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Kirchen wollen Wächterrolle übernehmen

Durak: Das Kirchenparlament vertritt rund sechsundzwanzigeinhalb Millionen Protestanten in Deutschland und nicht nur das. Immer wieder und vor allem wenn es um im weitesten Sinne die soziale Balance in Deutschland geht, um den Erhalt, den Schutz der sozialen Gerechtigkeit, vor allem dann hat das Wort der evangelischen Kirche Gewicht. Aber wie weit kann und darf die Kirche dabei gehen? Welche Möglichkeiten hat sie im beschriebenen Sinne Einfluss zu nehmen. Darüber möchte ich jetzt mit Hermann Barth sprechen, er ist Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD und nun am Telefon. Guten Morgen, Herr Barth.

    Barth: Guten Morgen, Frau Durak.

    Durak: Als was versteht sich also die evangelische Kirche, als Wächter der sozialen Gerechtigkeit, als Schutzmacht, sozusagen, für sozial Benachteiligte und Gefährdete? Oder hieße das, Macht und Möglichkeiten der Kirche zu überschätzen?

    Barth: Ich glaube, es ist wichtig, dass man bei dieser Frage viel früher ansetzt, nämlich dort, wo es darum geht, dass Menschen, ganz viele Menschen an ganz unterschiedlichen Stellen, ob als Arbeitnehmer, ob als Unternehmer, ob als Politiker, ob als Ehrenamtliche überhaupt wollen, dass Nächstenliebe und Gerechtigkeit da ist, dass sie bereit dazu sind, dass sie das sehen, was da nötig ist zu tun. Ein Theologe hat einmal den, wie ich finde, sehr schönen Satz gesagt, den Blick für das fremde Leid zu bewahren, ist Bedingung aller Kultur. Und das, glaube ich, ist die Basisaufgabe der evangelischen Kirche, auch der anderen Kirchen, dass sie Menschen im Bildungsprozess, in der Begegnung mit biblischen Texten zu dieser Grundeinstellung befähigt, das fremde Leid zu sehen und darum in Nächstenliebe und mit dem Ziel von Solidarität und Gerechtigkeit anzupacken. Und alles das, was die evangelische Kirche in aktuellen Konflikten sagt, ist dann etwas, was da noch dazu kommt, was in besonderen Situationen mal interveniert. Aber grundlegend ist dieses Andere, und das ist etwas, was auch die Freiheit jedes einzelnen evangelischen Christen, in Einzelfragen so oder so zu urteilen am allerbesten berücksichtigt und zur Geltung bringt.

    Durak: Welchen Eindruck, Herr Barth, haben Sie denn von der Politik, von der Wirtschaft? Haben die handelnden Personen den Bezug zu fremdem Leid verloren oder sind sie dabei ihn zu verlieren, wenn es um soziale Balance geht?

    Barth: Es gibt natürlich Tendenzen in unserer Gesellschaft, aber nicht nur bei uns, das ist eine inzwischen globale Konkurrenz, in der immer wieder der Eindruck entsteht, dass man den Blick auf das fremde Leid vielleicht noch hat, aber dass man glaubt, aus Wettbewerbsgründen könne man nun leider darauf nicht mehr Rücksicht nehmen. Und dieses immer wieder anzumahnen, dieses in das Gespräch der Gesellschaft hineinzutragen und zu sagen, wir können nicht das fremde Leid als eine quantité negligable, als eine vernachlässigbare Größe betrachten, das ist die Wächterrolle, die die Kirchen, übrigens nicht nur die Kirchen, immer wieder wahrnehmen müssen.

    Durak: Wo hat denn die evangelische Kirche ihre Grenzen diese Wächterrolle wahrzunehmen?

    Barth: Die Grenzen sehe ich dort, dass wir natürlich auf dem Boden derselben Kriterien, also, dass es einen sozialen Ausgleich geben muss, dass die stärkeren Schultern die größeren Lasten tragen müssen, dass es auf der Grundlage dieser selben Kriterien in Einzelfragen dann von evangelischen Christen unterschiedliche Schlussfolgerungen geben kann. Nehmen wir ein einfaches Beispiel, was zur Zeit in der Politik ja auch sehr kontrovers diskutiert wird: im Gesundheitssystem, soll man eher in Richtung der so genannten Bürgerversicherung oder eher in Richtung der so genannten Kopfpauschale gehen? Da ist glaube ich die Grenze der evangelischen Kirche in Deutschland als einer Institution mit gewählten Repräsentanten, dass sie nicht für alle sagen kann, wir sehen das so und so und die evangelische Kirche steht für die und die Position, denn man kann, allerdings je nachdem wie man diese Modelle ausgestaltet, auf beiden Wegen durchaus diesen Kriterien von sozialem Ausgleich, von Schutz der Schwachen gerecht werden. Insofern sehe ich die Grenzen dort, wo die evangelische Kirche als Institution eine gewisse Zurückhaltung üben muss, um den Freiraum des eigene Urteils evangelischer Christen nicht über Gebühr einzuengen.

