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Klimawandel
Die fehlende Auseinandersetzung

In der Wissenschaft ist der Klimawandel schon lange umfassend erforscht, in der Literatur wird er dagegen nur selten thematisiert. Warum das so ist, damit hat sich der indische Autor Amitav Ghosh beschäftigt. Herausgekommen ist das Buch "Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare".

Von Georg Ehring | 06.11.2017
    Buchcover "Die große Verblendung" von Amitav Gosh. rechts im Hintergrund eine Luftaufnahme der Marshall-Inseln
    Der Klimawandel entwickelt sich nach menschlichen Maßstäben zwar allmählich, doch er wirkt mit unerbittlicher Konsequenz, und er hat Folgen für viele Lebensbereiche. (Buchcover: Blessing Verlag, Hintergrundbild: dpa )
    Um rund ein Grad hat sich die Erdatmosphäre seit Beginn der systematischen Messungen Ende des 19. Jahrhunderts erwärmt - und das ist erst der Anfang. Die wirklich großen Klimakatastrophen dürften in der Zukunft liegen, das erwartet auch der indische Schriftsteller Amitav Ghosh.
    Und er fragt sich, wie die dann lebenden Menschen auf unsere Zeit zurückblicken werden, also die Epoche, in der die Probleme geschaffen wurden. Sie werden auch in der Literatur nach Berichten darüber suchen, wie die heute lebenden Menschen mit dem Klimawandel umgegangen sind, der den Meeresspiegel steigen ließ und später Weltstädte wie New York oder Bangkok unbewohnbar gemacht haben wird:
    "Und wenn sie keine finden, zu welchem anderen Schluss sollten - könnten - sie dann kommen als dem, dass die meisten künstlerischen Ausdrucksformen unserer heutigen Zeit in den Sog der Verschleierungsmethoden geraten waren, die uns daran hinderten, die Realitäten unserer Misere zu erkennen? Insofern ist es doch sehr wahrscheinlich, dass unsere Ära, die sich so gerne ihrer Selbsterkenntnis rühmt, als die Zeit der Großen Verblendung in die Geschichte eingehen wird."
    Die Literatur mache meist einen großen Bogen um den Klimawandel, und das findet Amitav Ghosh, der selbst als Autor von Romanen und Sachbüchern bekannt wurde, zunächst einmal erstaunlich. Er begibt sich auf die Suche nach Erklärungen und nimmt die Leser mit auf eine Reise - nicht nur durch die Literatur und ihre Geschichte, sondern weit darüber hinaus. Persönliche Erfahrungen und Erlebnisberichte über Naturkatastrophen kommen vor sowie der Umgang von Naturwissenschaft, Politik und Religion mit dem Thema.
    Garniert mit vielen Beispielen - wobei die oft von Unwettern und ähnlichen Katastrophen handeln - sie stammen auch aus vergangenen Epochen, in denen der Klimawandel noch gar nicht Thema war.
    Aus dem Blickwinkel des Südens
    Die Perspektive ist bewusst subjektiv aus dem Blickwinkel des Südens, mit Beispielen aus der Literatur des indischen Subkontinents und mit persönlichen Erlebnissen - etwa aus Delhi, wo Ghosh im Jahr 1978 einen Tornado erlebte:
    "Der Lärm steigerte sich schnell zu einem wilden Tosen, und der Sturm begann, heftig an meiner Kleidung zu zerren. Ich wagte einen Blick über die Brüstung und stellte zu meinem Erstaunen fest, dass alles um mich herum in einem aufgewühlten dunklen Staubmeer versunken war. In einem fahlen Lichtstrahl, der von oben eindrang, sah ich eine unglaubliche Palette an Gegenständen vorbeistürmen - Fahrräder, Motorroller, Laternenpfähle, Wellblechstücke, sogar komplette Teebuden. Binnen einer Sekunde schien sich alle Schwerkraft in einem Spinnrad versammelt zu haben, das von einer unbekannten Macht zwischen den Fingerspitzen herumgewirbelt wurde."
    Was das mit dem Klimawandel zu tun hat? Plötzlich passiert etwas, was eigentlich unvorstellbar war und das mit einer Wucht, die alles durcheinanderbringt. Der Klimawandel entwickelt sich nach menschlichen Maßstäben zwar allmählich, doch er sorgt für eine Häufung von Unwettern, er wirkt mit unerbittlicher Konsequenz, und er hat Folgen für viele Lebensbereiche. Die Erderwärmung an sich sei in der erzählenden Literatur vergleichsweise schwer zu schildern:
    "Das Wesen des Klimawandels setzt sich aus genau den Phänomenen zusammen, die vor Langem aus dem Territorium des Romans verstoßen wurden - aus Kräften von unvorstellbarer Gewalt, die unerträglich enge Verbindungen über unermessliche Zwischenräume in Zeit und Raum darstellen."
    Ghosh findet weitere Gründe, warum so wenige Schriftsteller vom Klimawandel schreiben. Er sei in seiner Langsamkeit schwer anschaulich zu schildern, doch vor allem werde er verdrängt in einer Welt, in der viele die Katastrophe nicht wahr haben wollen.
    Die Wüste Namib kann dem Klimawandel zum Opfer fallen.
