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Klaviermusik von Alberto Posadas
Spuren der musikalischen Erinnerung

Der spanische Komponist Alberto Posadas durchleuchtet das Klavierrepertoire zwischen Barock und dem 20. Jahrhundert, um daraus eigene Entwürfe mit spezifischen Klängen und Gesten für sein Instrument zu entwickeln. Florian Hölscher hat den umfassenden Zyklus "Erinnerungsspuren" auf CD eingespielt.

Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre |
    Komponist Alberto Posadas und Pianist Florian Hölscher stehen nebeneinander
    Komponist Alberto Posadas (links) und Pianist Florian Hölscher (rechts) (Marija Bokor)
    Musik 1: Alberto Posadas - "Anklänge an François Couperin" aus "Erinnerungsspuren"
    "Es geht mir nicht darum, in meiner Komposition explizite Bezüge zur Vergangenheit herzustellen. Im Gegenteil: Die neuen Stücke verstehe ich eher als Erinnerungsspuren eben jener Konzepte, die sich in meinen Augen aus dem historischen Repertoire herauslesen lassen" - so Albertos Posadas über sechs Klavierstücke, die er für den Pianisten Florian Hölscher zwischen 2014 und 2018 komponiert hat.
    Mit diesem Zyklus, der als Ersteinspielung beim Label WERGO erschienen ist, wollte Posadas bekanntes Klavierrepertoire aus eigener Perspektive neu lesen und damit vor allem Fragen an die einzelnen Werke und ihre unterschiedlichen Konzeptionen stellen. In den Blick genommen hat er dafür Klavierwerke aus verschiedenen Epochen, die aus einer jeweils individuellen musikalischen Sprache leben. Anhand dieser Kompositionen sucht er nach charakteristischen Momenten, die er aufgreift, um den Werken über eigene Bearbeitungen zu einer anderen Lesart zu verhelfen.
    2014 widmet sich Posadas zunächst dem Klavierwerk von François Couperin und befragt dessen Formen der Ornamentik hinsichtlich Essenz und Notwendigkeit. Für Posadas schafft diese erst die Dynamik und Flexibilität, um den Strukturen in Couperins Musik Lebendigkeit zu verschaffen. Er entwirft nach eigenen Aussagen eine Musik, in der Fluss und Dynamik aus verschiedenen Arten von Ornamenten entstehen. Sie sind in das musikalische Material eingebettet und gewinnen im weiteren Verlauf immer mehr an Bedeutung. So entsteht eine Art Rollentausch, denn das Ornament wird irgendwann selbst zum Material und das Material zum Ornament.
    Der Pianist bewegt sich nicht nur in abrupten Wechseln zwischen hohen und tiefen Lagen, sondern entwickelt teilweise geräuschhafte Klänge, indem diverse Spachtel zum Einsatz kommen, die zu einer klanglichen und rhythmischen Bereicherung beitragen.
    Musik 2: Alberto Posadas - "Anklänge an François Couperin" aus "Erinnerungsspuren"
    Spiel mit Simulation
    Das Phänomen der Erinnerung beschreibt Posadas als einen kreativen Moment, weil man einen Teil der tatsächlichen Information vergesse und dem etwas hinzufügt, von dem man glaubt , es sei tatsächlich geschehen. Sein Anliegen ist es, Brücken in die Vergangenheit zu bauen. Mit jeder Komposition für den vorliegenden Zyklus greift Posadas auf eine andere Erinnerungsquelle zurück, die er nur in Anklängen wiedererkennbar macht, vor allem aber selbst bearbeitet.
    Claude Debussy kreiert durch seinen Umgang mit dem Klavier in dem Stück "La cathédrale engloutie" für Alberto Posadas eine sehr spezielle Art des akustischen Raums.
    Die Klangquelle scheint nicht wirklich eindeutig und wirkt diffus, was er zum Ausgangspunkt seiner Anklänge an die Komposition nimmt und notiert dazu: "Beim Hören manifestiert sich die Vorstellung eines Instruments, das sich unter Wasser befindet. Dieses gedankliche Bild habe ich zum Mittelpunkt meines Stückes gemacht. Es ist die Idee der Simulation eines unwirklichen Klaviers, der einen neuen akustischen Raum entstehen lässt."
    Musik 3: Alberto Posadas - "La cathédrale engloutie" aus "Erinnerungsspuren"
    Alberto Posadas bekommt seine erste musikalische Ausbildung im spanischen Valladolid, wo er 1967 geboren wird. Später studiert er in Madrid bei Francisco Guerrero Komposition. Als Komponist sucht er Inspiration immer wieder in anderen Disziplinen wie Mathematik oder naturwissenschaftlichen Ereignissen. Aber auch Bildende Kunst und Literatur prägen seine kompositorische Welt. Zudem sucht er in Instrumenten bevorzugt nach akustischen Möglichkeiten, die sich im mikroskopisch kleinen Bereich bewegen. Vor diesem Hintergrund versucht er sein kompositorisches Material zu generieren. Neben Stipendien u.a. am Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg ist Posadas immer wieder Gast bei internationalen Festivals für zeitgenössische Musik.
    Virtuose Instabilität
    Im Rahmen seiner sechsteiligen Hommage an das Klavier erinnert Posadas auch an Robert Schumann. Als Vorlage diente ihm hier das "Presto Passionato" aus der Sonate Nr. 2 op. 22, in der vom Interpreten Passagen höchster Virtuosität bewältigt werden müssen. Posadas interessierte hier das Phänomen der rhythmischen Verschiebungen, die Hemiolen entstehen lassen und damit ein Gefühl von Unbeständigkeit und Instabilität bewirken.
