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Kölner Kongress 2018 - Erzählen in den Medien
Geteilte Gegenwart

Im Alltag ist es meist egal, ob etwas als "gleichzeitig" oder als "simultan" bezeichnet wird. Bei der Analyse der Gegenwart hängt jedoch viel davon ab, beides klar zu trennen.

Von Johannes Ullmaier | 04.03.2018
    Johannes Ullmaier im Portrait
    Johannes Ullmaier (Privat)
    Wenn jemand schlemmt, während andere hungern, geschieht das zwar gleichzeitig, doch nicht unbedingt auch simultan. Donald Trump dagegen bringt es sogar fertig, mit sich selber simultan zu sein. Dieser Essay beruht auf einem Vortrag auf dem Kölner Kongress zu "Erzählen in den Medien", der am 2. und 3. März 2018 im Deutschlandfunk stattfindet.
    Johannes Ullmaier, geboren 1968 in Winterthur/CH, unterrichtet an der Universität Mainz und ist Mitgründer der Zeitschrift testcard; 2016/17 förderte die Volkswagenstiftung sein Forschungsprojekt zum Thema Simultaneität.

    Liebe Hörerinnen und Hörer,
    wenn Sie diesen Radio-Essay hören, während Sie gerade auch noch andere Dinge tun, dann sind Sie hier richtig.
    Denn es geht um Simultaneität.
    Genauer: um ein paar Begriffe, die wir meistens synonym gebrauchen, die zu unterscheiden aber großen Nutzen bringen könnte - im Alltag wie in vielen Wissenschaften.
    Um diese Unterschiede zu entfalten, muss ich Sie nun aber bitten, sich doch etwas zu konzentrieren - und folgende Wörter vor Ihrem inneren Auge oder Ohr Revue passieren zu lassen:
    "gleichzeitig" - "zugleich" - "parallel" - "synchron" - und "simultan".
    Das meint alles ungefähr dasselbe. Oder?
    Statt "Simultandolmetscher" könnte man eigentlich auch "Gleichzeitig-Übersetzer" sagen.
    Statt "Simultanschach" auch "Zugleichschach" oder "Parallelschach".
    Und "Synchronschwimmer" könnten genauso gut auch "Parallelschwimmer" heißen. Wirklich?
    Sicher können wir für jedes Phänomen im Prinzip frei jedes Zeichen wählen. Auch für Verschiedenes dasselbe Wort. Oder verschiedene Wörter für Dasselbe. Aber es ist doch häufig sinnvoll, bestimmte Unterscheidungen zu machen, gleich wie man das Unterschiedene dann benennt - wobei es durchaus hilft, mit den Benennungen so nah wie möglich am bekannten Wortschatz und am alltäglichen Gebrauch zu bleiben.
    ["gleichzeitig"]
    Fragen wir also zunächst: Was ist denn alles gleichzeitig? Gerade jetzt - und hier?
    Gleichzeitig ist das, was hier gerade läuft - und was Sie gerade hören. Nicht dagegen das, was ich hier gerade spreche. Denn das wurde vorher aufgenommen.
    Gleichzeitig ist auch, was Sie dort, wo Sie mich gerade hören, umgibt: vielleicht Ihr Wohnzimmer, vielleicht ein Frühstückstisch - oder ein Gefährt, in dem Sie unterwegs sind.
    Nicht unbedingt gleichzeitig ist dagegen, wann Sie diese Sendung hören. Denn manche hören sie zur angegebenen Sendezeit, andere zeitversetzt, per Mediathek.
    Doch auch Sie, die gerade wirklich gleichzeitig hier zuhören, sind inzwischen nicht mehr gleichzeitig zu der von mir gerade als gleichzeitig beschriebenen Situation. Ihr damaliger Atemzug ist lang vorbei. Und die Wolke, die Sie vielleicht eben aus dem Fenster sahen, ein Stückchen fortgerückt.
