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Kirche und Wiedervereinigung

Remme: In Leipzig tagt die Synode der Evangelischen Kirche. Sie repräsentiert etwa 27 Millionen Christen. ‚Reden von Gott und der Welt' - dem Motto der diesjährigen Beratungen - klingt es im zweiten Teil schon an: Eine Kirche, die sich einmischen will in die Belange der Gesellschaft, und der Bundeskanzler - gestern zu Gast in Leipzig - wurde folgerichtig mit Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit konfrontiert. Gerhard Schröder warb denn auch für seine Politik, die nach seinen Worten die Schwächeren auf keinen Fall einseitig belastet. Morgen wird der Bundespräsident erwartet. Dann geht es auch um den Mauerfall vor zehn Jahren und die Deutsche Einheit. Helmut Kohl, der Altbundeskanzler, hatte beiden großen Kirchen in diesem Zusammenhang in der vergangenen Woche ein Armutszeugnis ausgestellt: Das erbärmliche Schweigen zur Deutschen Einheit gehöre zu den ganz großen Enttäuschungen seines Lebens - so Helmut Kohl in einem Zeitungsinterview. Starker Tobak - für wahr. Am Telefon begrüße ich Jürgen Schmude, Präses der EKD-Synode. Guten Morgen Herr Schmude.

    Schmude: Guten Morgen Herr Remme.

    Remme: Herr Schmude, war Ihnen diese kritische Haltung Helmut Kohls bekannt oder traf Sie das unvorbereitet?

    Schmude: Die kritische Haltung Helmut Kohls hat uns verwundert. Offenbar hat sein Groll sein Erinnerungsvermögen getrübt. Es hat eine Vielzahl auch sehr wichtiger positiver Äußerungen zur Deutschen Einheit damals 1990 - darum geht's nämlich - aus den Kirchen gegeben. Es hat Gottesdienste und Andachten gegeben, viele Kirchen haben die Glocken läuten lassen. Aber die über den Zeitungen übermittelte Aufforderung der Bundesregierung an die Kirchen, sie hätten alle gemeinsam an diesem Tag die Glocken läuten zu lassen, die ist nicht befolgt worden, denn darin sind die Kirchen selbständig, haben ihre eigenen Grundsätze und sind nicht nur dazu da, Regierungshandeln zu begleiten. Aber in der Sache gab es an der Zustimmung zur Deutschen Einheit keine Zweifel, das läßt sich belegen. Nur eben: Wer grollt, der grollt und denkt nicht so genau nach.

    Remme: Groll - worüber? Was meinen Sie?

    Schmude: Da hat sich wohl einer stärkere Unterstützung des Staatsaktes zur Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 gewünscht, nämlich das große Glockenläuten, von der Regierung ausgerufen und von den Kirchen ausgeführt. Kirchen führen nichts mehr aus, was Regierung anordnet.

    Remme: Das Glockengeläut - das ist das eine. Etwas substantieller die Kritik, ein gemeinsames Wort habe gefehlt. Trifft Sie das?

    Schmude: Es hat hinlänglich klare Äußerungen gegeben, auch von den Spitzen der Kirchen. Es sollte doch ein Regierungschef den Kirchen nicht vorschreiben, in welcher Form sie was erklären. Wenn die Sache stimmt, dann mag er bitte es doch uns überlassen - den Kirchenleuten -, in welcher Form sie es tun. Deutlich genug, laut genug und klar genug war's.

    Remme: Sie haben eben zu recht die Anlässe ‚Deutsche Einheit' und das, worum es jetzt in diesen Tagen geht, den ‚Mauerfall' auseinander gehalten. Wenn wir aber jetzt diese Wendezeit als Ganzes betrachten: Hat sich die Evangelische Kirche in dieser Zeit etwas vorzuwerfen?

    Schmude: Was meinen Sie mit ‚Wendezeit' jetzt bitte?

    Remme: Na, nehmen wir mal den Zeitraum vom 9. November 89, als die Mauer fiel, bis zum Tag der Deutschen Einheit.

