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Klosterstreit und Experimente der Naturkunde

Hildegard von Bingen gehört zu den bekanntesten Frauengestalten des deutschen Mittelalters. Sie wird seit dem 12. Jahrhundert als Heilige verehrt. Am 7. Oktober 2012 wird Papst Benedikt XVI. sie jetzt offiziell zur Kirchenlehrerin erheben.

Von Rüdiger Achenbach | 05.10.2012
    "Ungewöhnliche Nachrichten über eure Gewohnheit gelangten zu uns: Eure Ordensfrauen tragen beim Psalmsingen lange, gelöste Haare, sie hüllen sich in Gewänder aus Seide, die bis zum Boden herabfallen, auf dem Kopf tragen sie Kronen aus Gold und ihre Finger schmücken goldene Ringe."

    Die Äbtissin Tenxwind von Andernach kann die Empörung in ihrem Brief an Hildegard von Bingen kaum verbergen. Seidengewänder und goldene Kronen gehören nicht ins Kloster, sondern werden von den adeligen Frauen an den Fürstenhöfen getragen. Zudem ist Tenxwind entsetzt darüber, dass die Nonnen in Hildegards Kloster lange, gelöste Haare tragen und sich nicht an die vorgeschriebene Tonsur halten.

    "Außerdem – und das scheint uns nicht weniger verwunderlich als all das – nehmt ihr in eure Gemeinschaft nur Frauen aus angesehenen, adeligen Familien auf. Wohingegen ihr Frauen mit weniger Vermögen und geringere Herkunft den Eintritt ins Kloster verweigert. Darüber sind wir überaus erstaunt, hat nicht Christus selbst arme Fischer und einfache Leute als Apostel auserwählt. Wir haben auch die Kirchenväter durchforstet und nirgendwo einen Beleg für eure Gewohnheiten gefunden."

    Der Vorwurf ist unüberhörbar. Hildegard steht mit dem Lebenswandel in ihrem Kloster für Tenxwind eindeutig im Widerspruch zu den Heiligen Schriften und zu den Regeln des klösterlichen Lebens. Vor allem das christliche Ideal der apostolischen Armut, wie es zeitgenössischen Reformer wie Norbert von Xanten und auch Bernhard von Clairvaux für das Klosterleben fordern, wird auf dem Rupertsberg völlig ignoriert, obwohl sich damals im Reich bereits mehr als 150 Klöster dieser monastischen Reformbewegung angeschlossen hatten.

    Hildegard will von alle dem nichts wissen. Die besondere göttliche Auserwählung des Adelsstandes wird für sie auch im Kloster nicht aufgehoben. Sie reagiert sichtlich verärgert auf den Angriff der Äbtissin aus Andernach. Dazu der Mediävist Friedrich Prinz:

    "Hildegards Erwiderung ist von einer kränkenden Kühle, ohne Höflichkeitsformeln und mit der Aufforderung an Tenxwind, sie solle Hildegards Antwort nicht als Äußerung eines Menschen bewerten, sondern als 'Worte des Heiligen Geistes', der für Hildegard in dem leuchtenden Licht ihrer Visionen spricht."

    Tenxwind bekommt also sofort zu spüren, mit wem sie sich da anlegt. Hildegard die Prophetin ist das Sprachrohr Gottes. Wenn Tenxwind sich also auf den Apostel Paulus beruft, der gefordert hatte, das Frauen das Haupthaar im Gottesdienst verhüllen müssten, kennt Hildegard nun eine verborgene Wahrheit, die auch Paulus bereits gewusst, aber nicht offenbart hatte. Daher gelten seine allgemeinen Vorschriften nicht die für Bräute Christi.

    "Einer Jungfrau als Braut Christi muss das Tragen einer Krone selbstverständlich gestattet werden. Auch die herabfallenden Haare sind Zeichen der jungfräulichen Gottesbrautschaft. Im Übrigen ist die Krone ein Sinnbild der Demut und der Keuschheit und auch die weißen Seidenkleider sind ein Zeichen der Unschuld und Tugend."

    Den Vorwurf, dass Hildegard Frauen ohne Vermögen und ohne hohen Adelsstand nicht in ihr Kloster aufnehme, weist sie mit dem Hinweis auf die göttliche Rangordnung zurück.

    "Gott beurteilt jede Person so, dass der niedrige Rang sich nicht über den höheren Rang erhebt, wie es einst Satan und der erste Mensch getan haben, die höher emporsteigen wollten, als es ihrem Rang entsprach. Wer sperrt schon sein gesamtes Vieh in einen Stall. Ochsen, Esel, Schafe, Böcke, so dass sie nicht getrennt werden?"