    Das Gleichzeitige festhalten zu wollen, wirkt also früher oder später paradox, weil man dazu selber Zeit braucht. Um die Welt im strengen Sinne gleichzeitig zu sehen, müsste man sie anhalten.
    Medial geht das ganz gut, zumindest visuell, am einfachsten als Foto. Akustisch ist es schwiiiiiiieriger - denn selbst wenn ich das "i" fixiere, muss ich es ständig erneuern, also in die Sukzession ausdehnen.
    Beim Foto können wir dagegen annehmen, dass alles, was darauf zu sehen ist, auch wenn sich dessen Realität seither verändert hat, zum Zeitpunkt des Knipsens gleichzeitig so war, weshalb wir das Gleichzeitige dort punktuell betrachten können - Vergangenes zwar, doch dafür ohne Zeitlimit.
    Aber gerade, wenn wir länger auf ein selbstgemachtes Foto schauen, bemerken wir, dass da vieles abgebildet ist, was offensichtlich gleichzeitig vorhanden, uns aber, als wir durch den Sucher sahen und abdrückten, selbst gar nicht präsent war. Und je schärfer das Foto, desto mehr: Strukturen, Dinge, Farben und Bedeutungen, die uns zwar jetzt gegenwärtig werden, aber nicht mehr sind - und die zwar einmal waren, aber nicht als uns gegenwärtige.
    Das Gleichzeitige und das Gegenwärtige sind also keineswegs identisch. Deshalb wählt man für letzteres auch besser einen anderen Begriff, zum Beispiel "unsere Gegenwart" oder: "unser Zugleich".
    ["zugleich"]
    Natürlich findet sich in jeder Gegenwart durchaus auch Gleichzeitiges, aber doch nicht nur. Denn wenn unser Zugleich bloß punktuell wäre, also keine Dauer hätte, würden wir nur infinitesimale Jetzte sehen, ohne jeglichen Zusammenhang.
    Wirklich gleichzeitig (und auch das nur fast) registriert Ihr Ohr auch hier zu jedem Zeitpunkt bloß Impulse von ein paar tausendstel Sekunden - viel zu kurz, um sie gesondert aufzufassen. Was uns indes begegnet, ist ein Zugleich aus geordneten Lautsymbolen, die physisch niemals gleichzeitig gegeben waren, und es auch gar nicht sein dürften, sondern als Zeichenkette im Zugleich aufscheinen.
    Dieses Zugleich reicht somit vom aktuellen Jetzt jeweils ein Stück zurück, ins jüngst Gewesene. Und umgekehrt greift es stets etwas vor. Selbst wenn diese Vorgriffe normalerweise nicht bewusst werden. In unserem aktuellen, medial gemeinsamen Zugleichsrahmen sind es vermutlich Dinge wie: dass diese, meine Stimme ungefähr so weiterspricht... dass dieser Satz korrekt zuende geht... und dass ich hoffentlich noch irgendwann zur Simultaneität komme; während die Erwartungen wohl irritiert und damit manifest würden, wenn jetzt unvermittelt Marschmusik erklänge... or if I changed to English...
    Doch weicht das Zugleich vom Gleichzeitigen nicht bloß im Umfang ab. Denn was gleichzeitig ist, steht objektiv relativ fest - auch wenn diese Objektivität, wie wir seit Einstein wissen, überaus vertrackt ist. Das Zugleich dagegen hängt immer ganz an der Instanz, die es fundiert und korreliert, meist am Bewusstsein eines Lebewesens, ist also abhängig von dessen Situierung, Strukturierung und Interesse.
    So werden auch Zugleichssphären denkbar, die viel größer oder kleiner wären als unsere. Zum Beispiel ein Bewusstsein, das alles, was ich seit Beginn gesagt habe, noch Wort für Wort präsent hätte - anders als Sie und ich, die allenfalls die jeweils letzten Wörter gegenwärtig haben. Oder wissen Sie vielleicht noch, wie der letzte Satz begonnen hat? Ich nicht.
