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Klimaneutral leben
"Ich möchte keine ökologischen Schulden hinterlassen"

Kein Auto mehr fahren, kein Fleisch mehr essen: Der Aachener Unternehmer Dirk Gratzel hat sich vorgenommen, so klimaneutral wie möglich zu leben. Das bringe zwar gewissen Einschränkungen mit sich, sagte er im Dlf. Er habe aber andere Dinge gewonnen, die sein Leben insgesamt bereichern.

Dirk Gratzel im Gespräch mit Philipp May |
    Collage von umweltfreundlichen Symbolen und Menschen mit einem CO2-Fußabdruck
    Dirk Gratzel versucht, das Klima so wenig wie möglich zu schädigen. (imago / Ikon Images)
    Philipp May: Die ganz heißen Tage, die sind mittlerweile vorbei. Doch dieser Sommer, der wird in Erinnerung bleiben: Rekordhitze, Rekorddürre. Die überwältigende Mehrheit der Klimaforscher, die ist sich einig: Das sind keine statistischen Ausreißer mehr. Das Weltklima verändert sich. Noch besser übrigens abzulesen als an den Ernteausfällen deutscher Landwirte ist das an dem rasanten Schwund des Eises am Nordpol.
    Die Welt muss schleunigst umsteuern, um die Erderwärmung zumindest noch auf einigermaßen kontrollierbare zwei Grad Celsius zu begrenzen. Wir schauen da ja meistens auf die Politik, Stichwort Kohleausstieg oder Energiewende. Aber Dirk Gratzel will so lange nicht warten. Gratzel ist ein erfolgreicher Unternehmer aus Aachen, der sich in den Kopf gesetzt hat, so klimaneutral wie möglich zu leben. Das heißt: Wenn er stirbt, soll seine Ökobilanz ausgeglichen sein. Guten Morgen, Herr Gratzel.
    Dirk Gratzel: Guten Morgen, Herr May.
    "Ich möchte keine ökologischen Schulden hinterlassen"
    May: Herr Gratzel, wir wissen es ja im Prinzip alle: Wir leben auf Kosten nachfolgender Generationen. Wann hat es bei Ihnen Klick gemacht, dass Sie gesagt haben, ich muss was ändern bei mir selbst?
    Gratzel: Es war kein klassischer Erweckungsmoment. Ich habe fünf Kinder und führe natürlich mit meinen Kindern und mit Freunden, auch mit anderen Unternehmern viele Gespräche über Nachhaltigkeit und Ökologie. Aus dem Diskutieren und natürlich auch dem Beobachten, was in der Welt passiert, kam irgendwann die Entscheidung, die ich gar nicht so spektakulär fand: Ich möchte, wenn ich diesen Planeten eines Tages verlasse, keine ökologischen Schulden hinterlassen, die dann meine Kinder oder kommende Generationen abarbeiten, sondern ich möchte gerne sterben mit einer doch zumindest mal ausgeglichenen ökologischen Bilanz.
    Die Entscheidung war eigentlich unspektakulär. Dass es dann doch aufwendiger war, mich auf den Weg zu machen, als ich das ursprünglich dachte, das hatte ich natürlich nicht einkalkuliert.
    May: Sie sprechen es schon an: Das ist dann doch ziemlich aufwendig gewesen. Das heißt, wie sind Sie dann vorgegangen?
    Gratzel: Ich habe zunächst mal versucht, bei Umweltverbänden und Einrichtungen wie zum Beispiel dem Umweltbundesamt einen Plan dafür zu bekommen. Ich habe E-Mails geschrieben und telefoniert.
    May: Wie lebt man klimaneutral?
    Gratzel: Genau.
    May: Was heißt das eigentlich genau?
    Gratzel: Was muss ich machen, um meine Ökobilanz auszugleichen? Und ich dachte, irgendjemand kommt und sagt, hier ist unser Konzept, setzen Sie es um und alles ist gut. Aber leider war die Realität dann doch weit davon entfernt.
    Dirk Gratzel will seine persönliche Ökobilanz verkleinern.
    Dirk Gratzel will seine persönliche Ökobilanz verkleinern (Micha Beckers)
    May: Das heißt? Wie sind Sie letztendlich fündig geworden?
    Gratzel: Ich habe ein eigenes Projekt ins Leben gerufen mit den Wissenschaftlern im Bereich Nachhaltigkeit an der TU in Berlin, die das Projekt oder das Vorhaben sehr spannend fanden und sich bereit erklärt haben, mich zu unterstützen mit sehr, sehr viel Arbeit und hoher Fachkompetenz. Das Team von Professor Finkbeiner ist, ich glaube, international auch renommiert im Bereich Nachhaltigkeit, hat meine bisherige Ökobilanz ermittelt und überprüft, inwieweit erste Optimierungsmaßnahmen, die ich jetzt umgesetzt habe, helfen, den laufenden ökologischen Fußabdruck zu reduzieren, und werden jetzt in einem dritten Schritt ein Konzept erarbeiten, was ich tun muss, aktiv tun muss, um den Schaden in verschiedenen Kategorien wiedergutzumachen.