    Durak: Und die evangelische Kirche muss auch andere Realitäten berücksichtigen. Sie spüren es ja selbst, wie wir im Beitrag vorher hörten, im eigenen Haushalt. Also, wenn der Topf leer ist oder immer leerer wird, muss man umdenken. Das heißt soziale Balance wünschen ist das eine, aber sie wirklich realisieren können das andere.

    Barth: Es ist für viele in unserer Kirche eine sehr schmerzliche Erfahrung, dass auch wir in den Kirchen bei zurückgehenden Einnahmen Arbeitsplätze abgebaut haben auch in absehbarere Zeit wahrscheinlich weitere abbauen müssen. Das ist ein Lernprozess, der auch nachdenklich macht darüber, dass wir in der Vergangenheit vielleicht manchmal zu selbstsicher über andere geurteilt und geredet haben, die Arbeitsplätze abbauen mussten. Man lernt daraus, dass man im Reden über andere manchmal von der Realität sehr schnell eingeholt wird und sieht, dass man die Dinge etwas fairer beurteilen muss als das manchmal im Überschwang einer sozialen Einstellung geschieht.

    Durak: In diesem Sinne mag sich ja auch der scheidende Ratspräsident Manfred Kock in seiner Abschiedrede geäußert haben. Da hat er davor gewarnt, dass die Stimme der Kirche in der modernen Gesellschaft auswechselbar und beliebig werden könnte. Was denn, Herr Barth, kann die Kirche Besonderes leisten, damit sie sich von anderen vernünftigen gesellschaftlichen Gruppen unterscheidet, wenn es um diese gesellschaftspolitischen Dinge geht?

    Barth: Ich glaube, der große Unterschied, den wir als Kirchen zur Geltung bringen können gegenüber anderen gesellschaftlichen Institutionen, - also die großen Parteien, auch die kleinen Parteien, die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände -, ist, und damit greife ich noch einmal das auf, was ich ganz zu Anfang sagte, dass wir eine Großinstitution sind mit über 26 Millionen Mitgliedern, das heißt wir sind eine Größe, die weit weit in die Gesellschaft, von kleinen Kindern bis zu alten Menschen, eine sehr weit gespannte Gruppe von Menschen zu ihren Reihen zählen kann. Das heißt, dass unsere besonderen Möglichkeiten darin liegen, dass Menschen bei uns etwas lernen können, dass sie in der Gemeinschaft zu etwas gebildet werden können, beeinflusst werden können, wachsen können, damit soziale Gerechtigkeit und Nächstenliebe in unserer Gesellschaft eine Wirklichkeit bleibt.

    Durak: Herr Barth, man sollte, oder könnte ja meinen, dass die evangelische Kirche den Parteien näher stünde, die das C im Namen tragen, näher als anderen. Erwarten Sie von der CDU, von der CSU eigentlich mehr in Sachen sozialer Gerechtigkeit als von der SPD und den Grünen?

    Barth: Das ist ja eine alte Frage, die immer wieder ein Missverständnis hervorruft, als würde das C in dem Namen einer Partei bedeuten, dass bei anderen Parteien das weniger da ist. Wenn man die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte betrachtet, dann wird man feststellen, in allen Parteien gibt es Menschen, die sich, sozusagen, am C messen. Allerdings kann man durchaus sagen, das ist ja nicht etwas, was man an die C-Parteien heranträgt, sondern was sie selbst immer wieder dankenswerter Weise sagen. Wer dann noch zusätzlich zu den einzelnen Personen, die das in den Parteien tun, das C in den Parteinamen nimmt, der will auch daran gemessen werden. Und sofern tun wir der CDU und der CSU nichts Unbilliges an, wenn wir sie immer wieder auch auf das C und die damit gegeben Kriterien ansprechen.

    Durak: Hermann Barth, Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD. Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Barth.

    Barth: Bitte schön.