    Außerdem kann eine Gegenwart nicht nur im Nacheinander anders strukturiert sein, sondern auch im Nebeneinander.
    Wir alle haben einen Fokus - in dem bei mir, ich schwöre es, gerade die korrekte Fortführung von diesem Text ist. Bei Ihnen kann es, wenn ich Glück habe, ebenfalls der hier gesponnene Gedankenfaden sein; wenn ich Pech habe, aber nicht. Meine Stimme ist dann bloß ein Nebenbeigeräusch am Rande Ihrer Gegenwart.
    ["parallel" und "synchron"]
    Es kann jedoch auch sein, dass Sie gerade nicht nur einen Faden gegenwärtig haben, sondern mehrere - also zum Beispiel gerade Ihre Mails abrufen, essen oder etwas basteln - und doch zugleich dem Faden folgen, den meine Stimme hier seit circa sieben Minuten spinnt.
    Wenn solche Fäden sehr einfach gesponnen sind - wie etwa:
    Überwachungsbildschirme im Blick zu halten - oder sich sehr ähneln - wie routierende Teller auf Stangen zu balancieren -, dann können Sie vielleicht sogar zehn oder noch mehr solcher Parallelverläufe im Zugleich bewältigen.
    Sind die Fäden allerdings semantisch aufgeladen, also Zeichen zu verarbeiten, dann werden Sie - je nachdem, wie gewohnt und kompliziert deren Strukturen und Symbole sind - nur eine, allerhöchstens zwei solcher multiplen Linien zugleich verfolgen oder bilden können.
    Etwas anders liegt die Sache, wenn die Fäden nicht bloß parallel verlaufen, sondern auch die Knoten darin - also die einzelnen Ereignisse oder Prozesse - miteinander korrespondieren bzw. korrespondieren sollen. Wie zum Beispiel bei zwei Tänzern, die als Paar zusammen tanzen. Diese müssen darauf achten, dass sie zeitlich aufeinander abgestimmt sind, sich also im weiteren Sinn synchronisieren. Vollführen sie dazu noch identische Bewegungen, dann sind sie, wie paradierende Soldaten, sogar im engen Sinn synchron - das heißt, ihre Ereignispartituren erscheinen im Zugleichsrahmen nicht nur gleich getaktet, sondern auch inhaltsgleich. Sozusagen unisono.
    ["pass-zeitig" versus "ungleichzeitig"]
    Doch egal, ob wir gerade einen oder sieben Fäden spinnen - jederzeit gibt es Millionen andere, de facto gleichzeitige Ereignisse und Vorgänge außerhalb unseres Zugleichs.
    Das kann einerseits ein Manko sein, wenn man sich zum Beispiel langweilt – und zugleich annimmt (oder weiß), dass eben jetzt die Party steigt, bei der man gerne wäre, bloß leider außerhalb des eigenen Zugleichsrahmens.
    Oft ist solches Nicht-Zugleichsein aber auch ein Glück. Und die Evolution hat unseren Zugleichsrahmen nicht zufällig auf Menschenmaß geeicht. Denn würde uns alles, was auf dieser Welt gleichzeitig ist, auf einmal gegenwärtig, müsste unsere Gegenwart entweder gottgleich expandieren oder aber explodieren - wie wenn alle plötzlich auf derselben Hochzeit tanzen würden, als global-lokal-fatale Facebook‑Party.
    Nun kommt es aber nicht nur darauf an, wieviel in unseren Zugleichsrahmen hineinpasst, sondern auch darauf, ob das, was dort erscheint, zeitlich zusammenpasst oder gerade nicht. Wenn wir für einen ganz bestimmten Zeitpunkt etwas ganz Bestimmtes erwarten, trifft es entweder ein - und passt also, oder es "kommt anders als man denkt". Und zwar entweder qualitativ, wenn man zum Beispiel mit geschlossenen Augen in genau diesem Moment einen Kuss erhofft - und stattdessen eine Ohrfeige bekommt, also zur rechten Zeit das leider Falsche; oder aber zeitlich, wenn man zum Beispiel einen Ton erwartet - und der kommt dann auch, sogar der richtige, aber zur Unzeit: [Beethoven-Beispiel], hier also zu spät.