    "Ich habe angefangen, meine Unterhosen zu zählen"
    May: Wie haben die erst mal Ihre Ökobilanz ermittelt? Das war ja nicht ganz unaufwendig.
    Gratzel: In der Tat! Nichts, was zur Nachahmung empfohlen ist. Ich habe über mehrere Monate mein Leben minutiös in den Bereichen Wohnung, Energieverbrauch, Ernährung, Mobilität, Konsum und Freizeitverhalten dokumentiert. Jede Tasse Kaffee, jedes Glas Wasser, jeder Waschgang, jeder Socken, den ich mir gekauft habe, wurden minutiös erfasst in verschiedenen Kategorien. Dazu habe ich mein gesamtes materielles Vermögen, meinen gesamten Besitzstand dokumentiert.
    Das heißt, ich habe an einem Samstagmorgen um neun Uhr meine erste Schublade geöffnet und angefangen, meine Unterhosen zu zählen, meine T-Shirts, herauszufinden, wo die herkommen, woraus sie bestehen, wie lange ich sie benutze und wie sie produziert worden sind, und das über alles in meinem Haushalt. Das war bei weitem mehr, als ich befürchtet hatte, und das war eine ausgesprochen aufwendige Übung. Die hat mich, glaube ich, drei oder vier Wochenenden gekostet. Es ist nicht zur Nachahmung empfohlen, wirklich nicht.
    May: Nichts desto trotz, am Ende ist ein Ergebnis herausgekommen. Wie sah das aus?
    Gratzel: Erwartungsgemäß beeindruckend schlecht. In meinem bisherigen Leben habe ich ungefähr - nur als Beispiel - 1.175 Tonnen CO2 emittiert. Das ist mehr, als ein durchschnittlicher 50-Jähriger das normalerweise tut - nicht viel, aber doch einiges mehr. Wenn man das in einen Güterzug umrechnet, dann sind das ungefähr 30 riesengroße Loren voll Trockeneis.
    Ich habe etwa 600 Kilo Phosphat in Gewässer eingebracht durch Reinigungsmittel, durch Waschmittel, durch Kosmetika. Viel Versauerungspotenzial, Schwefel- und Stickoxid-Verbindungen in die Luft gebracht und zur Ozonbildung beigetragen. Es wird nicht ganz einfach werden, das alles wieder zu eliminieren.
    "80 Prozent Zug oder öffentliche Verkehrsmittel"
    May: Das heißt, was müssen Sie jetzt machen beziehungsweise wie haben Sie Ihr Leben umgestellt, um das zu schaffen?
    Gratzel: Ich habe insgesamt 65 Maßnahmen umgesetzt. Ich habe meine Ernährung als ein Beispiel auf vegetarisch bis vegan umgestellt. Vegan ist nicht immer ganz leicht durchzuhalten. Ich habe das Thema Mobilität völlig neu für mich entdeckt und definiert, meinen doch großvolumigen SUV abgegeben, fahre jetzt, wenn ich überhaupt noch fahre, einen Hybrid, in der Regel elektrisch bis zum Bahnhof. 80 Prozent meiner Mobilitätsanforderungen mache ich mit dem Zug oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
    Ich habe mein Fahrrad aus der Garage geholt, repariert und zu einem nicht täglichen, aber regelmäßigen Begleiter gemacht. Ich habe in meinem Haus die Fenster ausgetauscht, die Heizungsanlage überarbeiten lassen. Wir haben ein paar Dämmungsmaßnahmen ergriffen, da wo das möglich war. Ich konsumiere wenig bis gar nichts. Ich trage meine Klamotten deutlich länger. Ich achte in meiner Freizeit darauf, dass das möglichst wenig ökologisch belastend ist, was ich tue, und lebe insgesamt ein, ich würde sagen, konzentrierteres Leben - nicht sparsamer, das wäre falsch, sondern einfach konzentrierter und mit anderen Komponenten als vorher.
    May: Und wenn Sie doch mal sündigen? Was ist überhaupt sündigen? Was wäre eine große Sünde? Eine Flugreise wahrscheinlich zum Beispiel.
    Gratzel: Eine große Sünde wäre eine Flugreise. Flugreisen gibt es nicht mehr. Das Sündige hat ja auch immer etwas Verführerisches in sich, und die Dinge, auf die ich verzichte, die verführen mich nicht länger, denn ich habe andere Dinge dafür bekommen. Es ist kein calvinistisches Verzichtsprinzip, sondern es ist eine Veränderung im Leben.
