
"Ich belüge dich nicht" sagt eine Frauenstimme. Aber man sieht nicht, wer da überhaupt spricht, und ob die Stimme die Wahrheit sagt, weiß man auch nicht. So beginnt dieser Film, und sofort beginnt das Hirn zu arbeiten, Vermutungen anzustellen, sich selber seinen Film zusammenzusetzen. Sofort erkennt man die Methode von Abbas Kiarostami, den Meister der Auslassungen und Einsparungen aus der iranischen Metropole Teheran.
Dann bewegt sich die Kamera, nimmt den Innenraum einer Bar in den Blick - mehrere Menschen sind zu sehen, aber man weiß sofort, dass keiner von ihnen spricht: Die Wirklichkeit ist ein Puzzle, die Wahrheit ein erst zu schaffendes Kunstwerk, dessen Bedeutung letztlich im Auge des Betrachters liegt.
Entkoppelung von Herkunft und Identität
Kiarostamis neuer Film spielt in Tokio und erzählt wird von einer jungen Frau. Sie studiert und verdient sich diesen Unterhalt als Escort-Girl. Sie heißt Akiko und wird von der hierzulande unbekannten Rin Takanashi facettenreich und mit atemberaubender Intensität gespielt. Wir sehen sie lange im Taxi durch Tokio fahren. Solche Autoszenen sind das Markenzeichen im Werk von Abbas Kiarostami.
Durch die Scheibe sieht man Neonlicht, im Autofenster reflektiert sich das Bild der Metropole zu einem geheimnisvollen Panorama aus Sehnsucht, Utopie, Verheißung, aber auch Schrecken, bedrohlicher Einsamkeit, dystopischer Weltuntergangsstimmung. Die Entkoppelung von Herkunft und Identität im 21. Jahrhundert ist das heimliche Thema des Films - ein Pastiche der condition moderne: Transzendentale Obdachlosigkeit: gleißend hell, nostalgisch, metallisch.
Und der Song, der diesem Film den Titel gibt, und unter anderem von Ella Fitzgerald gesungen wurde, gibt dieser universale Melancholie den Rest.
Ein Spiel mit den Perspektiven
Es geht also um einen einzelnen Menschen und um das Universale der Menschheit. Und es geht um Japan. Wim Wenders hat hier Filme gemacht, die Spanierin Isabel Croixet, und natürlich Sofia Coppola deren "Lost in Translation" unvergessen ist. Nun also Abbas Kiarostami, der seit Jahren in Paris lebende persische Regisseur. Schon in den Filmen, die er in seiner Heimat gedreht hat, war er an zwischenmenschlichen Beziehungen, an direkten Begegnungen und an dem Kleinen, das sich im Großen zeigt, interessiert. Erzählt wird das hier in ständiger Wechselbewegung zwischen Sichtbarem und Verborgenem, Geräuschen, die mit den Bildern verbunden sind, und solchen, die scheinbar nicht dazu gehören.
"Like Someone in Love" ist vor allem ein Spiel mit Perspektiven: Die Figuren und ihr Verhältnis zueinander sind nie fertig, nie vollkommen festgelegt - die Wahrheit liegt auch in diesem Sinn im Auge des Betrachters. Auch dies ist keineswegs ein postmodernes Eiapopeia, sondern direkt in der japanischen Kultur verankert: "Rashomon" heißt jener Klassiker Akira Kurosawas, in dem er seine Geschichte immer wieder, immer wieder neu von den verschiedenen Beteiligten erzählen lässt.
Wunderschöne Bilder, prachtvolle Melancholie
Der zweite unmittelbare Bezug zu Japan liegt in der Frauenfigur, die im japanischen Kino nicht ohne Vorbilder ist. So bewegt sich Kiarostami einerseits streifend, schweifend, neugierig und fast dokumentarisch auf den Spuren von Roland Barthes, dem Tokio und Japan schon vor 50 Jahren als das "Reich der Zeichen" erschienen.
Doch zugleich verbirgt sich im fragmentarischen Panorama eine Erzählung: Da geht es um einen alten todkranken Herren, der keinen Sex von Akiko will, sondern Konversation, unter anderem über Musik: Und der für das junge Mädchen zum magischen Lebens- und Liebesretter wird. Ein bisschen verfolgt man hier also auch die Wunschvorstellung von älteren Herren, dass die jungen Mädchen auf sie hören, und ihre Gesellschaft der der jungen Männer bevorzugen. Ein Wunschtraum - aber gewürzt durch und getaucht in wunderschöne Bilder, prachtvolle Melancholie und kluge Gedanken.
"Like someone in Love", Frankreich/Japan 2013, Regie: Abbas Kiarostami, Darsteller: Tadashi Okuno, Rin Takananshi, Ryo Kase, 109 Minuten