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Kirchen der Russlanddeutschen
Das Erbe der Siedler

Vor gut 250 Jahren warb die russische Zarin Katharina die Große um deutsche Siedler. Sie sollten die Steppe an der Wolga kultivieren. Zehntausende kamen, gründeten Dörfer. Im Zweiten Weltkrieg wurden die meisten vertrieben. Kirchenruinen erzählen vom Leben der Wolgadeutschen.

Von Thielko Grieß | 29.10.2018
    Die Kirche von Lipowka ist nur noch eine Ruine
    Die Kirche von Lipowka ist nur noch eine Ruine (Deutschlandradio / Thielko Grieß)
    Sonnenschein fällt in das Kirchenschiff. Allerdings nicht durch getöntes Glas, denn das ist längst herausgefallen oder herausgebrochen worden. Die Sonnenstrahlen fallen durch leere Fenster, durch Löcher in den gemauerten Wänden. Das Dach ist auch zusammengebrochen, schon in den 90er Jahren.
    Eigentlich stehen nur noch die dicken Außenmauern. Tauben leben hier zu Dutzenden. Sie werden nur selten aufgescheucht, außer recht regelmäßig von Tatjana Lukaschjowa, einer Anwohnerin: "Hier liegt Müll rum, wir sind noch nicht dazu gekommen, ihn wegzuräumen", sagt sie.
    Die evangelisch-lutherische Kirche von 1905 im Dorf Schäfer, wie Lipowka früher hieß, ist nur noch ein altes Gerippe, das langsam zerfällt. Von den Bänken, auf denen die Gläubigen einmal saßen, der Empore, dem Altar, der Kanzel oder gar einer Orgel ist nichts mehr zu sehen. In manchen Ecken liegen Schutthaufen.
    Die Geschichte mit der Glocke
    Die Sowjetmacht hatte die Kirche bereits 1935 geschlossen, sechs Jahre später – nach dem Angriff NS-Deutschlands auf die Sowjetunion – wurden die Deutschstämmigen deportiert. In ihre Häuser zogen neue Siedler, meist Russinnen und Russen. Viele von ihnen arbeiteten in der Landwirtschaft, manche in der Traktorenwerkstatt, die nun in der Kirche untergebracht worden war. Auch dies endete in den 90er Jahren.
    "Wir haben den Boden gesäubert, hier waren viel Erde und Taubenmist", erzählt Tatjana Lukaschjowa. "Da ist ein zugemauerter Raum mit Heizkessel drunter. Es heißt, den Eingang könne man einfach aufbrechen. Da soll früher ein großer Raum gewesen sein mit Bänken und so."
    Bislang hat sich niemand gefunden, um den Eingang freilegen. Diese Kirche von Lipowka, die in der flachen Landschaft am linken Ufer der Wolga im Gebiet Saratow schon von weitem sichtbar ist: Interessiert sich niemand mehr für ihren Fortbestand?
    Tatjana Lukaschjowa will die zerfallende Kirche in Lipowka retten
    Tatjana Lukaschjowa will die zerfallende Kirche in Lipowka retten (Deutschlandradio / Thielko Grieß)
    "Stellen Sie sich vor, bis zu der Geschichte mit der Glocke war ich nicht einmal in der Kirche", so die Anwohnerin Tatjana Lukaschjowa. Die Geschichte mit der Glocke trug sich im Januar vergangenen Jahres zu. Sie geht so: Eines Morgens kamen Arbeiter mit einem Kranwagen ins Dorf. Auf Anordnung einer Verwaltung und ohne vorherige Ankündigung machten sie sich daran, die Glocke der Kirche von Lipowka abzumontieren. Etliche Dorfbewohner aber stellten sich quer, voran Tatjana Lukaschjowa; sie riefen auch den regionalen Fernsehsender an. Da machten die Arbeiter und ihr Kran kehrt. Die Glocke blieb.
    Kein Geld für die Kirche
    "Wenn ein Mensch ein Denkmal nicht wertschätzt, ist ihm auch die Heimat nichts wert. Welchen Unterschied macht es, wessen Denkmal es ist, von Deutschen, Chinesen oder wem auch immer", sagt Tatjana Lukaschjowa.
    Sie hat entschieden, viel Kraft und Energie in die Zukunft dieser Kirche zu investieren. Sie hat Mitstreiterinnen, aber auch Gegner. Das Dorf Lipowka sei etwa in zwei Hälften geteilt – wem die Glocke egal sei, der habe häufig Verbindungen zur örtlichen Verwaltung, erzählt sie.
    Um dem alten Gemäuer irgendeine Art von Leben wieder einzuhauchen, braucht es Geld. Aber das hat keiner: "Wir haben Briefe an alle möglichen Stellen geschrieben!" Geantwortet hat niemand, nicht die regionale Politik, auch nicht die Russisch-Orthodoxe Kirche, deren Geistliche im Kirchenbau auch schon einmal eine Weihnachts- und Ostermesse gefeiert haben.
    "Schauen Sie, bei uns gibt es eine wunderbare Touristenroute. ‚Die Ecke der Wolgadeutschen‘. Wir, Marks, Sorkino, sie liegen nah beieinander. Aber keiner nimmt das wahr", sagt die Frau. Marks und Sorkino, das sind Orte nur wenige Kilometer entfernt. Auch sie sind einst als Siedlungen deutschsprachiger Einwanderer gegründet worden. Auch dort stehen lutherische Kirchen, die allerdings wie neu glänzen.
    Kirchen auf der Touristenroute
    Handwerker schrauben an der Deckenkonstruktion, es staubt gewaltig. Im Kirchenschiff liegen Zementsäcke. Der Glockenturm in Marks ist bereits wieder errichtet, von außen leuchtet der gesamte Bau in Weiß. Die Restaurierung finanziert maßgeblich ein wohlhabender russlanddeutscher Bauunternehmer, der in Russland lebt und dessen Vorfahren von hier stammen. Ohne viel Initiative bewege sich nichts, erzählt der Pastor Wladimir Rodikow: "Der Staat hilft nicht. Die Kommune hilft auch nicht. Geld kommt nur von Spendern."
    Die Kirche im Dorf Sorkino wurde bereits saniert
    Die Kirche im Dorf Sorkino wurde bereits saniert (Deutschlandradio / Thielko Grieß)
    Rodikow betreut diesen und vier weitere Orte als Seelsorger. Insgesamt zählt er 187 evangelisch Getaufte in seinen Gemeinden. Es gebe zwar auch junge Familien, aber die meisten Deutschstämmigen lebten längst in Deutschland. Oder sie hätten ihr Bekenntnis gewechselt oder abgelegt oder seien in andere Regionen Russlands gezogen: "Vor allem leben sie nun dort, wo es Arbeit gibt. In Moskau, in großen Städten, in Sibirien, wo es Erdöl gibt."
    Die großen Kirchen für die wenigen Gläubigen allein sind überdimensioniert – und werden es wohl bleiben. Doch vielleicht entfalten sie einmal noch ganz andere Wirkungen und werden zu Mittelpunkten ihrer Orte, zu Sehenswürdigkeiten, zu Zentren. Die Wolgaregion könnte sie gebrauchen.