    Ich brauche jetzt vielleicht etwas länger von A nach B, weil es mit dem Zug in der Regel tatsächlich länger dauert als mit dem Auto, aber dafür sitze ich im Zug, arbeite, lese, habe Zeit, bestimmte Kontakte zu pflegen, die ich vorher nicht pflegen konnte. Ich habe zwar die Schnelligkeit ein Stück weit verloren, aber dafür ganz andere Dinge gewonnen, die mein Leben insgesamt reicher machen.
    "Sie werden sich wundern, was für tolle Gerichte man essen kann, die ohne Fleisch funktionieren"
    May: Ich habe einen langen Artikel über Sie aufmerksam gelesen. Ich fasse mal zusammen: Bahn statt Auto, fliegen nicht mehr. Das ist der größte Posten. Kein Fleisch, wenig Milchprodukte, kein Plastik, viel Obst und Gemüse, aber nur saisonal und frisch und Bio. Sie kaufen viel weniger Klamotten, haben Sie gesagt. Das klingt jetzt alles nicht sonderlich massentauglich, auch wenn Sie natürlich sagen, Sie haben andere Sachen gewonnen.
    Gratzel: Ich glaube, dass die meisten von uns schon ein sicheres Gespür dafür haben, was ökologisch eher nachhaltig und was eher kurzfristig gedacht ist. Ich glaube, dass ein bisschen Experimentierfreude und Neugier uns einfach mit einer anderen Form der Lebensführung zusätzliche Komponenten fürs Leben schenken kann. Ich glaube nicht, dass eine allgemeine Verzichtsstrategie tatsächlich erfolgreich ist, aber erfolgreich könnte ein Leben sein, das uns bereichert um ein paar Komponenten, die im tagtäglichen Konsum vielleicht auch mal auf der Strecke bleiben.
    May: Aber das ist ja größtenteils eine Verzichtsstrategie, oder nicht?
    Gratzel: Ich esse ja in Summe nicht weniger als vorher; ich esse nur anders. Da ich gerne koche und durchaus auch bereit bin, das eine oder andere auszuprobieren, ist es zum Beispiel nett, im fortgeschrittenen Alter die eigenen Ess- und Kochgewohnheiten noch mal komplett zu überdenken. Sie werden sich wundern, was für tolle Gerichte man essen kann, die ohne Fleisch funktionieren.
    "Wir sind ja nicht alleine auf der Welt"
    May: Wenn jetzt alle Menschen in Deutschland Ihrem Beispiel folgen würden, würde das reichen, den Klimawandel zu begrenzen?
    Gratzel: Es wäre ein fulminanter Beitrag, den Klimawandel weltweit zumindest abzubremsen, denn das wissen Sie: Westeuropa gehört zu den Nationen, die den Treibhauseffekt am stärksten im Moment ungewollt vorantreiben. Stellen Sie sich vor, alle Deutschen würden ihr Leben so von Grund auf verändern oder anders justieren, welchen Effekt das natürlich auch im Ausland hätte. Wir sind ja nicht alleine auf der Welt und wir würden vielleicht ein gutes Vorbild für unsere Nachbarn geben. Wir würden die Ökonomie von Grund auf verändern, denn auf einmal wären andere Produkte gefragt. Ich glaube, wir sollten die Möglichkeiten, die wir haben, wirklich nicht unterschätzen.
    May: Wir schauen immer auf die Politik. Aber welche Schützenhilfe sollte die Politik leisten, dass es möglicherweise normaler wird, so zu leben wie Sie?
    Gratzel: Das was die Politik Sinnvolles tun kann, ist, den Verbraucher zu informieren, tatsächlich zum Beispiel über die ökologische Qualität einer Kaufentscheidung. Wenn ich im Supermarkt vor einem großen Regal stehe, finde ich mittlerweile viele Informationen über etwa den Kaloriengehalt und die Zusammensetzung der Lebensmittel, die mir offeriert werden. Aber ich finde keine Informationen zur ökologischen Qualität meines Produkts. Ich finde mit etwas Glück ein Biosiegel. Das war's.
    Aber welche der drei Obst- oder Joghurt-Sorten die ökologisch bessere wäre, das kriege ich nicht raus als Verbraucher. Wenn die Politik eine allgemeine Kennzeichnungspflicht für die ökologischen Aspekte von Produkten auf den Weg bringen würde, das wäre sehr hilfreich.
    May: Der Aachener Unternehmer Dirk Gratzel lebt so klimaneutral wie möglich und nimmt dafür einiges in Kauf. Aber, wie er sagt, er gewinnt auch einiges. Herr Gratzel, vielen Dank für das Gespräch.
    Gratzel: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.