    Analog dazu können in einem Zugleichsrahmen auch ganze Prozesse entweder passend ablaufen, wie ein eleganter DJ-Übergang zwischen zwei Schallplatten, oder eben nicht - und zwar wieder entweder qualitativ, als sich gegenseitig störend oder aufhebend, wie wenn sich bei einer Talkshow alle überschreien; oder aber zeitlich, wenn etwas relativ zu anderen Prozessfäden zu schnell, zu langsam oder zu ungleichmäßig geht, ein einzelner Orchestermusiker zum Beispiel "rennt", "hängt" oder "stolpert". Oder auch relativ zum Rahmen selbst, wennichetwafürSiezurasch oder zzuuuuuu llllllaaaaaaaaaannnnngsam ooooodrrr zusprung---h—aft rede.
    Diese Zugleichs-Konstellationen können gleichzeitig, parallel oder synchron sein - oder auch nicht. Daher ist es sinnvoll, dafür wieder andere Begriffe zu verwenden. Zwar sind viele Phänomene, die darunterfallen, wohlbekannt und auch benannt - zum Beispiel "Kairos", "Synchronizität", "Koinzidenz", "just in time" oder "zur Unzeit". Doch die allgemeine Polarität des zeitlichen Zusammenpassens oder Nicht‑Zusammenpassens im Zugleich ist bislang nicht bezeichnet.
    Daher schlage ich vor, die innerhalb eines Zugleichsrahmens als passend registrierten Geschehnis-Konstellationen "pass-zeitig" zu nennen, die zeitlich unpassenden dagegen "ungleichzeitig".
    Und dieses "ungleichzeitig" meint wohlgemerkt etwas sehr Anderes als "nicht gleichzeitig". Nicht gleichzeitig ist schlicht alles, was nicht zum selben Zeitpunkt ist. Ungleichzeitig ist dagegen etwas, was zu einem bestimmten Zeitpunkt im Zugleich sein sollte, es jedoch nicht ist, zum Beispiel jemand, mit dem ich eben jetzt verabredet bin, der also eigentlich jetzt hier sein sollte, es aber nicht ist.
    Nun gibt es auf der ganzen Welt in so gut wie jeder Gegenwart und zu so gut wie jedem Zeitpunkt eine Unmenge an Ungleichzeitigkeiten, von denen uns die allermeisten aber wenig stören: Man stolpert kurz, hängt diffus an einer Erinnerung, jemand stottert leicht, die Verbindung setzt kurzzeitig aus oder ein Flugzeug überquert die Freiluftbühne.
    Umgekehrt fliegt vielleicht ein schöner seltener Vogel vorbei, der noch nie vorbeikam und nie wiederkommen wird, also gerade pass-zeitig - und man schaut sogar - doch es geht einen nichts an.
    Es gibt also sehr viele Un- und Pass-Gleichzeitigkeiten, die wir nicht thematisieren, weil sie uns zu peripher, zu gewohnt oder schlicht egal sind. Oder weil wir gerade im "Flow", also wie in Trance so pass-zeitig agieren, dass es uns höchstens nachträglich auffällt.
    ["simultan"]
    Allerdings gibt es auch Pass- und Ungleichzeitigkeiten, die in einer jeweiligen Gegenwart akut als solche prominent werden. Um diese markanten Fälle auch begrifflich zu markieren, ist wieder ein anderes Wort nötig. Und da solche exorbitanten Zeitkonstellationen im Zugleich in der Geschichte oft emphatisch "Simultaneität" genannt wurden, liegt es - im Deutschen jedenfalls - sehr nah, dafür auch das weniger alltägliche Lehnwort zu verwenden, nämlich: "simultan".
