschen Partnerwechseln kommt, dass dieses Grundgefühl wie der Zusammenhalt der Familie, der Mehrgenerationenfamilie, wie wir es noch vor wenigen Jahrzehnten kannten, überhaupt nicht mehr existiert. Aber gerade Armut und sonstige soziale Überforderungsfaktoren spielen da eine sehr große Rolle, ob es zu Kindesmisshandlung kommt. Das heißt also, dass sich an den Schwächeren tatsächlich abreagiert wird.
    Liminski: Wir reden bisher von körperlichen Misshandlungen. Wie steht es um die seelischen Wunden, in welchen Familien oder Heimen sind die zu verorten?
    Tsokos: Nun, Sie wissen, dass körperliche Gewalt, körperliche Misshandlung in den Folgejahren auch in seelischen Wunden, also in seelischen Veränderungen resultiert. Die Betroffenen werden häufiger als der Durchschnitt drogenabhängig, alkoholabhängig, es kommt zu psychischen Erkrankungen, es kommt zu Selbstbeschädigung und auch zu suizidalem Verhalten. Das heißt, hier wird quasi ein Schalter umgelegt, der für die kindliche Entwicklung oder die Entwicklung des gesamten Menschen fatal ist.
    Liminski: Es gibt überforderte, aber dennoch auch liebende Eltern, höre ich raus ein bisschen. Ist die seelische Verwundung nicht größer, wenn man das Kind aus der Familie reißt und in ein Heim steckt?
    Tsokos: Das ist etwas, was tatsächlich kontrovers diskutiert wird und was sicherlich auch nicht pauschalisiert werden kann, dass man Kinder eben, wenn Gewalt droht, aus der Familie nehmen muss. Aber ich und auch meine Kollegen, Rechtsmediziner in ganz Deutschland, kennen genug Fälle, bei denen im Vorfeld die Warnzeichen alarmierend waren, dass gesagt wurde, dieses Kind ist gefährdet, und das Kind blieb in der Familie. Das Klärungsverfahren ergab, es bleibt in der Familie, und wenige Wochen später war es tot. Sicherlich ist es gefährlich, das zu pauschalisieren. Kinder dürfen natürlich nicht einem Risiko einer Tötung oder einer so gefährlichen Misshandlung, dass sie schwerstbehindert werden, ausgesetzt werden, aber natürlich muss man den Einzelfall sehen. Es gibt Stimmen, die sagen, jedes einzelne Kind, was wir dadurch retten, jedes Kinderleben ist es das wert, dass einige Kinder vielleicht zu viel aus der Familie genommen werden. Aber ich denke, das ist auch gerade eine Schwäche unseres Systems, dort muss genauer hingeschaut werden und vor allen Dingen schnell. Denn da zählen schon teilweise wenige Tage, wie wir auch in dem Buch eindrucksvoll darstellen. Auch wenn es bekannt ist, ist es möglicherweise zwei Tage später zu spät und das Kind ist tot.
    "Das System insgesamt versagt"
    Liminski: Wer schaut denn nicht hin, oder anders gesagt: Wer sind denn die Versager? Die Eltern, die Jugendämter, die Nachbarschaft, die Hausärzte, die Erzieherinnen?
    Tsokos: Man kann tatsächlich sagen, das System insgesamt versagt. Das ist jetzt nicht so, dass wir dem einzelnen schuld vorwerfen oder vorwerfen, dass der ignorant ist, seinen Job nicht richtig macht und wegschaut. Aber wir haben so viele Schnittstellen, die wir als Rechtsmediziner – die wir in unserem Buch auch beschreiben – sehen, wo es zu einem Versagen kommt! Zunächst einmal sind die Mitarbeiter der Jugendämter heillos überfordert mit den Fallzahlen, da können sie gar nicht schnell reagieren, wenn sie 100, 120 Fallakten auf dem Tisch haben. Wie sollen sie da den Fall rausziehen, um den es jetzt wirklich geht, wo das Leben des Kindes akut bedroht ist? Dann gibt es die freien Träger, die in einer finanziellen Abhängigkeit von den Jugendämtern stehen. Das Prinzip ist eigentlich gut, der Staat macht nicht alles selbst, sondern sourct bestimmte Tätigkeiten aus, Outsourcing. Da tummeln sich jetzt aber auf dem Markt viele freie Träger, die mit dem Leid der Kinder – so kann man es tatsächlich auf den Punkt bringen – Kasse machen. Die verdienen damit ihr Geld, denn nur so lange wie der freie Träger das Kind in der Familie hält, das heißt also, dass die Familienhelfer in der Familie diese Kinder weiter betreuen und besuchen, nur solange wird Geld verdient. Das heißt, die freien Träger, die Jugendhilfeeinrichtungen haben gar kein Interesse, dass Kinder besonders schnell oder überhaupt aus der Familie und damit weg von ihren Peinigern genommen werden, denn dann wird kein Geld mehr verdient. Und das sind finanzielle Abhängigkeiten, das ist ein überaltertes System, was wir unbedingt durchbrechen müssen. Natürlich gibt es auch im Rahmen der Ärzteschaft Kollegen, die wegschauen, die auch ganz eindeutige Hinweise auf körperliche Gewalteinwirkung, und zwar sich auch exzessiv steigernde Gewalteinwirkung bis hin zum Tode eines Kindes ignorieren, wegschauen, die Mauer der Schweigepflicht vorschieben, die ja überhaupt nicht greift! Wenn ich weiß, dass ein Kind in seinem Leben bedroht ist, dann ist dieses Leben des Kindes ein höherwertiges Rechtsgut, wie das der Gesetzgeber festgelegt hat, dann greift die Schweigepflicht nicht! Das heißt, hier sich hinter der Schweigepflicht zu verstecken, ist feige!
