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Kit de Waal: "Die Zeit und was sie heilt"
Frauenliteratur versiert erzählt

In ihren 60 Lebensjahren hat Mona einiges erlebt: eine katholische Kindheit in Irland, Fabrikarbeit in Birmingham, Bombenanschläge der IRA, eine totgeborene Tochter und einen abhandengekommenen Ehemann. Frauenliteratur? Vielleicht. Aber in ihrer souveränsten und herzerwärmendsten Form.

Von Tanya Lieske | 16.05.2019
Zu sehen ist die Autorin Kit de Waal und das Cover ihres Romans "Die Zeit und was sie heilt"
Nach einem erfolgreichen Debütroman legt die 1960 in Birmingham geborene Autorin Kit de Waal ihr zweites Buch vor. Es spielt zu großen Teilen in ihrer Geburtsstadt. (Autorenfoto: Justine Stoddart/ Cover: Rowohlt Verlag)
Romane, die im Arbeitermilieu spielen, die Slangs und die Dialekte, die damit einhergehen, und auch die kantigen Typen: All das ist gut besetzt in der angelsächsischen Gegenwartsliteratur und fristet im Gegensatz zum deutschen Mundartroman keineswegs ein Nischendasein. Einige dieser Romane und ihre Autoren sind sogar zu höchsten Ehren gekommen, man denke etwa an Roddy Doyle, an Graham Swifft, an James Kelman, sie alle haben den Booker-Preis gewonnen.
Von Frauen hörte man in diesem Segment weniger, aber das könnte sich mit Kit de Waal änder. Die 1960 geborene Kit de Waal ist irischer und afro-karibischer Abstammung, aufgewachsen ist sie in der Industriestadt Birmingham. Mit ihrem Roman "Die Zeit und was sie heilt" legt Kit de Waal nach einem sehr erfolgreichen Debüt ihr zweites Werk vor. Und das spielt, wie schon der Erstling, in einem traditionell proletarischen Milieu. Die Covergestaltung lässt ferner daraug schließen, dass der Verlag vor allem eine weibliche Leserschaft ansprechen will. Es geht um Herkunft und Familie, um die Sehnsucht nach einer lebenslangen Liebe und nach Geborgenheit. Und auch darum, was in einem sechzig Jahre währenden Leben alles schiefgehen kann, denn so alt ist die Hauptfigur Mona zu Beginn des Romans. Es umgibt sie eine Aura von Traurigkeit und Einsamkeit.
"Weit draußen auf dem Meer liegt ein violettes Licht. Als sie die alte Fabrikruine neben Monas Wonung abrissen, hatte sie plötzlich in dieser Richtung freie Sicht, und weil sie im dritten Stock wohnt, kann sie jetzt, wenn sie sich im richtigen Winkel gegen den Fensterrahmen lehnt, über den Hütten und Strandhäuschen die vom Sonnenaufgang geröteten Wolken und den rosigen Schimmer der Morgenröte sehen. Es ist Montagmorgen, kurz nach fünf. Sie macht sich einen Toast und eine Tasse Tee und wartet auf das Tageslicht. Die dritte schlaflose Nacht."
Präzise Milieustudie an der englischen Küste
Mona, eigentlich Desdemona, lebt in einer nicht näher benannten kleinen englischen Küstenstadt, deren Tristezza hinreichend deutlich wird, man sieht viel bröckelnden Putz und auch schon einiges an Gentrifizierung. Mit Präzision und Lakonie gelingen der Autorin die Milieustudien dieses Romans. Da ist zunächst Monas Kindheit. Mitte der 1950er-Jahre wird sie in der irischen Küstenstadt Wexford geboren. Sie ist das einzige Kind ihrer Eltern, es sind enge, katholische Verhältnisse.
Als sie knapp siebzehn Jahre alt ist, man schreibt das Jahr 1972, besteigt Mona die Fähre nach England. Sie wird für einige Monate in der englischen Industriestadt Birmingham in einer Fabrik arbeiten.
Es sind bewegte Zeiten. Wie schon in ihrem Debütroman "Mein Name ist Leon" schafft Kit de Waal eine harte politische Kulisse, vor der sich das Leben ihrer Figuren abspielt. Anfang der 1970er-Jahre werden Großbritannien und die Provinz Nordirland von einer Serie von Attentaten heimgesucht, die später zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen.
Doch zunächst geht für Mona alles gut. Sie verdient zum ersten Mal eigenes Geld mit der Arbeit in der Fabrik und sie trifft sie den gleichaltrigen William, auch er kommt aus Irland. Die beiden verlieben sich und unternehmen während der Zeit der Werbung lange Spaziergänge durch die besseren Wohnviertel der Stadt.