    So allgemein gefasst ist "Simultaneität" also einfach die Steigerung von "Pass-" bzw. "Ungleichzeitigkeit" - und damit etwas Graduelles und Polares.
    Höre ich zum Beispiel mehrere Stimmen parallel, sagt das für sich noch nichts. In einer belebten Kneipe ist es einfach der Normalfall, fern von jeder Simultaneität.
    Wenn aber gerade mein Leben davon abhängt, dass ich als Kellner die Bestellungen von sieben Oligarchen, die in mehreren Sprachen durcheinanderbrüllen, richtig aufnehme, bin ich in der Hölle divergenter Simultaneität.
    In den Himmel konvergenter Simultaneität komme ich dagegen, wenn ich etwa beim Hören eines mehrstimmigen Chorgesangs plötzlich dessen singuläre (und fragile) Synchronie begreife - und sie mich ergreift.
    ["Avantgarde"]
    Zwischen Himmel und Hölle brennt bekanntlich noch das Fegefeuer. Hier vor allem hat sich vor etwa 100 Jahren die künstlerische Avantgarde positioniert, die Simultanismus als Programm betreibt. Entweder so, dass sie bestehende Simultaneitäten mimetisch wiedergibt oder symbolisch pointiert, natürlich vornehmlich die je modernsten. Oder aber so, dass sie eigene Simultaneitäten konstruiert und inszeniert. Beides tut sie teils euphorisch, teils verzweifelt, meist aber in der purgatorischen Ambiguität von Zähneklappern und Erlösungshoffnungen.
    Und diese zieht sich seither durch die neuere Mediengeschichte - bis in die neuesten Display-Gegenwarten, wo die divergente Simultaneität eines globalen Shitstorms jederzeit so nah ist wie die konvergente einer warmen Flut von Likes.
    ["Kunst und Leben"]
    Doch so sehr ‚Realität’ und ‚Medien’ heute auch verschwimmen - wichtig für den Umgang mit der Simultaneität bleibt nach wie vor, ob wir ihr mit ästhetischer Distanz begegnen (können), also primär beobachtend, oder aber selber involviert sind. Wenn ich auf der Leinwand Charlie Chaplin als Fabrikarbeiter sehe, wie er mit der divergenten Simultaneität ahumaner Fließband-Rhythmen ringt, kann ich das komisch oder schaurig finden. Wenn ich dagegen selbst am Fließband stehe und meine wirtschaftliche Existenz von einem reibungslosen Arbeitsablauf abhängt, kann ich solche Pirouetten kaum mehr komisch finden. Denn dann ist es nicht die Eigenzeit einer Figur im Film, die durch mein Zugleich verläuft, sondern meine eigene im Leben.
    Analoges gilt, wenn man mir plötzlich noch ein zweites Fließband hinstellt, das ich parallel bedienen soll. Und vielleicht bald noch ein drittes. Das Band muss dazu übrigens gar nicht schneller laufen oder ruckeln. Beschleunigung und Asynchronität sind hier, wie bei vielen Gegenwartsverschärfungen, nicht primär das Problem - sondern vielmehr die Zugleichschaltung von etwas in meinen Merk- und Wirk‑Rahmen.
    Entscheidend ist dabei, dass der Simultaneitätsdruck auch dann schon wächst, wenn mir bloß Optionen ins Zugleich geschaltet werden, zum Beispiel neue Hebel oder Tasten, die ich gar nicht unbedingt benutzen muss, aber jederzeit auch (falsch) bedienen kann, oder wenn andere mich in real-time kontrollieren und erreichen können - bis hin zur Realoption, dass jemand in Indien oder ein Computer meine Arbeit übernimmt.
