Liminski: Kann denn das Europaparlament den Beitritt gegen das Votum der Staatschefs und der Kommission verhindern?
Posselt: Das Europaparlament kann das ohne Weiteres. Die Frage ist nur, wie die Mehrheitsverhältnisse sich entwickeln. Wir haben im Moment keine Mehrheit gegen einen Beitritt der Türkei im europäischen Parlament, weil auch da findet dieses Spiel statt, dass man sich immer hinter dem jeweils anderen versteckt. Aber ich glaube auch, dass wir im Moment keine qualifizierte Mehrheit für einen Beitritt hätten. Das Problem ist nur, sie ist zwar vom Vertrag her vorgeschrieben, aber diese Abstimmung wird in der Regel erst am Ende des Verhandlungsprozesses durchgeführt. Ich befürchte, man spielt jetzt folgendes Spiel: Die alte Kommission macht schnell noch ein Gefälligkeitsgutachten, das Herr Verheugen verantwortet. Der Rat sagt schnell "Ja" im Dezember, weil er behauptet, er kann am Kommissionsvotum nicht vorbei - dabei könnte er das ohne Weiteres -, und dann wird das Kind auf die Rutschbahn gesetzt, und wenn es dort mal sitzt, ist die Gefahr relativ groß, dass es rutscht, und es ist relativ schwer, es noch einmal zu stoppen.
Liminski: Gibt es denn noch eine Chance, dass der Türkeibeitritt gestoppt wird?
Posselt: Erstens könnte die Kommission noch ein wirklichkeitsgetreues Gutachten machen. Diese Tendenz könnte sich verstärken, wenn die Türkei weiterhin so ungeschickt vorgeht wie momentan. Dann könnte es doch noch zu einem kritischen Gutachten der Kommission kommen. Die Chance ist aber leider dank der Schönfärberei von Herrn Verheugen relativ gering. Es könnte dann zweitens dazu kommen, dass beim Gipfel im Dezember ein oder mehrere Mitgliedstaaten zumindest eine Verschiebung der Entscheidung beantragen. Sie wissen, es ist Einstimmigkeit vorgeschrieben beim Gipfel, das heißt, wenn ein einziger Staat nicht für die Aufnahme von Verhandlungen ist, dann findet das nicht statt. Es gibt schon Debatten in Frankreich, Österreich, Luxemburg und vielen anderen Mitgliedstaaten. Die dritte Möglichkeit wäre, dass während des Verhandlungsprozesses die Meinungsbildung innerhalb der EU sich so kritisch in Richtung Türkei intensiviert oder Verhandlungsprozess sich so kompliziert, dass es doch noch nicht in Richtung Vollmitgliedschaft, sondern in eine andere Richtung gelenkt werden kann bei den Verhandlungen. Die vierte und letzte Chance ist natürlich, dass das Europaparlament ganz am Schluss der Verhandlungen noch "Nein" sagen kann oder auch eben ein Einflussstaat beziehungsweise auch eine Volksabstimmung, aber ich sage ganz klar, darauf sollte man sich nicht verlassen. Man sollte versuchen, so schnell wie möglich zu verhindern, dass der Zug in die falsche Richtung fährt.
Liminski: Was für Alternativen sehen Sie denn zu einem Beitritt? Es ist ja unbestritten, dass die Türkei auch eine sicherheitspolitische Funktion für den Westen hat und man deshalb eigentlich nicht auf sie verzichten kann.
Posselt: Zunächst mal vermisse ich an der ganzen Debatte eine ausreichende Befassung mit dem, was die EU ist und was sie sein soll. EU bedeutet doch im Grunde, dass das Ausland weitgehend zum Inland wird. 60 Prozent der Gesetze, die bei uns in Kraft treten, werden bereits in Straßburg und in Brüssel gemacht. Das heißt EU, und diese EU soll ja noch weiter integriert werden durch den Verfassungsvertrag, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik. Es ist eine supranationale Rechtsgemeinschaft, und eine solche supranationale Rechtsgemeinschaft kann nicht als jetzt zweitstärksten und in einigen Jahrzehnten vielleicht sogar stärksten Mitgliedstaat ein nichteuropäisches Land wie die Türkei verkraften. Das würde die europäische Integration sprengen, und das weiß jeder, der mit dem Thema ehrlich umgeht. Eine Einbindung der Türkei durch einen maßgeschneiderten Spezialstatus, das ist vernünftig. Das stabilisiert die Türkei und erhält die Handlungsfähigkeit der EU.
Liminski: Bleiben wir mal bei dem Stichwort, dass Sie gerade gegeben haben, EU-Identität. Hans Gert Pöttering, der Vorsitzende der größten Fraktion im europäischen Parlament, die Europäische Volkspartei, der auch Sie angehören, sagt, durch einen Beitritt der Türkei wird das identitätsstiftende Band Europas zerstört. Was ist denn Ihrer Meinung nach dieses Band, oder würden Sie die Identität Europas nur religiös definieren? Man wirft Ihnen und Ihrer Partei ja gelegentlich vor, Sie wollen einen christlichen Club aufmachen.
Posselt: Man muss zunächst sagen, das mit dem christlichen Club ist ein Kampfbegriff, den ein früherer türkischer Ministerpräsident entwickelt hat, um quasi mit der Brechstange den Beitritt seines Landes herbeizuführen. Helmut Kohl hat ja 1997 dafür gesorgt - das wird immer wieder vergessen oder auch falsch dargestellt -, dass die Türkei nicht den Kandidatenstatus erhalten hat beim Gipfel von Luxemburg, sondern nur in die so genannte Europakonferenz aufgenommen wurde. Da hat der damalige türkische Premier gesagt, die EU versteht sich offenbar als Christenclub. Dann sind einige fürchterlich erschrocken und haben gesagt: "Aber wir wollen doch kein Christenclub sein." Nun muss ich sagen, ohne Christentum und ohne christliche Prägung wäre Europa nicht entstanden und ist Europa undenkbar. Das heißt nicht, dass es nicht in Europa immer eine muslimische Komponente gegeben hat. Zum Beispiel Bosnier und Albaner, die auch mehrheitlich Muslime sind, sind eindeutig Europäer. Es gibt auf der anderen Seite christliche Völker und Staaten, die nicht europäisch sind. Das ist nicht das Problem, also rein die Religion, sondern die Frage ist die gemeinsame Kultur und die gemeinsame Geschichte, und die hat sich über Jahrhunderte und Jahrtausende in Europa entwickelt innerhalb bestimmter zum
Teil natürlich fließender Grenzen, zu denen aber die Türkei niemals gehört hat.
Liminski: Wäre denn die Frage eines Türkeibeitritts ein Referendum Wert?
Posselt: Also ich persönlich bin der Meinung, dass jeder Staat nach seiner Verfassung handeln sollte. Ich persönlich bin kein Anhänger einer Änderung des Grundgesetzes in Richtung Referendum. Aber wenn es dazu kommen sollte, dann wäre das Thema, über das man auf jeden Fall abstimmen sollte, der türkische EU-Beitritt, und eines sage ich ganz klar, in Frankreich zeichnet sich deutlich eine Entwicklung ab, dass der Verfassungsvertrag auf keinen Fall erfolgreich dort eingenommen wird, wenn er belastet wird gleichzeitig mit einem Verhandlungsmandat an die Türkei. Es mehren sich in Frankreich die Stimmen, die sagen, "Ja" zum Verfassungsvertrag, aber vorher muss ein "Nein" zum türkischen EU-Beitritt. Es ist eine spannende Debatte, die da in Frankreich stattfindet.
Liminski: Vielen Dank für das Gespräch.