    Die Wüste Namib kann dem Klimawandel zum Opfer fallen. (Imago / Westend61)
    Die "Climate Fiction" und leugnende Anglosphäre
    In der Literatur sind Erzählungen zu diesem Thema vor allem in der Science Fiction zu finden, die zwar von der etablierten Literatur kaum ernst genommen werde, aber das Genre "Climate Fiction" hervorgebracht habe:
    "Doch dabei handelt es sich meist um Katastrophenstorys, die in der Zukunft angesiedelt sind, und genau das ist für mich der Knackpunkt. Denn die Zukunft ist doch nur ein Aspekt des Zeitalters der menschengemachten globalen Erwärmung, dem nicht nur die jüngste Vergangenheit, sondern - für uns am entscheidendsten - auch unsere Gegenwart angehört."
    Ghosh bleibt nicht bei der Auseinandersetzung mit der Belletristik stehen, er weitet den Blick auf den Umgang von Sachbuch-Autoren und Journalisten mit dem Thema und kommt dann zur Politik. Der Fokus liegt dabei auf dem Gegensatz zwischen Nord und Süd. Stark geprägt werde die internationale Diskussion durch Veröffentlichungen aus den USA oder Großbritannien - für Ghosh die "Anglosphäre".
    So stark wie nirgends sonst wurde in dieser Weltregion die Ansicht verbreitet, dass die Verfolgung des eigenen Wohls der beste Weg sei, auch etwas für das Allgemeinwohl zu tun - die ökonomische Theorie von Kapitalismus und Freihandel. Weil Wohlstand bisher immer auch mit dem Ausstoß von Treibhausgasen zusammenfalle, passe der Klimawandel nicht in dieses Weltbild und werde entsprechend häufig geleugnet:
    "Der Klimawandel stellt die Idee der Freiheit, das vielleicht wichtigste politische Konzept der Neuzeit, vor gewaltige Herausforderungen. Und das ist nicht nur für die heutige Politik von zentraler Bedeutung, das ist auch für die Geisteswissenschaften und Künste von großem Belang."
    Die Perspektive nach dem Pariser Abkommen
    Aus der Perspektive des globalen Südens stellt Ghosh dagegen die Forderung nach globaler Gerechtigkeit: Wer das Problem maßgeblich verursacht habe, müsse mehr für seine Bewältigung tun. Die Bereitschaft des Nordens dafür sei gering, mit dramatischen Folgen:
    "Es versteht sich von selbst, dass Abermillionen von Menschen in Asien, Afrika und anderenorts dem Untergang geweiht sind, wenn die mächtigsten Nationen dieser Erde ausdrücklich oder unausgesprochen eine 'Politik des bewaffneten Rettungsboots' verfolgen. So unglaublich es auch klingt, aber eine solche darwinistische Vorgehensweise steht nicht im Widerspruch zur Ideologie des freien Marktes - deshalb haben die Staaten der Anglosphäre ja auch schon so langjährige Erfahrungen damit vorzuweisen."
    Wasserdampfschwaden steigen aus den Kühltürmen des Braunkohlekraftwerkes der Vattenfall AG in Jänschwalde (Brandenburg).
    Wasserdampfschwaden steigen aus den Kühltürmen des Braunkohlekraftwerkes der Vattenfall AG in Jänschwalde (Brandenburg). (picture alliance / dpa/ Patrick Pleul)
    Im letzten Teil seines Buches setzt sich der Autor ausführlich mit zwei Texten auseinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Dem Pariser Klimaabkommen und der Enzyklika "Laudato Si" von Papst Franziskus. Mit großer Skepsis gegenüber der Wirkung des Abkommens, das das Problem schon sprachlich verharmlose:
    "Ähnlich lauwarm bleibt die Konvention, wenn es um die Benennung der Zustände geht, denen sie Abhilfe schaffen soll. Während in der Enzyklika immer wieder der Begriff 'Katastrophe' auftaucht, ist in der Klimakonvention nur die Rede von 'nachteiligen Auswirkungen der Klimaänderungen'".
    Ghosh bezweifelt, dass Nationalstaaten, die naturgemäß Eigeninteressen in den Mittelpunkt stellen, die Klimakatastrophe abwenden können. Doch für einen Erfolg anderer Konzepte, etwa durch ein Zusammengehen von Weltreligionen und Bürgerbewegungen, sei es bereits reichlich spät, so dass das Fazit des Autors wenig optimistisch ausfällt.
    Bücher über den Klimawandel sind oft kompliziert und selten unterhaltsam. Und sie stellen oft Politik, Ökonomie und Physik in den Mittelpunkt, obwohl das Thema viele andere Facetten hat. Mit "Die Große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare" ist Amitav Ghosh ein Kontrapunkt hierzu gelungen.
    Insgesamt ein faszinierendes Werk, dem auch viele Schriftsteller und Dichter als Leser zu wünschen sind. Die könnten dann den Klimawandel aus ihrer eigenen, literarischen Perspektive verarbeiten und die Lücke schließen, die Amitav Ghosh zu Recht beklagt.
    Amitav Ghosh: Die Große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare.
    Blessing Verlag, 256 Seiten, 22,99 Euro