Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Kolat: Struktureller und institutioneller Rassismus in Behörden

Die Sicherheit der Migranten in Deutschland sei "wahrscheinlich" nicht gewährleistet, sagt Kenan Kolat zur Arbeit des Verfassungsschutzes. Zudem müsse Günther Beckstein, ehemaliger Innenminister Bayerns, als Zeichen einer Anerkennung der NSU-Opfer, sein Landtagsmandat niederlegen, sagt der Vorsitzende der türkischen Gemeinde.

Kenan Kolat im Gespräch mit Friedbert Meurer | 12.07.2012
    Friedbert Meurer: Im Skandal um die Ermittlungen gegen die Rechtsterroristen der NSU, des Nationalsozialistischen Untergrunds, ist gestern innerhalb kürzester Zeit jetzt schon der dritte Chef eines deutschen Geheimdienstes zurückgetreten oder entlassen worden. Gestern traf es den Chef des sächsischen Verfassungsschutzes, Reinhard Boos. In seiner Behörde wurden offenbar Telefonprotokolle zurückgehalten, die sind dann plötzlich wieder aufgetaucht. Vorher war Heinz Fromm zurückgetreten, der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz; er musste erfahren, dass Akten einfach so in den Reißwolf gegeben wurden. Und dann ist ja auch noch der Verfassungsschutzpräsident von Thüringen gegangen, drei Spitzenkräfte also. Viele sind fassungslos über die Ermittlungspannen und die Blindheit der Behörden, die jahrelang eine unglaubliche zehnfache Mordserie nicht richtig zuordnen konnte oder wollte. Neun Migranten wurden mutmaßlich aus rechtsradikalen Motiven umgebracht, davon acht türkischstämmige und eine Polizistin. - Kenan Kolat ist Vorsitzender des Verbands der türkischen Gemeinde in Deutschland. Guten Morgen, Herr Kolat.

    Kenan Kolat: Schönen guten Morgen.

    Meurer: Nach den Berichten über die Rücktritte der letzten Tage und Wochen und über die Pannen, was denkt man in der türkischen Community über die Geheimdienst- und Mordaffäre?

    Kolat: Ich finde fast keine Worte mehr über den Zustand der Sicherheitsbehörden in Deutschland. Die Sicherheit der Menschen ist wahrscheinlich nicht gewährleistet, der Migranten in der Bundesrepublik Deutschland, wenn die Behörden so mit Akten umgehen, dass nicht einer weiß, was der andere tut. Also die Sicherheitsbehörden sind in einem erbärmlichen Zustand, insofern muss hier viel getan werden. Die Rücktritte zeigen ja, dass das Ausmaß noch nicht absehbar ist. Ich rechne mit weiteren Rücktritten von Sicherheitsbehördenchefs, aber auch von Politikerinnen und Politikern, das ist auch ein wichtiges Zeichen. Man kann jetzt nicht einfach zu der Tagesordnung übergehen und sagen, es waren nur Pannen, der eine hat den anderen nicht informiert. Nein, das ist der eine Teil sozusagen, die eine Frage. Die wichtigere Frage ist: Wieso kann es dazu kommen, dass so was überhaupt passiert? Das ist, denke ich mal, womit sich noch nicht der Untersuchungsausschuss beschäftigt hat.

    Meurer: Über die Frage reden wir gleich noch, Herr Kolat, wieso konnte es dazu kommen, zu diesen Pannen. Aber was Sie eben gesagt haben: Welche Politiker sollen denn Ihrer Meinung nach Ihren Hut nehmen?

    Kolat: Zunächst mal, die damals zuständig waren. Von denen sind ja die Minister, also einer oder zwei, im Amt. Ich denke, der bayrische damalige Innenminister ist ja noch Landtagsabgeordneter, zumindest muss er ja die Verantwortung übernehmen. Er hat das im Ausschuss auch gesagt, aber es gab dann keine Konsequenzen.

    Meurer: Also Günther Beckstein wäre das?

    Kolat: Herr Beckstein müsste zum Beispiel das Landtagsmandat niederlegen als Zeichen zumindest einer Anerkennung an die Opfer. Das ist, denke ich mal, das mindestens, was man verlangen kann.

    Meurer: Nun hat aber ausgerechnet Beckstein damals versucht, per Telefon oder vielleicht war es auch persönlich, man weiß es nicht genau, ich glaube, per Telefon, Volker Bouffier, damals Innenminister in Hessen, davon zu überzeugen, dass jener Beamte des Landesverfassungsschutzes, der in Kassel im Prinzip bei dem Mord in einem Internetcafé dabei war, aussagen soll. Also müsste Bouffier nicht eher zurücktreten?