    Florian Hölscher wird in diesem Zyklusteil mit dem technisch anspruchsvollsten Stück konfrontiert, denn er hat u.a. ständig variierte Doppelgriffe in rascher Abfolge zu bewältigen. Dem Hörer bleibt ein "pianistisches Feuerwerk, das an seine Initialzündung Schumann direkt anzuknüpfen scheint" - so Lydia Jeschke im sehr informativ begleitenden Booklet.
    Musik 4 Alberto Posadas - "Anklänge an Robert Schumann" aus "Erinnerungsspuren"
    Pianist Florian Hölscher studierte bei Robert Levin, Michel Béroff und Pierre-Laurent Aimard in Freiburg, Paris und Köln. Solo- und Kammermusikwerke aus dem 17. bis 21. Jahrhundert zeichnen sein Repertoire. Zudem arbeitet er intensiv mit zeitgenössischen Komponisten zusammen, u.a. Marco Stroppa und Jonathan Harvey. Neben reger Konzerttätigkeit auf internationalen Podien blickt Hölscher auf eine umfangreiche Diskographie. Als Gründungsmitglied des Stuttgarter Ensemble ascolta hat er regelmäßig Auftritte bei Festivals zeitgenössischer Musik.
    "Die Idee der Transformation eines Klangs, nachdem er bereits produziert ist, lieferte mir die gedankliche Vorlage für Anklänge an Aitsi" - so Alberto Posadas über seine Erinnerungsspur, die zum italienischen Komponisten Giancinto Scelsi führt. In seinem Klavierstück modifiziert Scelsi die vom Pianisten gespielten Akkorde mittels elektronischer Verzerrung. Die jeweilige Härte des Anschlags bestimmt die Dichte eines Akkordes, dessen Nachhall unterschiedlich gefiltert wird. So entstehen neue komplexe Klanggebilde, zu denen sich ganz vereinzelt sogenannte Parasitenklänge mischen.
    Diese Ausgangssituation hat Posadas für seine Lesart des Werkes genutzt und für den Pianisten eine Art Choreographie geschaffen, in der er einen Parcours zu absolvieren hat. An der Rückseite des Flügels beginnend, arbeitet er sich langsam um das Instrument herum bis hin zur Tastatur. Dabei werden nacheinander verschiedene, genau definierte Zonen oft ergänzt durch Papier, Spachtel, Fahrradschlauch, Superball, Stimmgabeln, einen im Klavier versteckten Sinusgenerator und einen multi-speed-Vibrator. Diese Klangerweiterung initiiert beim Hören eine faszinierende Sogwirkung. Am Ende dieser detailreich auskomponierten Reise nimmt der Pianist vor der Tastatur Platz, aber Florian Hölscher sagt, dass "die Tasten dann nicht mehr dieselben wie vorher sind".
    Musik 5: Alberto Posadas - "Anklänge an 'Aitsi'" aus "Erinnerungsspuren"
    Verschiebungen der Wahrnehmung
    Die Erschaffung subtiler Klangräume bestimmt auch Posadas’ Begegnung mit Karl-Heinz Stockhausen und dessen "Klavierstück IX". Im Mittelpunkt des Interesses steht die Wiederholung, die als Mechanismus der Veränderung von Wahrnehmung und des Gedächtnisapparats funktionieren kann. Statt weiträumiger Tonbewegungen wird eine Akkord mit vier Tönen am Beginn über 180 Mal angeschlagen und erfährt in seiner scheinbaren Monotonie dennoch Veränderung, wird aber am Ende nur noch als sanfte Vibration wahrgenommen. Posadas richtet in seiner Variante der Erinnerung den Fokus auf die Veränderung der Wahrnehmung von Material, wenn sich Dynamik, Zeit und Artikulation nur in minimalen Nuancen wandeln oder verschieben.
    Für seine Bearbeitung wählt Posadas diesmal nur die Tasten und beschränkt sich bewusst auf die Materialgrundlage der Akkorde. Er wechselt die Lagen der Akkorde und deren Anzahl sowie die Veränderungsmöglichkeiten des Pedals. Die Ohren des Hörers werden dennoch verführt, denn "es reicht eine changierend wiederholte kleine Sekunde in mittlerer Lage, um den Eindruck von Vielfalt zu erzeugen", so der Kommentar im Booklet.
    Musik 6: Alberto Posadas - "Anklänge an Stockhausen" aus "Erinnerungsspuren"
    Am Ende fällt der Blick auf den letzten Anklang im Klavierzyklus von Posadas und dieser gilt dem vierstimmigen Werk "Monologe" von Bernd Alois Zimmermann. Ein Werk, das selbst über die Suche finden wollte und Posadas kreative Impulse gab. Während Zimmermann Musikgeschichte zitiert, versucht er weiterzuführen. Für ihn liegt in dem Stück einerseits eine Erinnerungsspur seines Werkes "Dialoge" für zwei Klaviere und großes Orchester, andererseits umfasst es etliche Zitate aus Werken anderer Komponisten.
    Für Posadas haben sich mit dieser Komposition etliche Fragen ergeben u.a. "wie konstruiert das Gedächtnis die Vergangenheit, wenn zur gleichen Zeit eine Gegenwart entsteht, die wiederum in der Zukunft erinnert werden wird?"
    Musik 6: Alberto Posadas - "Anklänge an B. A. Zimmermann" aus "Erinnerungsspuren"
    Alberto Posadas - "Erinnerungsspuren"
    Florian Hölscher, Klavier
    WERGO