Dienstag, 16. April 2024

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"Körbe voller Zyankali"
Der größte Selbstmord der deutschen Geschichte

Ertränkt in Teichen mit Rucksäcken voller Steinen, an Bäumen hängend, erschossen oder mit Zyankali vergiftet: Mindestens 700 Menschen nahmen sich kurz vor Kriegsende 1945 in der vorpommerschen Kleinstadt Demmin das Leben. In "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt" erinnert Florian Huber an die Massensuizide in ostdeutschen Orten.

Von Mathias Schnitzler | 09.04.2015
    Vor der Jahreszahl "1945" auf einem Mahnmal auf dem Sowjetischen Garnisonfriedhof in Dresden (Sachsen) liegt ein Strauß roter Nelken.
    Die Selbstmordwelle im Osten des Deutschen Reiches am Ende des Zweiten Weltkriegs ist eines der letzten verdrängten Kapitel der deutschen Geschichte. (picture alliance / dpa-ZB / Arno Burgi)
    Am 30. April 1945 kommt der Krieg doch noch nach Demmin. Bisher war die vorpommersche Kleinstadt von Bomben und Beschuss verschont geblieben. Doch als die Einheit der Wehrmacht, die sich zwei Wochen hier eingerichtet hat, am frühen Morgen die Stadt verlässt und hinter sich alle Brücken nach Westen sprengt, glauben die Demminer, in der Falle zu sitzen. Mit ihnen eine Anzahl von Flüchtlingen auf ihrem beschwerlichen Treck aus dem Osten.
    Während die Amtsträger informiert waren und mit den Soldaten die Stadt verlassen können, werden Bürger und Flüchtlinge zurückgelassen. Niemand soll den Rückzug des Heeres behindern, das sich auf der Flucht vor der Roten Armee befindet. Was von nun an und in den kommenden drei Tagen in der Stadt geschieht, gehört zu den vielen grausamen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. In Demmin findet der größte Massenselbstmord der deutschen Geschichte statt. Allerdings: Bis heute weiß kaum jemand davon. Es ist eines der letzten verdrängten Kapitel der deutschen Geschichte.
    "Menschen aus allen Schichten, Berufsklassen und Altersgruppen gingen in den Tod"
    Zwischen dem 30. April und dem 3. Mai nehmen sich mindestens 700 Menschen das Leben. Andere Schätzungen, exakte Zahlen gibt es wegen fehlender Totenscheine nicht, gehen von 1.000 Demminer Selbstmorden aus.
    "Es waren Menschen aus allen Schichten, Berufsklassen und Altersgruppen, die in den Tod gingen. Die Selbstmörder von Demmin waren ein Querschnitt und Abbild der kleinstädtischen deutschen Gesellschaft. Es war, als könne der Todesdrang plötzlich jedermann packen."
    In vielen anderen Städten und Dörfern im Osten des Deutschen Reiches passiert in diesen Tagen das Gleiche. Parallel zum Vorstoß der Roten Armee und ihr teilweise vorausgehend lässt sich eine gewaltige Selbstmordwelle von Ostpreußen über Pommern und Mecklenburg bis nach Brandenburg und Berlin nachzeichnen. In Lauenburg bei Gdingen gehen ca. 600 Menschen freiwillig in den Tod, im ostmecklenburgischen Friedland über 500. Und so weiter.
    Vorstoß der Roten Armee löste gewaltige Selbstmordwelle aus
    Auch im übrigen Deutschland ist die Selbstmordrate deutlich höher als in den Jahren zuvor, doch die Zahlen im Osten explodieren. Insgesamt haben sich wahrscheinlich mehrere Zehntausend Deutsche das Leben genommen, möglicherweise sogar eine Zahl im oberen 5-stelligen Bereich. Bis in kleinste Dörfer und Siedlungen hinein bringen sich die Menschen scharenweise um. Im winzigen vorpommerschen Alt Teterin hat die Gräuelpropaganda der Nazis, in der die Sowjets nicht nur als minderwertige Untermenschen, sondern auch als monströse Kannibalen dargestellt werden, tragische Folgen mit absurden Zügen.
    "In ihrer Stimmung aus Furcht und Anspannung hörten die Menschen in Alt Teterin aus Richtung Stretense einen fremdartigen, böse dräuenden Lärm... In der Fantasie einiger verbanden sich das Mahlen und Dröhnen mit den Horrorgeschichten über die sowjetische Mordwalze. Rasch flammte unter den Frauen das Gerücht auf, die Rotarmisten hätten in Stretense eine 'Höllenmaschine', einen gigantischen Fleischwolf in Gang gesetzt. Eine riesige motorgetriebene Menschenpresse, durch die sie ihre Männer drehen würden, die sie zuvor vor ihren Augen abgeführt hatten."
    Tragische Folgen der Nazi-Gräuelpropaganda über Sowjets
    32 Menschen, darunter 21 Kinder, sterben in den folgenden Stunden in Alt Teterin von eigener Hand oder der ihrer Angehörigen. Juristen sprechen in diesem Fall, in dem Eltern ihre Kinder töten und danach selbst aus dem Leben scheiden, von "erweitertem Selbstmord".
    Die Angst vor der Rache der Sowjetsoldaten war in gewisser Weise sogar verständlich. Der Ostfeldzug der Deutschen, der als Vernichtungskrieg auch die planmäßige Ermordung von Zivilisten vorsah, hatte bis Ende April 1945 mindestens 20 Millionen Menschen sowjetischer Nationalität das Leben gekostet. Auf dem Rückzug der Deutschen aus Russland fackelten Wehrmacht und SS unter der Losung "Verbrannte Erde" reihenweise Städte, Dörfer und Felder ab.
