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Knoblauch, Kruzifix, Kugeln aus Silber

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Kommentiert von Denis Scheck |
    Sagen wir so: immer stärker drängt sich diesem Gehirn der Eindruck auf, dass - mit Oscar Wilde gesprochen - das Leben die Kunst imitiert. Haben Sie denn nicht auch das Gefühl, Gestalten wie Berlusconi, Obama oder Sarkozy schon aus der Literatur zu kennen?

    Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Belletristik:

    Diesmal mit Überlegungen zur Demenzanfälligkeit und Bastardisierungstendenz von Genres der Trivialliteratur, vergleichenden Aussagen über den Wohlfühlfaktor Phallus und Nationalgefühl zwischen Deutschen und Türken sowie dem Nachweis, dass Namen in der Literatur alles andere sind als Schall und Rauch.

    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Bücher der Deutschen
    4978 Gramm auf die Waage: zusammen 4281 Seiten.

    Platz zehn: Daniel Kehlmann: "Ruhm", Rowohlt, 203 Seiten 18,90 Euro

    In neun elegant konstruierten und raffiniert miteinander verwobenen Geschichten erzählt Kehlmann von den Folgen neuer Kommunikationsmittel wie Email oder Handy, vom Irrsinn des Starkults, dem Wahn der ständigen Erreichbarkeit und den frivolen Allmachtsfantasien der Blogosphäre. Meine Lieblingsgeschichte handelt von einem an den Brasilianer Paolo Coelho erinnernden Schundautor, der Schluss mit dem Lügen und ganz unvermittelt Ernst mit der Philosophie macht. Ein schöner Traum, ein gutes Buch.

    Platz neun: Fred Vargas: Der verbotene Ort, Deutsch von Waltraud Schwarze, Aufbau Verlag, 423 Seiten 19,95 Euro

    Manchmal kommen die aufregendsten Sensationen im gewöhnlichsten Gewand daher. Dieses Buch beginnt mit einem surrealen Bild: 17 Schuhe mit 17 abgetrennten Füßen stehen vor einem Friedhof in London. Die Suche nach des Rätsels Lösung führt nach Serbien zu einem Dorf der Untoten. Außergewöhnlich intelligent und unterhaltsam waren die Krimis der diskreten französischen Autorin Fred Vargas um ihren Kommissar Adamsberg schon immer. Diesmal aber ist Vargas ein Buch von solch psychologischer Raffinesse gelungen, dass es wie ein Wetzstahl für die Seele wirkt.

    Platz acht: Moritz Netenjakob: "Macho Man", Verlag Kiepenheuer & Witsch, 284 Seiten, 13,95 Euro

    Zu Beginn dieses mit vielen Gags aufgebrezelten Unterhaltungsromans lässst Moritz Netenjakob seinen Helden Daniel denken:

    "Türkische Männer schämen sich weder für ihr bestes Stück noch für ihr Vaterland."

    Daniel selber empfindet sich aber als:

    "Ein Deutscher mit Penis - die historische Arschkarte."

    Das Deprimierende an diesem Roman über kulturelle Unterschiede zwischen Deutschen und Türken sind nicht seine nervigen Längen oder seine comedyhafte Schrillheit, das Deprimierende erwächst aus der intellektuellen Selbstkastration des Autors.

    Platz sieben: Simon Beckett: "Leichenblässe", Deutsch von Andree Hesse , 415 Seiten, 19,90 Euro

    Dieser dritte Roman um den Arzt und Forensiker David Hunter ist ein routiniert heruntergeschriebener Serienkiller-Thriller, von dessen grausam alberner Handlungsführung der Autor mit einer Extraportion Toten ablenken will. Schwer zu entscheiden, was ekliger ist: die Instrumentalisierung der verwesenden Leichen oder das Selbstmitleid des Helden.