    Weder Entschleunigung noch Akzeleration, weder Flow noch Resonanz werden mir hier helfen. Eher schon die Analyse der Zugleichsrahmen-Verschiebungen, aus denen divergente Simultaneitäten heute meistens resultieren. So könnten viele Negativ-Effekte von teils bloß fahrlässigen, meist aber perfide kalkulierten Zugleichschaltungen sichtbar gemacht und dadurch kritisierbar werden.
    Die Chancen dafür stünden insofern nicht schlecht, als das Feld der Simultaneitäten zwar inhaltlich fast unbegrenzt erscheint, die Pass- und Ungleichzeitigkeiten aber - so die These - überall dieselben bleiben: ob in ästhetischen oder lebenspraktischen Zugleichskonstellationen, ob in "natürlichen" oder mediatisierten, faktischen oder fiktiven, mono- oder multilinearen.
    Das gilt selbst, wenn wir den Blick von der unmittelbaren Gegenwart des einzelnen Individuums - meist eines Menschen, aber vielleicht auch einer Fliege oder eines Roboters - auf kollektive, doch ebenfalls durchaus reale Gegenwarten ausweiten, etwa die einer Familie, einer Firma oder der deutschen Medienöffentlichkeit. Auch diese haben ihre jeweils charakteristischen Ausmaße, Zentren, Peripherien und Latenzen, Taktungen und Konventionen, von denen die zugehörigen Simultaneitäten ebenso bestimmt sind wie von den ein- beziehungsweise wechselseitigen Beobachtungs- oder Beeinflussungverhältnissen.
    Noch komplexer, aber auch noch lohnender wird es, wenn wir nicht nur fragen, was in welcher Gegenwart jeweils zu früh, zu schnell, zu viel, etcetera ist, sondern auch, was dort jeweils an Zeitkonzepten oder Zeitmarkierungen zusammentrifft.
    In diesem nominellen Sinne ungleichzeitig wären dann etwa auch zwei Uhren, die zugleich und gleichzeitig verschiedene Zeiten anzeigen; oder auseinanderlaufende Kalender, wie der julianische und der gregorianische, oder zeitversetzte, wie der christliche und der islamische; doch auch zwei aufeinandertreffende Kulturen, von denen eine streng nach der Uhr lebt, während die andere gar keine Uhren kennt.
    Ungleichzeitig wären so schließlich auch Zugleichsverhältnisse, deren kulturelle Zeitzuordnung paradox erscheint. Ernst Bloch hat das schon 1936 "Ungleichzeitigkeit" genannt, um das Zugleich von Modernismus und Archaik im Faschismus aufzuzeigen. Der Befund ist aber ohne weiteres zu verallgemeinern: ein Yankee am Hof von König Artus, Urmenschen mit Cyberwaffen und ein Säugling im Ornat. Oder als Sprechakt: "Tarifverträge sind ja sowas von 20. Jahrhundert."
    ["Simultaneität" und "Ideologiekritik"]
    Sind die Simultaneitäten einmal so weit unterschieden, erwächst daraus die Chance, auch die historische Entwicklung neu zu sehen. Zwar evolviert die Simultaneität - weil sie nicht nur Zeit, sondern auch Zeitbewusstsein voraussetzt - in der Weltgeschichte ziemlich spät, entwickelt dann aber eine markante Dynamik, eine Art Zugleichsrahmen-Peristaltik von immer neuen Ungleichzeitigkeiten, die sich schleichend oder auch abrupt zur divergenten Simultaneität verdichten, um dann akkommodiert, das heißt real bewältigt oder so gut es geht verdrängt zu werden. Dabei verändert sich meist nicht nur das Geschehen im betreffenden Zugleichsrahmen, sondern auch dieser selbst - was wieder neue Ungleichzeitigkeiten birgt. So moderieren etwa Uhren und Kalender viele Synchronisationsprobleme, schaffen allerdings auch viele neue - was mit der Einführung der allgemeinen Weltzeit oder des Internets nicht etwa aufhört, sondern wieder ungeahnte, zum Teil wirklich globale Simultaneitäten zeitigt.