    Hildegard hält sich mit ihrer elitären Auswahlpraxis also nur an die von Gott vorgegebene Ordnung. Adelige Frauen können deshalb auch im Kloster nicht mit Frauen niederer Herkunft in Gemeinschaft leben.

    Dieser Konflikt der beiden Klosterfrauen aus dem 12. Jahrhundert spiegelt anschaulich einen Paradigmenwechsel in der Geschichte des Christentums wieder.

    Beide Frauen haben unterschiedliche Gottesbilder. Hildegard schaut immer noch auf den Christkönig, den Pantokrator, der unnahbar über der Welt thront, und der die Adeligen auf Erden zu seinen besonderen Repräsentanten auserwählt hat.

    Demgegenüber steht das neue Gottesbild, das Tenxwind vertritt. Im 12. Jahrhundert entsteht nämlich erstmals die Vorstellung von Jesus, dem armen Gottessohn, der allen Menschen auf die gleiche Weise nahesteht und dem die Ordensleute mit dem Ideal der Armut nachfolgen. Hildegard ist aber zu sehr Aristokratin, um sich auf diesen neuen Gottesbegriff und eine Nachfolge in apostolischer Armut einzulassen.
    Die Prophetin vom Rupertsberg hat eine klare Vorstellung von der göttlichen Rangordnung in dieser Welt, die sie sich durch nichts erschüttern lässt.
    Wie überhaupt für Hildegard die gesamte Schöpfung, also der gesamte Kosmos von Gott sinnvoll bis ins kleinste Detail geordnet ist. Diese Vorstellung wird auch zum Leitfaden in Hildegards Schriften über Natur- und Heilkunde. Sie steht damit ganz auf dem Boden der traditionellen Makro- und Mikrokosmosvorstellung, bei der alle Dinge auf der Erde in Entsprechung zum Universum stehen.

    Hildegard will den Menschen diese Zusammenhänge in Gottes Schöpfung erklären. Erstaunlich ist, dass sie immer dann, wenn sie über Naturkunde redet, ihre Rolle als Prophetin ablegt und auf ihren visionären Stil verzichtet. Hier will sie Wissenschaftlerin sein. Was für sie aber nichts anderes bedeutet als bereits Bekanntes sorgfältig zu sammeln und zu ordnen.
    Der Philosophiehistoriker Loris Sturlese:

    "Was an den medizinischen Schriften Hildegards am meisten beeindruckt, ist die Tatsache, dass es typische frühmittelalterlich-altbenediktinische Medizinbücher sind."

    Hildegard beschreibt Pflanzen, Bäume, Steine, Tiere und Metalle, mit den jeweils ihnen innewohnenden heilvollen und unheilvollen Kräften. Entscheidend für die Wirkung ihrer Rezepturen ist in vielen Fällen aber auch, dass die Anwendung in Verbindung mit geistlichen Worten stehen muss. Die Kirchenhistorikerin Elisabeth Gössmann:

    "Sie will die natürlichen Qualitäten der Steine, Pflanzen und Tiere nutzen, indem diese durch das geistliche Wort herbeigerufen werden. Sie formuliert aus dem Wortschatz der kirchlichen Liturgie Gebete, in denen die Wirkkräfte der Natur und die Erlösung einander zugeordnet werden. Zum Beispiel: Wer am Herzen erkrankt ist, möge mit dem Hyazinth ein Kreuz über seinem Herzen schlagen, es wird ihm bald besser gehen."

    Die Heilkunde Hildegards bringt also nichts Neues. Alles, was sie darstellt, ist dem Weltbild und der jahrhundertealten medizinischen Traditionen der Benediktiner entnommen. Loris Sturlese:

    "Hildegard schrieb ihre Heilkundeschriften um die Mitte des 12. Jahrhunderts und dennoch gibt es nirgends ein Anzeichen, dass sie eine direkte oder indirekte Kenntnis von der neuen arabischen Medizin hatte, die sich zu dieser Zeit von der berühmten Schule in Salerno aus in Europa ausbreitete. Hildegard scheint von diesen Entwicklungen völlig unberührt geblieben zu sein. Ihre Medizin ist im Wesentlichen noch die Heilkunst der karolingischen Zeit, die sich auf Rezepte meist auf Aufgüsse oder Salben stützte, die das Gleichgewicht der Körpersäfte wiederherstellen sollten. Wenn nötig mit Unterstützung von magischen Beschwörungen."