"Ein gepflasterter, von Lavendelbüschen und Buchsbaum gesäumter Pfad führt von einem schwarzen schmiedeeisernen Tor zu einer großen Haustür mit einem Messingklopfer daran. Große Erkerfenster, Buntglas und schwere Vorhänge ohne Tüllgardinen. Eines Abends sind diese Vorhänge offen. 'Guck mal William', sagt Mona, als sie daran vorbeigehen. 'Das ist mal Luxus', sagt er. 'Finde ich auch.'
Feines Gespür für gesprochene Sprache
Ein solcher Blick auf großen Wohlstand, der niemals erreichbar sein wird, markiert die sozialen und ökonomischen Grenzen der Welt, in der Mona und William einander kennen- und liebenlernen. Gestützt wird diese Mileuschilderung von dem Gehör der Autorin für Dialoge und für die gesprochene Sprache. Besonders hervorzuheben ist das sanfte, geschwätzige Parlando zweier Tanten, die später aus Irland anreisen. Das irische Englisch, das Hibernian English liegt hörbar auch unter dem deutschen Text, hier ist die Übersetzung von Katharina Naumann zu würdigen, sie hat auch schon Kit de Waals Erstling übertragen.
Die beiden Tanten, sie tragen die Spitznamen Pestilenz und Hungersnot, werden als alte Jungfern gezeichnet, sie kommen direkt aus dem Figurenbestand der irischen volkstümlichen Literatur. Bei aller Komik tragen sie das Herz am rechten Fleck.
"Hungersnot schiebt sich langsam ins Zimmer. Sie trägt noch immer ihr Kopftuch, ihr rundes Gesicht ist ganz weiß und voller Sorge. Mona setzt sich auf. 'Wo kann er denn sein? Irgend etwas ist geschehen, das weiß ich. Er war voller Blut.' Pestilenz zieht die Augenbrauen hoch. 'Aber er ist aufrecht gegangen, oder? Dann lebt und atmet er. Er kommt schon wieder, wenn er sich beruhigt hat. Ganz sicher', fährt sie fort, und Mona hört deutlich die Angst und den Zweifel aus ihrer Stimme heraus."
Bombenanschläge der IRA erschüttern das Land und Monas Ehe
Man schreibt inzwischen das Jahr 1974. Zwei Jahre sind Mona und William bereits verheiratet, als ihr junges Glück durchbrochen wird. An dem Tag, an dem Mona eine totgeborene Tochter zur Welt bringt, erschüttern zwei Bombenanschläge der IRA die Stadt Birmingham. 21 Menschen werden getötet, 182 verletzt. William ist einer von ihnen. Schwer traumatisiert verschwindet er erst kurz, dann dauerhaft aus Monas Leben. Die Frage, was aus William geworden ist, und auch die Frage, ob und wie die inzwischen gealterte Mona ihren enormen Verlust überwinden wird, halten den in Gegenwart und Rückblenden erzählten Roman in Fluss. Der Titel des Romans, "Die Zeit und was sie heilt", bezieht sich auf eine Lebensweisheit, die der inzwischen ebenfalls verstorbene Vater seiner kleinen Tochter Mona einst gegeben hat:
"Es gibt da einen Trick mit der Zeit. Man kann sie ausdehnen und zusammenziehen. Man kann sie länger oder kürzer machen."
Es gehört zum Versprechen der hier vorliegenden Genreliteratur, dass alte Wunden heilen dürfen, dass alles gut werden wird. Es liegt allein an der Heldin, den entscheidenden Dreh zu finden. Mona muss an dem Verlust reifen, wie schon viele starke Frauen der Weltliteratur vor ihr.
All das ist versiert erzählt, mit einem gerundeten Spannungsbogen und einem gelungenen Überraschungsmoment. Alle Gefühle, die gezeigt und erzeugt werden, sind groß, deutlich und ungetrübt. Hin und wieder kippt diese Eindeutigkeit des Textes, aus Gefühl wird Sentiment und der Kitsch wartet in den Kulissen. Insbesondere sollte dringend vermerkt werden, dass junge Männer in der Literatur keine irischen Balladen singen dürften, auch wenn sie das in der Welt da draußen ganz hervorragend tun. Die Sonne geht ja auch über Capri unter und Gondeln gleiten durch die schmalen Kanäle von Venedig, alles Dinge, über die man lieber nichts lesen will. Doch jenseits dieser Kitschmomente ist Kit de Waal zum zweiten Mal ein souveräner und herzerwärmender Auftritt zu bescheinigen.
Kit de Waal: "Die Zeit und was sie heilt"
Aus dem Englischen von Katharina Naumann, Rowohlt, Hamburg, 392 Seiten, 22 Euro