    Platz sechs: Markus Heitz: Die Legenden der Albae, Piper Verlag, 585 Seiten, 15 Euro

    Fantasy made in Germany. Und das klingt so:

    "Tränen sollen andere weinen,
    die Mütter unserer Feinde.
    Inàste soll lachen, sich erfreuen
    an der Feinde Gebeinen,
    getötet von uns,
    den Unsterblichen."

    Die Fantasie des für Rhythmus und Melodik des Deutschen stocktauben Autors Markus Heitz erschöpft sich im Ausdenken verkrampft exotischer Namen für seine Reiche, Völker und Helden. So torkeln zwar Gestalten namens Sinthoras und Caphalor durch diesen Roman, aber sie denken, fühlen und reden allesamt genau wie Wilma Hutschenreuther aus Schwieberdingen.

    Platz fünf: Tess Gerritsen: "Grabkammer", Deutsch von Andreas Jäger, Limes Verlag, 415 Seiten 19,95 Euro

    Nähert sich die Lebenserwartung eines Unterhaltungsgenres ihrem Ende, setzt meist ein demenzbedingter Hang zur Hybridisierung ein. Auch der schon arg in die Jahre gekommene Leichenporno macht da keine Ausnahme. Schön lässt sich dies am siebten Roman der amerikanischen Ärztin Tess Gerritsen um ihr Ermittlerpaar Dr. Maura Isles und Jane Rizzoli zeigen: Der Ausflug der beiden zu den Mumien des alten Ägyptens und dem verlorenen Heer des Perserkönigs Kambyses des Zweiten liest sich wie die literaturgewordene Entsprechung von "Godzilla meets King Kong".

    Platz vier: Sarah Kuttner: "Mängelexemplar", S. Fischer, 272 Seiten, 14,95 Euro

    Auf Seite 126 dieses Romans steht der Satz:

    "Ich will keinen 'Freche Mädchen'-Schund mehr lesen."

    Genau.

    Platz drei: Dora Heldt: "Tante Inge haut ab", Deutscher Taschenbuch Verlag, 339 Seiten, 13,30 Euro

    Während Sarah Kuttner in forciertem Jugendslang daherplappert, ist der Erzählton von Dora Heldts jüngstem Sylt-Roman mehr als bieder, nämlich bräsig. Wer bei Dora Heldt betrunken ist, ist

    "voll wie eine Strandhaubitze"."

    Besaß der Vorgängerroman "Urlaub mit Pappa" noch einen gewissen Retro-Reiz, strahlt diese Fortsetzung den Charme einer Packung Mottenkugeln aus.

    Platz zwei: Stephenie Meyer: Bis(s) zum Abendrot, Deutsch von Sylke Hachmeister, Carlsen Verlag, 557 Seiten, 19,90 Euro

    Das Problem des dritten der vier Romane um Bella Swan ist, dass in dieser unendlich in die Länge gezogenen Exposition zum großen Finale einfach nichts passieren darf. Also sinnt die Heldin darüber nach, ob sie sich nun eher zu Vampir Edward oder Werwolf Jakob hingezogen fühlt: eine Wahl, so schwer wie die zwischen Himbeereis und Bauchweh. Bleibt für Stephenie Meyer also nur, die gut 500 Seiten mit Sätzen zu füllen wie.

    ""Vor Schreck entglitten mir die Gesichtszüge."

    Platz Eins der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste Belletristik:

    Stephenie Meyer: "Bis(s) zum Ende der Nacht", Deutsch von Sylke Hachmeister, Carlsen Verlag, 788 Seiten, 19,90 Euro

    Eigentlich ist nichts dagegen einzuwenden, die Welt gelegentlich durch eine rosarote Brille zu sehen; so wie etwa Bella Swan, die in Meyers Blutsauger-Saga endlich ihren Vampir Edward heiraten und sich von ihm schwängern lassen darf. Aber gegen Sätze wie:

    "Er hatte die schönste Seele der Welt, sie war noch schöner als sein funkelnder Verstand, sein unvergleichliches Gesicht, sein göttlicher Körper."

    Gegen solche Sätze helfen nicht mal Knoblauch, Kruzifix oder Kugeln aus Silber.