    Kolat: Also Herr Bouffier muss erst mal vor den Untersuchungsausschuss kommen und dann werden wir sehen. Ich denke, natürlich trägt er auch die Verantwortung, auch sein Verfassungsschutzamt hat ja nicht die entsprechenden Unterlagen weitergegeben. Ich kann mir nicht erklären, dass V-Leute während des Mordes dort sitzen und davon gar nichts hören, das ist ja alles unglaublich und unglaubwürdig. Insofern muss erst mal das auch geklärt werden. Ich denke, Herr Bouffier wird auch vor dem Untersuchungsausschuss erscheinen und dann werden wir sehen. Ich denke, er trägt auch die Verantwortung.

    Meurer: Andererseits sagt er, er musste eben Ermittlungen beschützen und man kann nicht einfach so einen Beamten sozusagen öffentlichen Ermittlungen preisgeben.

    Kolat: Die Aufgabe eines Ministers oder eines Verfassungsschutz- oder eines Polizeibeamten ist nicht Schützen des Kollegen, sondern Schützen des Lebens von Menschen, und das ist hier Priorität. Das Umgekehrte ist passiert, die Menschen sind ermordet worden, und man kann nicht jetzt vom Schutz von Kollegen sprechen, das ist unglaublich.

    Meurer: Herr Kolat, zu dem Punkt, den Sie eben angesprochen haben. Wie erklären Sie sich, dass es zu dieser Ermittlungspannenserie bei den Verfassungsschutzämtern kommen konnte?

    Kolat: Es gibt natürlich eine strukturelle Frage innerhalb der Verfassungsschutz- und anderen Sicherheitsbehörden, dass die Informationen nicht weitergegeben werden. Dass die Struktur so ist, dass die V-Leute oder andere entsprechende Informationen nicht weitergeben, das darf nicht sein. Das ist erst mal die technische Frage, die geklärt werden muss. Die andere Frage ist sozusagen, wieso wir immer bei solchen Taten - hoffentlich passiert nie wieder, nie wieder in Deutschland so was - automatisch davon ausgehen, dass es eine innertürkische oder innerkurdische Angelegenheit ist, oder von organisierter Kriminalität ausgeht. Das ist, was wir den Behörden sozusagen als strukturellen Rassismus oder institutionellen Rassismus vorwerfen, dass die Menschen automatisch, die Sicherheitsbehörden automatisch von einem Bild der Migranten ausgehen und dieses dann bei sich strukturiert weiter verfolgen.

    Meurer: Die Polizei und die Geheimdienste sagen, wir hatten keine Hinweise gehabt, dass das alles einen rechtsradikalen Hintergrund hat. Warum ist das Rassismus?

    Kolat: Ja, aber wieso kommt man dann nach einem Tag gleich auf die Idee, das ist gar keine fremdenfeindliche Tat? Übrigens der Begriff "Fremdenfeindlichkeit" ist ja auch sehr interessant. Mit dem Begriff "Fremd" sagt man, ihr seid ja fremd, obwohl diese Menschen hier dazugehören. Schon der Begriff ist diskriminierend, sogar ein rassistischer Begriff, Fremdenfeindlichkeit. Insofern denke ich, man muss in alle Richtungen ermitteln. Zum Beispiel in England ist es so, nach den Ereignissen in den 90er-Jahren hat man gesagt, dass man bei einem Übergriff an sogenannte Menschen mit Migrationshintergrund dort automatisch zurzeit von einem rassistischen Anschlag ausgeht und in diese Richtung zunächst mal ermittelt. Wenn man dort nichts findet, dann kann man in andere Richtungen ermitteln. Aber hier bei uns ist es umgekehrt, weil bei uns geht man automatisch davon aus, dass so was nicht passieren darf und nicht passieren kann, und man war überrascht. Ich war gar nicht überrascht von diesen Übergriffen und Morden, wir wussten das alles. Ich kann Ihnen ein Beispiel geben. Als 2005, glaube ich, oder so in diesen Jahren mein Vorgänger sich an die Öffentlichkeit gewandt hat und gesagt hat, wieso geht man nicht davon aus, dass dies migrantenfeindliche oder rassistische Anschläge sein können, sind wir sozusagen in der Öffentlichkeit hart kritisiert worden, wie können wir so was sagen. Damit möchte ich sagen, dass man hier eine andere Struktur hat. Wir haben bestimmte Zuschneidungen für bestimmte Gruppen, Türken, Russenmafia, polnische und so weiter, all diese Sachen kommen natürlich bei den Beamten in den Kopf so rein, dass man automatisch von etwas anderem ausgeht. Das heißt, auch bei den Ermittlungen in Bayern zum Beispiel, wo Herr Beckstein immer wieder sagt, man hat in alle Richtungen ermittelt, zeigt das, dass von rund 200 Beamten, die zur Verfügung standen, 90 Prozent für die organisierte Kriminalität und in andere Richtungen ermittelt haben und dann sehr wenige in die Richtung sogenannter Fremdenfeindlichkeit.

