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Kleiner Grenzverkehr nach Polen

Jedes Wochenende überqueren mehr Menschen die Grenze zwischen der russischen Enklave Kaliningrad und Polen. Grund ist ein Abkommen über den sogenannten kleinen Grenzverkehr. Die Menschen auf beiden Seiten dürfen die Region auf der anderen Seite der Grenze ohne Visum besuchen.

Von Florian Kellermann | 28.11.2012
    Die Galeria Baltycka ist eines der größten Einkaufszentren in Danzig - vier Ebenen, über 200 Läden und sieben Tage pro Woche geöffnet. Vor allem am Samstag und am Sonntag ist hier viel los - die Tische vor den Schnellrestaurants sind alle besetzt. Seit August wird der Andrang immer größer, immer mehr Menschen aus Kaliningrad kommen hierher. So auch Denis, ein 24-jähriger Transportunternehmer, der mit seiner Freundin eine Pause eingelegt hat.

    "Wir kommen jetzt einmal im Monat, manchmal auch zweimal. Es ist ja nicht weit, gerade einmal 180 Kilometer. Und hier ist alles billiger, Kleider, Lebensmittel, einfach alles, und noch dazu ist die Qualität besser."

    Nicht nur die Einkaufsmöglichkeiten locken die beiden an. Denis schwärmt generell für das Nachbarland.

    "Wir schlendern gerne durch die Altstadt, ja, schon die Fahrt auf polnischen Straßen ist ein Erlebnis. Hier entwickelt sich alles viel schneller als bei uns, weil es keine Korruption gibt. Bei uns haben sie drei Jahre gebraucht für 30 Kilometer Schnellstraße - und die ist auch noch voller Löcher. Bei uns stehlen die Funktionäre, und hier geht es ehrlich zu, das ist der Hauptunterschied."

    Als Polen vor fünf Jahren dem Schengener Abkommen beitrat, musste es zugleich strengere Visaregeln für die Nachbarn im Osten einführen. Vor allem für die Bewohner der Grenzregionen war das ein Rückschlag. Doch die Zeiten haben sich geändert. Bereits im vergangenen Jahr hat Polen mit Weißrussland und der Ukraine einen Vertrag über den sogenannten kleinen Grenzverkehr geschlossen. Die Menschen dürfen sich in den Grenzgebieten ohne Visum frei bewegen.

    Das Abkommen mit Russland hat jedoch viel größere Bedeutung: Es gilt für das gesamte Kaliningrader Gebiet und in Polen auch für das Städte-Dreieck Danzig - Zoppot - Gdingen, insgesamt also für über 1,6 Millionen Menschen. Außerdem ist das kleine Kaliningrader Gebiet von EU-Staaten umschlossen - im Süden von Polen, im Osten von Litauen. Die Kaliningrader fühlten sich nun wie befreit, sagt Vasilij, 30 Jahre alt, der mit seiner Frau an der Mottlau spazieren geht.

    "Die Polen sind Slawen wie wir. Es war doch unnatürlich, dass wir getrennt waren. Ja, es gibt immer wieder politische Probleme zwischen Warschau und Moskau. Aber die Menschen betrifft das nicht. Die verstehen sich."

    Politische Probleme gibt es in der Tat viele. Die Polen klagen über den zu hohen Preis für russisches Gas, Russland protestiert gegen die Stationierung von NATO-Raketen im Nachbarland.

    Aber auch die Kommunalpolitiker haben keine Berührungsängste. Die Stadt Danzig stellte Hinweisschilder auf Russisch auf, der Bürgermeister lud eine Delegation aus Kaliningrad zum polnischen Unabhängigkeitstag ein. Längst vergessen sind die Bedenken, der kleine Grenzverkehr würde vor allem Kleinkriminelle anlocken. Es ist genau umgekehrt: Gerade kaufte ein Kaliningrader Geschäftsmann der Stadt Danzig ein verfallenes, aber denkmalgeschütztes Haus an der Mottlau ab, für das sich sonst niemand interessierte. Die Danziger reiben sich verwundert die Augen: Die russischen Nachbarn sind offenbar viel reicher als sie dachten. Damian Kownacki, ein 26-jähriger Schlosser:

    "Die Händler freuen sich. Ich finde es fast schon beängstigend, dass ich überall Russisch höre. Im Sommer wird es in der Fußgängerzone wahrscheinlich gar kein Durchkommen mehr geben."

    Immer mehr Kaliningrader denken darüber nach, sogar nach Danzig zu ziehen. Alexej Andrejewitsch, ein 31-jähriger promovierter Psychologe, hat es schon getan. Sonntags singt er im Chor der orthodoxen Gemeinde von Danzig - und wochentags arbeitet er bei einer Personalberatung. Das Abkommen über den kleinen Grenzverkehr reichte dafür natürlich nicht aus, sein Chef beantragte eine Arbeitserlaubnis für ihn.

    "Das Interesse wächst auf beiden Seiten. Meine polnischen Arbeitskollegen fragen mich, wie sie an so ein Kärtchen für den kleinen Grenzverkehr kommen. Natürlich gibt es auch viele, die in Russland nur einmal volltanken wollen, weil das Benzin dort die Hälfte kostet."

    Inzwischen ist auch beim Arbeitsamt in Danzig die erste Stellenausschreibung aus Kaliningrad eingetroffen. Gesucht wird eine Chefin oder ein Chef für die größte Bäckerei des russischen Bezirks. An der Ostsee, so scheint es, gelingt im Kleinen das, was im Großen immer wieder scheitert: Polen und Russen kommen sich näher.