    Schmude: Zunächst hat es in Ostdeutschland überall starke Mitarbeit von Kirchenleuten am demokratischen Neuaufbau gegeben. Es hat - was die Kirchen selbst anbelangt - schon sehr früh im Januar 1990 eine gemeinsame Erklärung führender Repräsentanten gegeben: ‚Wir sind froh über die Entwicklung, wir wollen die Kirchen zusammenführen und wir sind der Meinung: Es muss auch eine staatliche Einheit geben'. Das war damals in dieser Klarheit durchaus noch nicht Allgemeingut. Ich denke nicht, dass es irgendwelche Vorwürfe bisher gegeben hat. Ich will sie auch nicht nachträglich erfinden für diese Zeit.

    Remme: Äußerungen von Kardinal Meisner geben möglicherweise Aufschluss darüber, warum sich die Freude - zumindest in der katholischen Kirche - damals in Grenzen gehalten hat: Die Einheit - so kritisierte Meisner in der vergangenen Woche - habe unchristliche, ja antichristliche Tendenzen mit sich gebracht. Und er verweist auf die Abtreibungsfrage und auf die Ladenschlusszeiten am Sonntag. Können Sie diese Kritik des Kölner Erzbischofs nachvollziehen?

    Schmude: Also, zunächst bin ich sicher, dass auch die katholische Kirche sich einhellig über die Einheit gefreut hat und davon nicht abrückt. Wenn bestimmte Entwicklungen infolge dieser Einheit von dem Kardinal hervorgehoben werden, dann teile ich seine Bewertung durchaus nicht. Aber das heißt sicher auch für ihn nicht, dass er die Einheit nicht wollte. Recht hat er nach meiner Meinung nicht. Es gibt neue Herausforderungen für die Kirche, aber dann gleich den Antichrist herausziehen zu lassen, das halte ich für stark übertrieben.

    Remme: Der Kardinal unterscheidet ja auch die Rolle der beiden großen Kirchen in der DDR: Die Evangelische Kirche als ‚Kirche im Sozialismus' - wie er sagte -, die katholische als einen ‚Faktor der Destabilisierung', die das System DDR niemals akzeptiert habe. Ist diese Analyse strittig zwischen den beiden Kirchen?

    Schmude: Ein Streit zwischen den Kirchen gibt es darüber nicht, denn es gibt auch die Behauptung nicht - das ist dem Kardinal vorbehalten, diese einseitige Akzentuierung vorzunehmen. In der Tat: Die katholische Kirche hat sich ganz stark zurückgehalten in der DDR, die evangelische hat dafür die Rolle des Schutzdaches und auch der Schutzinstitution für Bürgergruppen, für Menschen, die ihre Menschen-rechte verlangten, auch für Bürgerrechte, auch als Ausgangspunkt der Demonstrationen im Herbst 1989 gebildet. Das war ein unterschiedliches Herangehen an die Sache, und wer nun gar nichts tut, der macht natürlich nichts falsch. Aber wer den Menschen hilft, der steht dann hinterher möglicherweise auch in der Kritik.

    Remme: Kirche im Sozialismus - das muss ja auch kein Vorwurf sein. Begreifen Sie den Begriff als solchen?

    Schmude: Kirche im Sozialismus - darüber ist kräftig diskutiert worden, wie weit der Begriff missverständlich ist. Von vornherein war klar: Es ist eine Ortsangabe. Wir sind hier in dem sich sozialistisch nennenden Staat - ob er es nun ist oder nicht. -, haben hier unsere Aufgaben, aber stellen auch unsere Forderungen an den Staat. Und darüber hat sich Honecker und andere immer fürchterlich geärgert. Denn was Sozialismus ist und was er den Menschen bietet, das wollten sie allein bestimmen und sich dazu nicht etwas vorschreiben lassen von den Kirchen.

    Remme: Sie haben anfangs den Beitrag Einzelner in der Kirche beim demokratischen Neuaufbau in Ostdeutschland erwähnt. Welche Leistungen können die beiden Kirchen beim Zusammenwachsen von Ost und West darüber hinaus vorweisen?