    Relativ neu ist dabei der Verdacht, der Homo Sapiens könnte ungleichzeitig mit sich selber sein. Spätestens seit Menschen die Atombombe erfunden, eingesetzt und nicht mehr abgeschafft haben, steht er hartnäckig im Raum. Zwar ist die divergente Simultaneität der ständigen Option zur Selbstauslöschung heute weitgehend verdrängt. Dafür werden andere Ungleichzeitigkeiten zusehends akut:
    Immer offensiver wollen immer größere Menschengruppen in verschiedene, oft weitgehend erfundene Vergangenheiten zurück - ob in die fetten Wirtschaftswunderjahre, als Durchschnitts-Hominiden noch gebraucht wurden; ob in die Zeit des Propheten, als Ungläubige, Schwule und Frauen noch nicht die Welt regierten; oder in die Steinzeit, als die Menschen noch nicht alle anderen Spezies, ja den eigenen Planeten zur Ungleichzeitigkeit verdammt hatten. Da die allermeisten aber auch in der bevorzugten Vergangenheit ihr Smartphone haben wollen, läuft der Riss der Ungleichzeitigkeit quer durch sie selbst.
    Andere wollen um jeden Preis ihre privilegierte Gegenwart einfrieren, ob mit Wahlgeschenken, Obergrenzen oder Betrugssoftware, während wieder andere sich bereits in einer smarten Zukunft wähnen, wo sie mit der aktuellen Hominidenplage nicht mehr viel zu tun haben - freilich nur so lang, wie sie nicht von selbstgeschaffenen Superintelligenzen ihrerseits zu Schrott erklärt und als ungleichzeitig ausgemustert werden.
    Gerade weil die so skizzierten Simultaneitäten so divers und oft in sich verschachtelt sind, wäre es umso dringlicher, sie systematisch zu erkunden.
    Und dabei zu fragen: Ist es wirklich unvermeidlich, jeden technischen und kulturellen Weg und Irrweg, so wie heute, stets global zugleich und gleichzeitig zu gehen?
    Müsste man nicht auch Zugleichsrahmen zum Weltkulturerbe erklären können?
    Und muss wirklich alles ‚Ungleichzeitige’ entweder zügig ausgemerzt und musealisiert oder aber zum globalen Backlash werden?
    Sicher wäre eine Ideologiekritik der divergenten Simultaneitäten schwer zu popularisieren, weil sie scheinbar konträre Ziele zu verfolgen hätte: nämlich zum einen, verdeckte Ungleichzeitigkeiten simultan zu machen, also im medialen Zugleichsrahmen zu ballen - zum anderen aber, schädliche Simultaneitäts‑Schimären zu entlarven oder unsinnig zugleichgeschaltete und entsprechend sinnlos konfligierende Gegenwarten wieder zu entkoppeln. Dass dies schwierig ist, kann kein Grund sein, es nicht zu versuchen. Der simultane Elefant im Raum wird von allein nicht kleiner.
    ["unio mystica"]
    Unbeeindruckt von den divergenten Simultaneitäten der Geschichte und unserer globalen Gegenwart zeigt sich unterdes das Ewige. Immer schon sind Menschen ihm begegnet (oder behaupten es zumindest) - ob über Abgesandte, die sich temporär mit unserer profanen Zeit zugleich machen, oder direkt.
    Der Fluchtpunkt aller Simultaneität ist das All-Eine, als Zugleich des ganzen Seins in einer grenzenlosen Gegenwart, die alle Zeit zum ewigen Moment, zum Allzeitpunkt verdichtet. Hier hat der Mensch freilich nichts mehr zu suchen.
    Was uns aber nicht davor bewahrt, dass auch unsere profane Sendezeit rasant auf den finalen Punkt zusammenschnurrt, wo alle Zeitbegriffe wieder ineinanderfallen. In die Singularität der Stille. Vor dem letzten oder ersten großen Knall.