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Koalitionsstreit
"Flüchtlingspolitik ist der Gradmesser für die Regierung"

Die große Koalition ringt um eine gemeinsame Lösung in der Flüchtlingspolitik. Auf die müsse man sich endlich verständigen, sagte der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer im DLF. Die Flüchtlingspolitik sei derzeit der Gradmesser, an der die Leistung der Regierung und der Bundesregierung beurteilt werde.

Gero Neugebauer im Gespräch mit Dirk Müller | 12.09.2016
    Politologe Gero Neugebauer
    Politologe Gero Neugebauer (picture alliance / dpa / Freie Universität Berlin)
    Dirk Müller: Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer beraten, sie diskutieren, vielleicht streiten sie auch über das, was die Große Koalition noch auf den Weg bringen muss, noch auf den Weg bringen soll. Über die Erbschaftssteuer zum Beispiel gab es Diskussionen, über die Ostrenten auch, auch über die Mietpreise. Aber eben nicht über die Flüchtlingspolitik, da läuft einfach nicht viel zusammen. Der CSU-Chef fordert nach wie vor, die Kanzlerin blockt ab nach wie vor und der SPD-Chef schaut zu.
    Wir haben es eben gehört: Es ist nichts entschieden worden gestern, alles wieder nur verschoben, obwohl die Themen seit Monaten auf dem Tisch liegen. Die Große Koalition in Berlin. Die drei Chefs waren dabei, Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel. Darüber sprechen wollen wir nun mit dem Berliner Parteienforscher und Politikwissenschaftler Professor Gero Neugebauer. Guten Tag.
    Gero Neugebauer: Guten Tag, Herr Müller.
    "Bis zu den Landtagswahlen in NRW wird noch einiges passieren"
    Müller: Herr Neugebauer, sollten die drei so langsam darüber nachdenken, mal aufzuhören?
    Neugebauer: Na ja. Die SPD vertritt ja die interessante These, das sei ja nur ein Problem zwischen CDU und CSU und da kann sie sich dann auch besser raushalten. Aber richtig ist es: Sie sollten langsam aufhören, nämlich aufhören zu sagen, es lässt sich noch was regeln. Sie können auch ein bewährtes Verfahren nehmen und sagen, das können wir nicht entscheiden, das verschieben wir aufs Ende oder das machen wir überhaupt nicht mehr in dieser Koalition. Das ist ja keine unbekannte Praxis.
    Müller: Unbekannte Praxis. - Wir haben jetzt ungefähr noch zwölf Monate bis zu den nächsten Wahlen, bis zu den nächsten Bundestagswahlen. Ist das für Sie im Grunde als Politikwissenschaftler, der seit Jahrzehnten die politischen Entscheidungsprozesse und auch die parteipolitischen Entscheidungsprozesse ganz genau beobachtet, eine ganz klare Sache, jetzt passiert nichts mehr?
    Neugebauer: Nein, es passiert noch einiges. Aber ich würde im konkreten Fall sagen, nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen passiert nichts außer Wahlkampf. Bis dahin wird noch einiges passieren, weil unter anderem die Akteure ja auch ihre Handlungsfähigkeit vorweisen wollen und gegenwärtig ja durch das, was in der Koalition passiert, in der Bevölkerung ein Verdruss entsteht über die Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeit auch, aber auch oft eben über die Leistungsbereitschaft, und das geht ja rein bis in die Verwaltung, wenn da gesagt wird, guckt mal an, die wollen nichts lösen, warum sollen wir uns anstrengen für die, die oben da nichts lösen wollen. Der Frust breitet sich aus.
    Müller: Herr Neugebauer, ich muss mich jetzt anstrengen, das Datum der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen zu finden. Frühjahr nächstes Jahr?
    Neugebauer: Frühjahr nächstes Jahr.
    "Die Regierung kann jetzt nicht einfach sagen, nein, wir entscheiden nichts mehr"
    Müller: Bis dahin passiert noch was? Da kommen Gesetze, da wird noch Politik gemacht?
    Neugebauer: Zumindest hat die SPD ein Interesse daran, ihre vor allen Dingen auf materiellen Interessen beruhenden Sachen zu entscheiden. Erbschaftssteuer halte ich eher für ein Thema, das für den Wahlkampf geeignet ist, aber die Regierung kann jetzt nicht einfach, angesichts auch der Tatsache, dass von ihr Entscheidungen verlangt werden, sagen, nein, wir entscheiden nichts mehr. Das läuft nicht, das geht absolut nicht.
    Müller: Ist das Ihr Hund?
    Neugebauer: Das ist mein Hund, ja. Der will rein ins Zimmer und ich will ihn nicht rein lassen.
    Müller: Ach so! Ist beim Interview immer so.
    Neugebauer: Ja, schade.
    Müller: Aber er ist einverstanden mit dem, was Sie sagen?