    Hunderte von Leichen schwimmen in der Peene
    Am 30. April steht, nach fast vier Jahren Kampf, der Sieg gegen die Faschisten unmittelbar bevor. Auch die Sowjets begehen, ebenfalls aufgepeitscht von Propaganda, verroht vom jahrelangen Krieg, fürchterliche Verbrechen: sinnlose Zerstörung, brutale Vergewaltigungen, Mord.
    Als die Rote Armee nach Demmin kommt, schwimmen in der Peene, die durch die Stadt Richtung Ostsee fließt, Hunderte von Leichen. Die Toten müssen am Ufer regelrecht gestapelt werden. In Gräben und Teichen ertränken sich die Menschen, beladen mit Rucksäcken voller Steine oder zusammengeknotet mit ihrem Nachwuchs. An den Bäumen hängen sie, liegen erschossen oder mit Zyankali vergiftet in Wohnungen und Gärten. Auch hier sind unter den Toten viele Kinder, die meist von ihren Müttern getötet wurden, bevor sie sich selbst umbrachten.
    Eine Tafel an einem Gedenkstein auf dem Friedhof in Demmin (Mecklenburg-Vorpommern) erinnert an den Massenselbstmord 1945, aufgenommen am 08.04.2013. In Demmin kam es Historikern zufolge zum Kriegsende zu einem der schlimmsten Fälle von Massenselbstmord.
    Eine Tafel an einem Gedenkstein auf dem Friedhof in Demmin erinnert an den Massenselbstmord zum Kriegsende im Jahr 1945. (picture-alliance / dpa / Bernd Wüstneck)
    Erweiterter Selbstmord: Mütter töteten ihre Kinder
    200 km südlich, in Berlin, erschießt sich Adolf Hitler in jenen Minuten, als die Sowjetarmee Demmin einnimmt. Am 30. April gegen 15:30 Uhr. Über die letzten Stunden im Führerbunker sind unzählige Bücher und Beiträge geschrieben, Filme gedreht, Spekulationen geäußert worden. Die Selbstmorde von Demmin dagegen wurden verdrängt und vergessen. Das wird sich nun ändern. Denn Florian Hubers Publikation über den Massensuizid in Demmin und vielen anderen ostdeutschen Orten gehört zu den wichtigsten Sachbüchern dieses Frühjahrs. Sicher ist es das Schockierendste.
    Neben Untersuchungen von Regionalhistorikern, die über den lokalen Rahmen hinaus kaum auf Widerhall stießen, zieht Huber vor allem Lebenserinnerungen, Tagebücher und Berichte von Zeitzeugen heran, die die Selbstmordwelle unmittelbar miterlebt haben. Im historischen, mitunter recht farbigen Reportagestil, dem man den Erfolg Hubers als Autor geschichtlicher Stoffe für Film und Fernsehen anmerkt, erzählt er das Schicksal von Überlebenden und Getöteten nach.
    Wie konnten sich Tausende Menschen das Leben nehmen?
    Im zweiten Teil wandelt sich das Buch zu einer Art Mentalitätsstudie. Wie konnte es sein, fragt Huber, dass Tausende Menschen bereit waren, sich und ihren Nächsten das Leben zu nehmen, als das Ende des Hitlerregimes offensichtlich wurde? Was ging in den Köpfen der Deutschen vor, als ihre Welt entzweibrach?
    "Nach dem Verlöschen von Führer und Reich fürchteten sie, in der Leere zu versinken. Das Nichts wurde fühlbar. Die Horrorgeschichten über die Rote Armee hatten eine Atmosphäre der Furcht verbreitet, dass nach ihrem Sieg die Alliierten das deutsche Volk auslöschen würden. Bestenfalls stand ein Leben in Unterdrückung bevor. Dazu kam der kollektive Sinnverlust jener, die die Werte des Nationalsozialismus zwölf Jahre lang verinnerlicht hatten. Die moralischen, gesellschaftlichen und quasireligiösen Normen, die die Volksgemeinschaft ausgemacht hatten, brachen zusammen."
    Totaler Sieg oder selbst gewählter Untergang: Werbung für Selbstmord
    Totaler Sieg oder selbst gewählter Untergang. Gegen Ende des Krieges gab es in Zeitungen, Rundfunk und öffentlichen Verlautbarungen eine regelrechte Werbung für den Selbstmord. Es wäre zweifellos am besten, sagte ein Sprecher des Propagandaministeriums, wenn die vorrückenden Feinde nur noch tote Deutsche vorfänden. Beim letzten Konzert der Berliner Philharmoniker am 12. April, es endete mit Wagners "Götterdämmerung", sollen uniformierte Hitlerjungen mit Körben voller Zyankali am Ausgang gestanden haben. Man glaubt es kaum, doch es passt zur Logik des Regimes.
    Jahrelang hatten die Deutschen anderen den Tod gebracht. Angesichts ihrer Niederlage richtete sich die Gewalt nun gegen das eigene Leben und das ihrer Kinder. Sicher aus Angst, Verzweiflung und der Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen. Vermutlich aus innerer Leere nach dem Rausch und
    der erkalteten Liebe zum Führer. Vielleicht, so hofft man auf sinnlose Weise, auch aus Scham und Schuldgefühl.

    Florian Huber: "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945."
    Berlin Verlag 2015, 303 Seiten, 22,99 Euro.