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Klimaschutz
Journalist Christoph Podewils skizziert mögliche Energiewende

Der Wissenschaftsjournalist und Politikberater Christoph Podewils führt in seinem Buch „Deutschland unter Strom“ aus, wie die Energiewende seiner Ansicht nach gelingen kann. Dabei setzt er nicht auf Verzicht oder Selbstbeschränkung, sondern auf Technologieumbau.

Von Moritz Klein | 15.11.2021
Christoph Podewils: "Deutschland unter Strom. Unsere Antwort auf die Klimakrise"
Christoph Podewils gibt eine Orientierungshilfe zu Energiequellen in einem klimafreundlichen System (Foto: Gerda Bergs, Buchcover: C.H. Beck Verlag)
Beim Thema Energiewende wird oft mit angeblichen Sachzwängen und Machbarkeitsgrenzen argumentiert. Christoph Podewils will in seinem Buch zeigen, dass eine vollständig auf erneuerbaren Energien basierende Industriegesellschaft machbar ist. Dazu erklärt er im ersten Teil des Buchs die technologischen und ökonomischen Grundlagen – möglichst voraussetzungsfrei, um auch Leser:innen ohne großes Vorwissen die nötigen Informationen an die Hand zu geben, die Energiedebatten zu verstehen und mitzudenken. Zwei Hauptthesen liegen dem Buch zugrunde. Erstens:
"Eine Energie, die wir erst seit gut 100 Jahren in großem Maßstab nutzen, wird uns in die Zukunft führen – Elektrizität. Denn Strom können wir nicht nur klimafreundlich in so gut wie unendlichen Mengen aus Wind und Sonne erzeugen, sondern seit wenigen Jahren auch billiger als in konventionellen Kraftwerken. [...]
Die Frage, die wir beantworten müssen, [...] lautet daher stets: Wie können wir das Gleiche, was wir bisher mit Kohle, Öl und Erdgas erreicht haben, mit Strom schaffen? Wie lassen wir damit Autos und Lastwagen fahren? Wie Flugzeuge fliegen? Wie bekommen wir damit im Winter unser Haus warm? Wie verhütten wir damit Eisen?"

Elektrifizierung mit Erneuerbaren Energien

Der Autor setzt also weniger auf kulturelle Veränderungen des Lebensstandards und -stils, sondern primär auf technische Lösungen und strukturellen Umbau. Eine zweite große Elektrifizierung der Welt mache nicht nur aus Klimaschutzgründen Sinn. Das zentrale Argument, das das gesamte Buch durchzieht, ist Effizienz. Die Überlegenheit der Elektrizität sei bereits in den physikalischen Eigenschaften begründet: Bei fossilen Energieträgern und sonstigen Brennstoffen geht unweigerlich stets ein Großteil der aufgewendeten Primärenergie verloren, oft mehr als die Hälfte. Bei Strom dagegen lägen die Umwandlungsverluste nahe null:
"Vorausgesetzt, wir müssen nicht irgendeine Art von chemisch gebundener Energie wie Kohle, Gas und Öl, aber auch Mais, Holz und Wasserstoff einsetzen, um ihn zu produzieren."
Das läuft auf eine ganz klare Ansage hinaus: Die Hauptenergiequellen der Zukunft müssen (und werden) Wind und Sonne sein. Die zweite Grundthese des Buchs lautet:
"Alles, was wir brauchen, um die Erderwärmung aufzuhalten und gleichzeitig unser gewohntes Leben mit nur wenigen, nicht allzu großen Veränderungen weiterzuführen, haben wir schon längst: ein ganzes Regal voll Techniken und Methoden, die funktionieren, bezahlbar und erprobt sind."

Hemmfaktoren und Gegenargumente werden benannt

Zu den im ersten Teil des Buchs vermittelten "Grundlagen" gehört auch die Darstellung des Status quo von Infrastruktur, Recht und Politik – nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage, was die Umsetzung des technisch längst Möglichen auf Systemebene gegenwärtig noch verhindert. Der hier gebotene Überblick über die wichtigsten Hemmfaktoren und Gegenargumente ist als solcher schon eine wertvolle Orientierungshilfe. Podewils bezieht aber durchaus auch selbst Position, sachkundig, undogmatisch und zugleich stets sehr klar. Unbedingt lesenswert sind – ganz aktuell angesichts der Diskussionen um eine mögliche Einstufung von Gas- und Atomkraft als "nachhaltige Investitionen" oder der großartigen Erwartungen an das Wundermittel Wasserstoff – Podewils’ Ausführungen dazu, welche Rolle diese Energiequellen in einem klimafreundlichen Energiesystem sinnvollerweise spielen könnten – oder eben nicht.
"Wir müssen nicht darauf warten, dass irgendjemand eine Wundermaschine erfindet, um den Klimawandel zu bekämpfen."
Im zweiten Teil des Buchs stellt Podewils dann Konzepte vor, wie die vorhandenen technischen Bausteine zu einem funktionierenden Ganzen zusammengesetzt werden könnten. Denn das Hauptproblem, das sich uns heute stellt, ist die organisatorische Umsetzung auf Systemebene. Hier schweifen Podewils’ Ausführungen bisweilen ins Futuristische aus, auch dies aber gestützt auf seine profunde Sachkenntnis – und auf aktuelle Entwicklungen.

Zuversicht in Technologie und Planung

Der Leitgedanke ist auch hier Effizienzoptimierung. Funktionieren würde das, Podewils zufolge, mit einer Art smarter Kybernetik: digitale Vernetzung, dezentrale Infrastruktur, Flexibilisierung, KI-Management. Man hat aber nicht das Gefühl, hier die Vision eines Technokraten zu lesen – es ist eher Zuversicht in die planerische Vernunft und Kreativität der Menschen, die Podewils’ Optimismus speist. Und eine politische Fantasie, an der es hierzulande noch immer mangelt.
Das anvisierte Zielszenario ist letztlich eine tatsächlich zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien betriebene Industriegesellschaft. Auch die bei Dunkelflaute einspringenden Reserve-Gaskraftwerke etwa müssten dann lediglich auf Umwegen, quasi zeitversetzt, mit Wind und Sonne laufen. Podewils’ informationsreiche Argumentation, dass das machbar wäre, und der Versuch, immerhin auf dem Papier schon einmal möglichst konkret darzulegen, wie es gehen könnte, ist gerade jetzt, wo schon wieder laut darüber nachgedacht wird, eine vollständige Umstellung auf Erneuerbare gar nicht erst zu versuchen, von höchster Relevanz.
Christoph Podewils: "Deutschland unter Strom. Unsere Antwort auf die Klimakrise"
C. H. Beck Verlag, 253 Seiten, 16,95 Euro.