    Hildegard war eine Autodidaktin. Mit den medizinischen Kenntnissen an den Universitäten konnte sie sich nicht messen. Dennoch erlebt Hildegard von Bingens Natur- und Heilkunde gerade in unserer Zeit wieder eine Renaissance. Dazu der Kirchenhistoriker Helmut Feld:

    "Um die medizinischen und naturkundlichen Kenntnisse Hildegard wird heutzutage viel Aufhebens gemacht, als ob sich darin altes, auch für die Gegenwart wertvolles Wissen erhalten habe. Man kann vor einer Überschätzung und Übertragung der Natur- und Heilkunde Hildegards auf heutige Verhältnisse nur warnen. Bei eingehender Lektüre der naturkundlichen Schriften Hildegards erweist sich vieles als zeitbedingten, nicht mehr nachzuvollziehenden Vorstellungen verhaftet, anderes als kompletter Unsinn."

    Inwieweit Hildegard in ihrer Zeit auch als Heilkundige angesehen wurde, lässt sich aus den überlieferten Quellen nicht mehr nachvollziehen. Auf jeden Fall hat sie durch einen Selbstverlag auf dem Rupertsberg mit fast modern anmutenden Marketing-Methoden für die Verbreitung ihrer Schriften gesorgt.

    Neben der Beschäftigung mit Natur- und Heilkunde und dem Komponieren von eigenen Liedern war sie auch weiterhin eine Prophetin, die trotz ihres hohen Alters und ihrer schwachen Gesundheit auf Reisen ging und Predigten hielt. Und bis in die letzten Monate ihres Lebens blieb die Visionärin eine streitbare Frau, die sich auch von kirchlichen Autoritäten nicht einschüchtern ließ:

    Nachdem sie zum Beispiel erlaubt hatte, dass ein Exkommunizierter auf dem Kirchhof ihres Klosters beigesetzt werden durfte, was eindeutig gegen das Kirchenrecht verstieß, drohte das Mainzer Domkapitel ihr an, die Gottesdienste in ihrem Kloster zu verbieten, wenn sie den Exkommunizierten nicht unverzüglich vom Klostergelände entferne. Hildegard ließ es darauf ankommen und letztlich konnte sie sich gegen das Mainzer Domkapitel und das geltende Kirchenrecht durchsetzen. Helmut Feld:

    "Es ging auch um die Frage der geistlichen Macht. Wer sich in einem Klosterbezirk bestatten ließ, vertraute damit seine Seele der Fürbitte des Konvents an, und er hatte dafür, mit Geld und Immobilienbesitz bezahlt. Nicht zuletzt durch solche Vermächtnisse war Hildegards Kloster reich geworden. Sie hatte in diesem Fall einen Ruf zu verlieren, wenn es ihr nicht gelang, die ihr anvertrauten Toten zu schützen."

    Am 17. September 1179 ist Hildegard von Bingen in ihrem Kloster auf dem Rupertsberg im Alter von 81 Jahren gestorben. In der Folgezeit geriet sie weitgehend in Vergessenheit. Weder Albertus Magnus, noch Thomas von Aquin, weder Bonaventura noch Duns Scotus, die herausragenden Kirchenlehrer des Mittelalters, haben sie auch nur mit einem Wort erwähnt. Auch in Rom scheint man schon bald auf Distanz zu der Visionärin vom Rhein gegangen zu sein. Friedrich Prinz:

    "Die päpstliche Untersuchungskommission, die 1233 für ihre Heiligsprechung eingesetzt wurde, reduzierte ihre Prophetengabe fast ausschließlich auf simple Mirakel."

    Und Johannes Peckham, der Franziskanerprovinzial und spätere Erzbischof von Canterbury schrieb 1270, knapp hundert Jahre nach Hildegards Tod.

    "Manche sagen, der Papst habe ihre Schriften bestätigt, was offensichtlich eine Lüge ist, da der apostolische Stuhl bekanntlich Zweifelhaftes nicht genehmigt, um so weniger, als in dem Geschreibsel einer solchen Vermessenen viele Irrtümer enthalten sind."

    Für die Geschichtsforschung von heute sind die Schriften mit Hildegards Visionen von größtem Interesse, weil sie wertvolle Informationen über die Mentalitäts- und Religionsgeschichte des 12. Jahrhunderts enthalten.