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Kirchenmusik im 21. Jahrhundert
Kulturfaktor im Wandel

Die Kirche verliert bei vielen Menschen an Bedeutung, die Mitgliederzahlen sinken stetig. Das könnte in Zukunft zu dramatischen Finanzierungslücken führen - auch im Bereich der Musik. Die Kirchenmusik muss deshalb neue Wege gehen, wie ein Symposium in Frankfurt am Main zeigte.

Von Claus Fischer |
    Blick auf den Dom St. Peter und Paul in Naumburg (Sachsen-Anhalt). Der Dom ist das Wahrzeichen der Region und stammt zum größten Teil aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Er gehört zu den bedeutendsten Bauwerken der Spätromanik in Sachsen-Anhalt.
    "Wir haben eine Krise der Attraktivität der Kirche als Arbeitgeber", sagt Jan-Martin Drafehn, Domkantor im sachsen-anhaltischen Naumburg (picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
    "Wir erleben ja, dass wir vor allen Dingen über die kulturellen Gestalten des Christentums Menschen erreichen", betont der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland Pfarrer Johann Hinrich Claussen und unterstreicht damit den Stellenwert, den kirchenmusikalische Angebote - von der Bach-Passion bis zur Popmesse - haben. Allerdings werden sie nicht mehr als selbstverständlich wahrgenommen - und das erfordert von kirchlicher Seite eine Neubesinnung.
    "Wir müssen uns in unsere Gesellschaft hineinstellen und gucken, was da los ist und darauf reagieren", sagt Claussen.
    Institutionen werden unterspült
    Die aktuelle Situation analysierte der Theologe und Soziologe Peter Scherle, Professor am theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn, im Hauptreferat des Frankfurter Symposions. Seine Beobachtung: "Dass wir eine Verflüssigung der Gesellschaft erleben, die viele Institutionen unterspült. Was mal fest war, wird verflüssigt, die Drinnen-Draußen-Grenzen verschwimmen. Das betrifft die Kirche wie andere Einrichtungen der Gesellschaft auch. Das lässt sich aber nicht aufhalten."
    Kirchenmusik muss mitschwimmen
    So, betonte Peter Scherle, muss Kirche sozusagen "im Fluß mitschwimmen". Und er stellt fest: "Dass viele Menschen bei der Kirchenmusik ihren Andockpunkt finden. Die singen mit in Kantoreien, obwohl sie vielleicht nicht getauft sind, keine Mitglieder der Kirche. Es gibt Leute, die gehen vielleicht in Kantatengottesdienste und gehören keiner Religion an."
    Diese Entwicklung ist in Ostdeutschland schon länger im Gang als in den alten Bundesländern, beobachtet Jan-Martin Drafehn, Domkantor im sachsen-anhaltischen Naumburg.
    "Ich bin ja in der evangelischen Domschule St. Martin auch tätig und daraus speist sich ja vor allem auch unsere Domsingschule mit hundert Kindern und Jugendlichen. Und da ist es schon so, dass etwa die Hälfte nicht konfessionell gebunden sind."
    Diskussion bei der Tagung "Berufsbild Kirchenmusik im 21. Jahrhundert"
    Diskussion bei der Tagung "Berufsbild Kirchenmusik im 21. Jahrhundert" (Deutschlandradio/ Claus Fischer)
    "Also ich denke, die Kirchenmusik bietet da auch ganz viele Möglichkeiten, sich mit einem Thema zu beschäftigen, ohne jetzt gleich ein Bekenntnis ablegen zu müssen", sagt Christa Kirschbaum, Landeskirchenmusikdirektorin der evangelischen Landeskirche in Hessen und Nassau und Organisatorin der Tagung.
    "Bei uns engagieren sich regelmäßig, also in wöchentlich oder vierzehntägig probenden Gruppen aller Art, also Bands, Posaunenchöre, Kirchenchöre, Kinderchöre, Jugendchöre 40.000 Menschen. Das ist die mit Abstand größte ehrenamtliche Zahl in unserer Landeskirche!"
    Wege aus der drohenden Finanzkrise
    Doch wie lässt sich die kirchenmusikalische Infrastruktur in Deutschland zukünftig finanzieren, wenn – glaubt man den Ergebnissen der Freiburger Studie – die Kirchensteuermittel bis 2060 stetig abnehmen?
    "Wenn die Kirche versucht, flächendeckend ein Angebot aufrechtzuerhalten, in dem alles abgedeckt werden soll, dann laufen wir in die Irre, erschöpfen unsere Ressourcen."
    Peter Scherle plädiert daher für eine Konzentration kirchenmusikalischer Aktivitäten abseits ländlicher Regionen, in denen häufig nur noch wenige Menschen die Angebote wahrnehmen. "Leuchttürme schaffen" ist das Stichwort.
    "In städtischen, großstädtischen und selbst kleinstädtischen Räumen spielt die Kirchenmusik eine öffentliche kulturelle Rolle, und die muss stark gepflegt werden, wenn die Kirche nicht ihren öffentlichen Raum verlieren will!"