    Liminski: Eine Frage, Herr Professor, die politisch vermutlich nicht korrekt ist: An einer Stelle Ihres Buches insinuieren Sie, dass in arabischen oder türkischen Familien Prügel als Mittel der Erziehung üblich ist. Ist das nur traditionelle Rückständigkeit, gibt es vererbte Gewalt? Und wie kann man damit umgehen, wie gehen Sie in der Charité damit um?
    Tsokos: Also, dieses Phänomen von Gewalt zieht sich durch alle Kulturen, auch durch alle Religionen. Das hat jetzt nichts mit der arabischen Großfamilie oder mit dem muslimischen Glauben zu tun, auch in der Bibel steht schon drin, wer sein Kind liebt, der züchtige es. Das sind natürlich archaische, völlig überkommene Formen und wir dürfen auf keinen Fall oder ich möchte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass wir Religion oder Gewalt im Zusammenhang mit Religion sehen! Es gibt die Sekte der Zwölf Stämme, dort finden Sie diese Gewalt auch, das zieht sich also durch alle Religionen und alle ethnischen Zugehörigkeiten. Man muss natürlich im einzelnen Kulturkreis tatsächlich Besonderheiten sehen. Ich erinnere das immer wieder oder ich führe dann immer das Beispiel an von ägyptischen Gastärzten, die wir an der Charité ausgebildet haben, denen wir eben eine Fortbildung betreffend Kindesmisshandlung vor denen gehalten haben, und da haben die gesagt: Aber wieso, ich schlage doch mein Kind, ich schlage doch nicht das Kind meines Nachbarn! Das ist tatsächlich in einigen Gesellschaften so verwurzelt. Wenn das in diesen Gesellschaften so verwurzelt ist, dann bin ich auch der Letzte, der jetzt da über den Tellerrand der Grenzen guckt. Aber wenn das bei uns in Deutschland stattfindet und wenn mir ein Sozialarbeiter sagt, na ja, das ist in deren Kultur so üblich, dann kann ich das nicht hinnehmen. Denn wenn Kinder auf deutschem Boden misshandelt werden, dann hat unser Staat ein Wächteramt, diese Kinder zu beschützen!
    Fälle von Kindesmisshandlung werden zu schnell vergessen
    Liminski: Ihr Buch ist ein Alarmruf. Was kann man tun, wie kann man Misshandlung erkennen oder von Unfällen unterscheiden?
    Tsokos: Ja, das ist der entscheidende Punkt: Wie gehen wir jetzt überhaupt damit um? Ich denke, es muss einmal dieses Thema wirklich auf eine Agenda der Familienpolitik. Es wird immer wieder ausgesessen. Dieses Thema kommt immer wieder mit tragischen Einzelfällen in Deutschland hoch, es gibt einen Aufschrei durch die Republik, zwei Tage später gibt es einen neuen prominenten Steuerflüchtling oder Falschparker und das Thema ist wieder vergessen. Das darf nicht passieren, wir müssen dieses Thema wirklich ganz nach oben packen. Es muss in der Familienpolitik eine Agenda geben, die auf die nächsten Jahre eine Umstrukturierung dieses Systems anlegt. Es kann nicht nur politische Flickschusterei sein, sondern es muss jetzt wirklich was im Großen angelegt werden. Im Kleinen können wir damit beginnen, dass wir diejenigen, die an den Schnittstellen sind, die die Kinder sehen – und das ist das, was Sie eben ansprachen –, entsprechend schulen, rechtsmedizinisch schulen. Wir wollen sie nicht zu rechtsmedizinischen Spezialisten ausbilden, wir wollen ihnen aber einen gewissen Blick dafür geben, was sind sturztypische Verletzungen, was sind misshandlungstypische Verletzungen. Da gibt es ganz klare Kriterien von der Lokalisation her, wo sich diese Verletzungen befinden. Kinder mit unterschiedlich alten Verletzungen, das ist immer ein Hinweis darauf, dass dort eine chronische Misshandlung – denn Misshandlung ist etwas chronisches, was immer wieder stattfindet –, das ist immer ein Hinweis darauf, dass da etwas nicht stimmt. Ich muss einfach diese Plausibilitätsfrage stellen: Kann es wirklich sein, dass dieser ein Jahr alte Junge auf den Herd geklettert ist und seine Hand dort auf die Herdplatte gelegt hat und daher die Verbrennungen rühren? Kann nicht sein! Ist motorisch gar nicht möglich! Ich muss einfach immer diese Versionen überprüfen. Es kann auch nicht sein, dass ein Kind, was angeblich von der Couch gefallen ist, eine schwerste Schädelverletzung hat. Ich muss einfach kritisch mit diesen Fällen umgehen, denn in diesem Milieu der Kindesmisshandlung wird von den Eltern gelogen, betrogen und vertuscht.
    Liminski: Sagt Professor Michael Tsokos, Leiter der Rechtsmedizin an der Charité in Berlin und Mitautor des Buches "Deutschland misshandelt seine Kinder". Besten Dank fürs Gespräch, Herr Tsokos!
    Tsokos: Sehr gerne, vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.