    Neugebauer: Ja. Er ist noch zu jung, um das beurteilen zu können.
    Müller: Dann wünschen wir dieser Konstellation alles Gute. - Gehen wir noch mal auf die Koalition ein, kommen wir noch mal auf die Koalition zurück. Thema Flüchtlinge. Da hat Armin Laschet uns - wir haben das eben im O-Ton gehört - ein bisschen verboten, darüber zu reden. Er sagt, wir wollen mal endlich über die anderen Themen reden. Aber ist das naiv, im Moment in der Politik zu glauben, das was gestern auch gemacht wurde, dass man die Flüchtlingspolitik ausklammern kann, verschieben kann? Muss da nicht endlich wie auch immer geartet eine Lösung her?
    Flüchtlingspolitik ist Gradmesser für die Leistung der Regierung
    Neugebauer: Zum einen muss eine Lösung her, denn dieses Problem ist im Problemhorizont der Bevölkerung weit oben. Sie brauchen nur zu gucken, was in den Umfragen formuliert wird, was sind die drängenden Probleme, und da ist das Flüchtlingsproblem oben.
    Das zweite ist: Die Flüchtlingspolitik ist zur Zeit der Gradmesser, an der die Leistung der Regierung und der Bundeskanzlerin beurteilt wird. Und drittens: Es gibt ja eine Reihe von Problemen, die sind ja gelöst worden. Man könnte vielleicht etwas flapsiger formulieren: Es gibt keine aktuelle Notwendigkeit, wesentliche Entscheidungen zu den komplexen Ordnen und Steuern einschließlich Rückführung sind ja getroffen, Integrationsmaßnahmen sind eingeleitet worden. Nur die CSU hebt immer noch das Thema Obergrenze und Grenzkontrollen nach oben und die SPD spricht verdeckt von Einwanderungsgesetz, aber Einwanderungsgesetz ist kein Thema für diese Koalition. Dann müsste die Union, sowohl CDU als auch CSU, endlich zugestehen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass man dann auch das regeln müsste. Aber wie gesagt: Es besteht die Notwendigkeit, in bestimmten Dingen zumindest zu sagen, da tun wir was und das tun wir und das haben wir getan, aber das ist nicht nur ein Kommunikationsproblem.
    Müller: Wenn Sie jetzt die CDU-Führung einschließlich der Kanzlerin beraten müssten in Ihrer Erfahrung auch als Politikwissenschaftler, in dieser Funktion, würden Sie dann vielleicht sagen, oder wäre das für Sie denkbar zu sagen, wir müssen der CSU da ein bisschen entgegenkommen? Wir nehmen mal gar nicht die Obergrenze, die so umstritten ist. Da fragen sich auch viele, warum, ist das rechtlich überhaupt umzusetzen, wie auch immer. Nehmen wir mal Grenzkontrollen. Warum ist das so schwierig zu sagen, ja, wir machen Grenzkontrollen?
    Neugebauer: Von dem Aspekt mal abgesehen, wo kollidieren da Landes- und Bundesinteressen und Landes- und Bundespflichten, die Schwierigkeit besteht einfach in der Tatsache, dass wir eine so lange Grenze haben, die nicht so kontrolliert werden kann, dass alle möglichen, den Schleusern und sonstigen Leuten bekannten Schlupfwege geschlossen werden können. Das ist der eine Punkt.
    Und der andere ist: Wir suggerieren damit auch, dass wir die Beseitigung des Problems der Fluchtursachen jetzt an unsere Grenzen verlagern und nicht dorthin, wo es eigentlich hingehört, nämlich in die Länder des Nahen Ostens, oder an die europäischen Außengrenzen.
    "Die Union, die CDU, Herr Laschet, Herr Altmaier, die reden ja dauernd über Obergrenzen"
    Müller: Aber ist das so? Man kann doch das eine tun und das andere dabei auch weiter betreiben. Fluchtursachenbekämpfung, hören wir auch immer wieder, wird ja vermutlich aus der Erfahrung der letzten Jahrzehnte noch weitere Jahrzehnte dauern.
    Neugebauer: Ja. Aber dann wird man Ihnen auch wieder sagen, so wie Herr Altmaier es tut oder Herr Laschet es tut, die sagen, wir haben ja so wenig Leute, da ist ein unnötig großer Aufwand, das bindet die Polizei, da wird sie von anderen Aufgaben entzogen oder zurückgezogen, kann die nicht machen. Insofern ist das wieder eine Sache, die diskutiert wird, und letztendlich, wenn es entschieden werden würde, würde es auch wieder lange genug dauern, bevor das effektiv wird, und dann fragt man sich, ob die Zahlen selbst noch stimmen werden.