    Die Situation in der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands, die größtenteils Sachsen-Anhalt umfasst, ist womöglich der Vorbote einer gesamtdeutschen Entwicklung. In ländlichen Regionen ist inzwischen kaum noch ein ehrenamtlicher Organist für die Gottesdienste aufzutreiben. Doch die Nachfrage nach Kirchenmusik besteht weiterhin, zum Beispiel in der Stadt Naumburg. Der evangelische Domkantor Jan-Martin Drafehn stellt fest: "Dass es schon so ist, dass Leute, Kirchenmitglieder, Kirchenferne in den Dom zu unseren Dommusiken finden, unsere Veranstaltungen sehr gut besucht werden."
    Das Bild der kirchenmusikalischen Leuchttürme gefällt Hans-Jürgen Wulf, obwohl er Landeskirchenmusikdirektor in der Nordkirche ist, überhaupt nicht. Die Konzentration auf städtische Räume würde nämlich, sagt er, langfristig gesehen das ehrenamtliche Engagement in Sachen Kirchenmusik zerstören, denn das findet meistens auf dem Land statt.
    "Also wenn wir eine bestimmte Qualität im Nebenamt wollen, dann brauchen wir ein bestimmtes Netz an Hauptamtlichkeit, die das sichert."
    "Krise der Attraktivität der Kirche als Arbeitgeber"
    Und dieses Netz muss, so Hans-Jürgen Wulf in den ländlichen Raum hineinreichen. Er plädiert daher dafür, die finanzielle Basis der Kirchenmusik nicht zu beschneiden, sondern sie eher noch auszubauen. Das sei auch in einer ärmeren Kirche möglich, denn es ist schließlich eine Frage der Prioritäten.
    "Wir haben ja eigentlich nicht eine Krise des Berufsbildes, finde ich. Denn der Beruf ist nach wie vor attraktiv, der bietet große Gestaltungsmöglichkeiten, der bietet wunderbare Traditionen, der bietet ein sicheres Arbeitsverhältnis, das ist alles in der Musik nicht selbstverständlich, aber wir haben eine Krise der Attraktivität der Kirche als Arbeitgeber!"
    Das Schaffen sogenannter Leuchttürme angesichts schwindender Finanzen ist in der katholischen Kirche, anders als im protestantischen Bereich nicht nötig, denn durch die Bischofskirchen, also die Kathedralen, findet von vornherein eine Konzentration der kirchenmusikalischen Aktivitäten statt. Aber, sagt der Katholik und Professor für Kirchenmusik an der Kölner Musikhochschule Reiner Schuhenn, es gibt ein anderes gravierendes Problem.
    "Katholischerseits haben wir die Kirchenmusiker immer noch gebündelt im 'subsidiaren Dienst', das heißt: Sie sind nicht eigenständig, sie sind rein auf den liturgischen Dienst festgenagelt. Da Liturgien aber immer weniger werden und auch Gottesdienste, wird das eigentlich Potenzial, das Kirchenmusik leisten kann, überhaupt nicht genutzt."
    Vielfalt ist gefordert - bereits in der Ausbildung
    Dieses Potenzial ist für Reiner Schuhenn die Vielfalt an musikalischen Aufgaben - von Gregorianik über Bach und Mendelssohn bis hin zu Pop, Jazz und Gospel. Diese Vielfalt müsse – und das sei für die Neudefinition des Berufsbildes Kirchenmusiker unerlässlich - auch und gerade in der Ausbildung viel stärker zum Tragen kommen. Hier sei geboten, die Vorbereitung auf den Beruf neu zu justieren.
    "Weil die deutschen Musikhochschulen in der Regel Studieninhalte und auch Studienordnungen anbieten, die erstellt wurden, als man Bachelor und Master eingeführt hatte, d.h. die reagieren auf ein Bild von Kirche, das man vor zehn Jahren hatte. Für Köln können wir sagen, dass ich jetzt sehr froh bin, das so etwas wie Popchorleitung verbindlich jetzt im Stundenplan steht und nicht mehr nur fakultativ, weil man sich einfach mit der Wirklichkeit von Menschen, wie sie ihrem Glauben Ton geben wollen, auseinandersetzen muss als Kirchenmusiker."
    Damit, so Reiner Schuhenn, sei der Kirchenmusiker in der Lage, im gesellschaftlichen Fluss, den der Theologe und Soziologe Peter Scherle in seinem Hauptreferat beschrieben hat, Ankermöglichkeiten zu bieten - egal, ob in einer Großstadt oder in ländlichen Regionen.
    Hervorragende Berufsaussichten
    Wer sich für die Ausbildung entscheidet und das Examen besteht, hat übrigens derzeit in beiden großen Kirchen eine fast 100-prozentige Jobgarantie, betont die Landeskirchenmusikdirektorin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und Organisatorin des Frankfurter Symposions Christa Kirschbaum. Sie appelliert daher: "Liebe Leute, studiert das, das ist ein toller Beruf! Also die Babyboomer-Generation geht jetzt gerade in Rente und wir haben wirklich Schwierigkeiten, hauptberuflich Stellen derzeit zu besetzen."