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Kirchner-Ausstellung in Bonn
Letzte Ausfahrt Schweiz

Die Bundeskunsthalle in Bonn zeigt Ernst Ludwig Kirchners Werk – mit Schwerpunkt auf den Jahren, die der Maler in der Schweiz verbrachte. Der Titel "Erträumte Reisen" führt aber in die Irre.

Stefan Koldehoff im Gespräch mit Dina Netz | 16.11.2018
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    Ernst Ludwig Kirchner: Sertigtal im Herbst (1925/1926) (Kirchner Museum Davos / Bundeskunsthalle)
    Fast 20 Jahre verbrachte der Maler Ernst Ludwig Kirchner in der Schweiz. Sein Einsatz als Soldat im Ersten Weltkrieg hatte zu einem Nervenzusammenbruch geführt; nach mehreren Sanatoriumsaufenthalten ließ er sich schließlich 1918 in Davos nieder. Die Zeit und das Schaffen dort stehen nun im Mittelpunkt einer Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn, deren Hauptleihgeber das Kirchner-Museum in Davos ist. Zahlreiche Werke aus privaten und öffentlichen Sammlungen ergänzen die Werkschau, die insgesamt 220 Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafiken, Skizzenbücher und Fotografien zeigt.
    Die Welt ins Atelier holen
    Durch die Konzentration auf die Schweiz fehlen wesentliche Werkgruppen, etwa die berühmten "Berliner Straßenszenen", die noch vor acht Jahren in der großen Kirchner-Retrospektive im Frankfurter Städel prominent gezeigt wurden. Auch Kirchners gemalte Traumata aus der Kriegszeit sind höchstens indirekt zu sehen: im großartig verfremdeten Selbstbildnis "Der Trinker" von 1914, das das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder ausgeliehen hat. Stattdessen versucht die Ausstellung, ein Konzept des Imaginären in Kirchners Werk zu finden, ihn als Künstler darzustellen, der die "Wiederverzauberung" der industrialisierten Welt im eigenen Atelier versuchen wollte. Das allerdings gelingt nur zum Teil.
    Beobachter der Wirklichkeit
    Vor allem die direkten Landschaftsskizzen und die 45 Fotografien von Kirchner zeigen eigentlich vor allem einen wachen Beobachter seiner tatsächlichen Umwelt. Großartige und großformatige Landschaftspanoramen aus Davos oder die früheren Bilder von Ausflügen nach Fehmarn oder an die Moritzburger Seen legen davon Zeugnis ab. Zu letzteren findet die Bundeskunsthalle leider nach wie vor keine klare Position. Verdruckst heißt es dazu im Wandtext nur, die – auch von Heckel und Schmidt-Rottluff – gemalten und gezeichneten Kindermodelle erschienen "in aus heutiger Sicht untragbaren, da nicht altersgerechten und sexualisierten Posen". Die Forschung ist weiter: Tatsächlich weiß man längst, dass die aus ärmlichen Verhältnissen stammenden minderjährigen Mädchen auch sexuell missbraucht wurden – und das war schon damals ein Verbrechen.
    Klarer ist die Position der Kuratoren zu Kirchner Darstellungen farbiger Modelle und afrikanischer Kunstwerke, etwa aus Benin. Die aus dem Dresdner Museum für Völkerkunde ausgeliehenen Werke mit kolonialem Hintergrund werden als das benannt, wass sie sind: Raubkunst – und Kirchners historischer Bildtitel "Negertänzerin" als das, was er auch damals schon war: rassistisch.
    Distanzierung vom Expressionismus
    Als Weltflüchtling oder Traumreisender, wie der Ausstellungstitel behauptet, bleibt Kirchner – der Deutschland und die Schweiz nie verließ und sein Wissen aus Berichten und Museen bezog – in der Bonner Ausstellung blass. Stark dagegen wird seine Flucht vor dem Expressionismus gezeigt. Mit einem radikalen Stilwechsel, hin zu flächigen Darstellungen mit mäandernden Linien und ohne jedes Vibrieren der Farben, versucht er ab Mitte der 1920er-Jahre bewusst, das inzwischen anachronistische Label "Expressionist" loszuwerden. Unter dem Pseudonym Louis de Marsalle veröffentlichte Kirchner sogar selbst Texte, mit denen er auch den Kunstmarkt für seine neuen Bilder interessieren wollte. Es dauerte lange, bis sie akzeptiert wurden: Erst seit knapp zwei Jahrzehnten werden sie als gleichwertiger Bestandteil seines Œuvres ernst- und wahrgenommen. In der Bonner Ausstellung ist ihnen der Schlussraum gewidmet.