    Aber was für mich noch einmal ein Problem ist: Ich meine, die Union, die CDU, Herr Laschet, Herr Altmaier, die reden ja dauernd über Obergrenzen, wenn sie zum Beispiel sagen, wir haben ja weniger als 200.000. Also nennen sie da doch bereits schon eine Zahl. Da ist Gabriel mit seinem Obergrenze-Begriff, Grenze der Integrationsfähigkeit, schon geschickter.
    Müller: Das heißt, Sie sagen, viele in der CDU suggerieren im Grunde Obergrenzen, ohne es so zu titulieren?
    "Man könnte sich auf atmende Obergrenzen einlassen"
    Neugebauer: Ja und vielleicht können sie sich auch so was wie eine atmende Obergrenze vorstellen. Herr Seehofer hat neulich auf die Frage, was tust Du denn, bitte schön, mit dem 200.000 und einsten Einwanderer oder Flüchtling, der da an der Grenze steht, willst Du vielleicht Vater, Mutter, Kinder trennen, nicht geantwortet, um das so kurz zu sagen. Aber wenn man sich auf so atmende Obergrenzen einlassen könnte, dann könnte man sagen, okay, dann kommen die nächsten 25 auch noch mit. Aber das Problem taucht immer auf und vor allen Dingen taucht das Problem im Grundgesetz auf. Und jetzt hat der Herr Seehofer erklärt nach der CSU-Klausurtagung, es gibt keine Attacken auf den Asylparagraphen 16a im Grundgesetz, insofern müsste er sich nach seiner Logik auch von dieser Zahl verabschieden und er könnte höchstens dann sagen, Zuwanderer, Arbeitsmarkt und dann kann man nachher eine Grenze festlegen. Aber wer bestimmt die dann? Der Arbeitsmarkt?
    Müller: Aber die Österreicher machen das ja auch. Die sagen jetzt 37.000 pro Jahr wie auch immer. Das ist ja auch ein bisschen atmen, das ist vermutlich ja nicht in Marmor komplett festgehalten. Das heißt, eine gewisse Flexibilität ist da und viele in Österreich, die damit unzufrieden waren, mit der Flüchtlingspolitik der Regierung, sind jetzt offenbar etwas zufriedener geworden, weil sie zumindest das Gefühl haben, dass der Staat bestimmt wer kommt und nicht derjenige, der kommt.
    Neugebauer: Ja. Das sehe ich auch so, dass das in der Tat eine bestimmte Beruhigung mit sich bringt. Nur Österreich hat eine andere Position, als die Bundeskanzlerin sie hat, und wenn sie sagt, wir nehmen was kommt, aber wir sind sehr viel schneller dabei, zu ordnen und zu steuern - der Helfen-Aspekt, der letztes Jahr noch im Wort war, der ist ja inzwischen entfallen -, dann kann man auch sagen, wir bleiben bei bestimmten Grenzen. Integrationsfähigkeit - da ist ja auch vorhin bei Herrn Laschet die Frage Kontingent angesprochen worden. Na gut, das bezieht sich bereits auf feste Größen. Aber das setzt ja auch voraus, dass es eine europapolitische Entscheidungsmöglichkeit gibt, und die will Frau Merkel sich ja vorbehalten, so dass man sich vorstellen kann, wenn es Frau Merkel gelingt, in den Ländern der EU ein Konzept durchzusetzen, das so was wie Kontingente oder bestimmte Größen vorsieht, dann wird sie auch nicht anders können, als ihren Beitrag selbst so zu formulieren, dass sie dann sagt, gut, dann haben wir auch Kontingente, damit haben wir auch so was wie Obergrenzen. Aber sie wird in der nationalen, in der parteipolitischen Auseinandersetzung nicht auf Obergrenzen eingehen können, meiner Einschätzung nach, weil sie dann zugeben müsste, im Streit mit Herrn Seehofer unterlegen zu sein.
    Müller: Und das fällt immer unwahrscheinlich schwer, auch wenn es vielleicht angebracht ist?
    Neugebauer: Da müsste ich Frau Merkel gut kennen, um zu sagen, ob ihr das schwer fällt. Aber ich weiß: So wie sie kommuniziert, kommuniziert sie: "Mit mir nicht!" Und das heißt, es würde ihr nicht mal schwer fallen. Sie denkt gar nicht darüber nach, ob es ihr schwer fallen würde. Sie sagt einfach: "Mit mir nicht, obwohl ich verschiedene Sachen schon geändert habe, so dass meine ursprüngliche dogmatische Position überhaupt nicht wiedergegeben wird", und manche immer noch so tun, als sei dieser Dogmatismus noch für sie prägend.
    Müller: Der Berliner Parteienforscher und Politikwissenschaftler Professor Gero Neugebauer. Danke für das Gespräch, Ihnen noch einen schönen Tag.
    Neugebauer: Ihnen auch, Herr Müller, und vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.