    Meurer: Jetzt haben wir ja, Herr Kolat, diverse Untersuchungsausschüsse, in Erfurt und einen Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages in Berlin. Sind diese Untersuchungsausschüsse durch ihre Arbeit geeignet, das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden wiederherzustellen?

    Kolat: Ich denke, die Untersuchungsausschüsse sind sehr wichtig. Die waren ja auch am Anfang umstritten. Wir hatten als erster Verband überhaupt mal gefordert, dass so was gegründet wird. Das zeigt jetzt, dass durch diese Ausschüsse vieles ans Tageslicht kommt, und ich denke, es ist wichtig, dass wir durch diese Ausschüsse zunächst mal feststellen, wie der Zustand der Sicherheitskräfte ist, und ich habe Angst und Bange. Wenn ich so einen Verfassungsschutz und so eine Polizei habe, dann habe ich überhaupt kein Vertrauen. Man muss jetzt nachdenken, wie man das wiederherstellen kann. Aber die türkische, die Migrantenbevölkerung ist in ihren Befürchtungen jetzt bestätigt worden. Ich denke, wir wollten ja das Umgekehrte, aber leider ist es zurzeit so, dass überhaupt kein Vertrauen in die Sicherheitskräfte in Deutschland da ist, und das wirft natürlich die jahrelangen Bemühungen, die wir hier versuchen, den Menschen das Gefühl der Zugehörigkeit zu geben, plötzlich weg - nicht plötzlich, aber dadurch ist auch viel Porzellan zerschlagen worden.

    Meurer: Wie groß ist die Gefahr aus diesem Grund, Herr Kolat, dass zum Beispiel junge Deutschtürken durch die NSU-Affäre radikalisiert werden und vielleicht sogar gewalttätig werden?

    Kolat: Ja das glaube ich nicht. Aber die werden sagen, wir haben alles gewusst und jetzt passiert, was wir gewusst haben, was wir vermutet haben, der deutsche Staat hat hier zugeschaut, und das ist die Befürchtung, die ich habe bei den Menschen. Das Bild von ihnen für ihr Land Deutschland ist natürlich jetzt sehr viel ein anderes Bild geworden, und das ist nicht gut. Jetzt müssen wir alles tun. Ob wir das Vertrauen wiedergewinnen und wann, das wird dauern, das wird sehr, sehr lange dauern, und wir müssen gemeinsam jetzt schauen, dass weitere Konsequenzen, politische Konsequenzen gezogen werden und wir uns auch mit dem institutionellen Rassismus in Deutschland beschäftigen. Den Begriff "Rassismus" haben wir jahrelang sozusagen nie benutzt. Jetzt können wir den Begriff benutzen und wir müssen jetzt über diesen strukturellen institutionellen Rassismus mal in Deutschland richtig debattieren, um an Lösungen zu kommen. Es geht um Ausbildung, es geht um viele andere Strukturen in der Polizei, in den Verfassungsschutzämtern. Wir müssen schauen, dass wir ein anderes Bild haben. Wir müssen wegkommen von dieser unsäglichen Integrationsdebatte zu einer antirassistischen Gleichstellungspolitik. Wir brauchen mehr Partizipation von Menschen. All diese Fragen sind jetzt Fragen, die uns beschäftigen. Also diese Debatte der Integration muss jetzt aufhören und wir müssen jetzt über die Partizipationsmöglichkeiten, Teilhabemöglichkeiten sprechen. Gleichberechtigte Teilhabe, das ist, denke ich mal, wo wir eine andere Politik in Deutschland machen müssen. Das heißt, wir brauchen einen Paradigmenwechsel in der deutschen Migrations- und Integrationspolitik.

    Meurer: Das wäre jetzt noch mal ein Thema für sich, über das wir aber keine Zeit mehr haben zu reden. Herr Kolat, danke Ihnen. - Kenan Kolat, Vorsitzender des Verbands der türkischen Gemeinde in Deutschland, heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke und auf Wiederhören!

    Kolat: Auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.