    Schmude: Sie können darauf verweisen, dass sie sich gegenseitig sehr gestärkt und gestützt haben. Auch heute noch gibt es einen starken Finanztransfer von West nach Ost, um das tägliche Leben im Osten aufrecht zu erhalten, und das heißt dann auch, um Kindergärten, Altenheime und andere diakonische Einrichtungen wie Krankenhäuser und anderes entstehen zu lassen, um evangelische Schulen entstehen zu lassen - kurz und gut, dass es kirchliches Leben im Osten gibt. Dass dieses stark ausgeweitet worden ist, das ist ein wichtiger Beitrag zu den neuen Verhältnissen zum Zusammenwachsen.

    Remme: Sehen Sie ein Ende dieses Transfers in Sicht?

    Schmude: Es ist nicht in Sicht, es wird irgendwann kommen. Das zeigt die Geschichte der alten Bundesrepublik Deutschlands, wo es auch Regionen gab, die zu Beginn stark wirtschaftlich zurücklagen und die Unterstützung anderer brauchten. Inzwischen hat sich das vielfach umgekehrt.

    Remme: Herr Schmude, kommen wir zu den aktuellen Themen, die ich anfangs erwähnte, die ja auch während der Synode sicherlich eine Rolle spielen - der Zusammenhang mit der Entwicklung in Ost- und Westdeutschland in den vergangenen Jahren ist ja auch nicht zu leugnen. Befindet sich diese Republik in einer ‚sozialen Schieflage'?

    Schmude: Es ist ein schönes Schlagwort, das einen verleiten könnte zu sagen: ‚Jawohl, so ist es'. Man muss aber sehen: Das ist kein Wunder, wenn nach den Jahrzehnten des wirtschaftlichen Zurückbleibens im Gebiet der früheren DDR jetzt in dieser Region gleichermaßen eine Schwäche besteht und wenn sie eine ‚Nehmer'-Region geworden ist im innerdeutschen Finanzausgleich. Aber eine Schieflage dergestalt, dass es gleich eine Abwertung ist, die möchte ich damit nicht verbinden.

    Remme: Aber ist womöglich eine soziale Schieflage nicht nur zwischen Ost und West, sondern vor allem zwischen ‚arm' und ‚reich' in diesem Land festzustellen?

    Schmude: Darüber kann man reden und darüber reden wir seit langem, dass es bedenklich ist, wenn auf der einen Seite gut, besser und noch mehr verdient wird, die Reichen reicher werden, die Armen arm bleiben oder sogar ärmer werden. Das ist das Thema der Kirchen 1997 im ‚Gemeinsamen Wort' zur Wirtschaft und Sozialem gewesen und das ist unverändert aktuell. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Kock, hat das gestern öffentlich klargemacht.

    Remme: Das heißt, die Vermögenden hierzulande müssen stärker herangezogen werden?

    Schmude: Es geht nicht nur um die Vermögenden. Es geht um diejenigen, die die Starken sind in Einkommen und Vermögen, dass sie angemessen belastet werden. Dabei ist klar: Sie müssen auch produzieren, sie müssen auch leisten. Man darf ihnen das nicht vergällen. Und auf der anderen Seite muss man ganz vorsichtig damit sein, was man kürzt, wo die Schwächeren oder gar die Schwächsten sind, was man bei ihnen spart, denn sie sind schon am unteren Ende der Skala.

    Remme: Geht die Evangelische Kirche da so weit, konkrete Vorschläge zu machen?

    Schmude: Es gibt konkrete Kritiken - gestern in dem Bericht des Ratsvorsitzenden der EKD - daran, dass die Sparbeschlüsse mit einem Umfang von acht Milliarden Mark bei Arbeitslosenhilfeempfängern und Menschen in gleicher Situation sich auswirkt. Ob das sein müsse - ist die Frage.

    Remme: Das war Jürgen Schmude. Er ist Präses der Synode der Evangelischen Kirche. Ich danke Ihnen für das Gespräch.