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Kollabierende Systeme
Was Imperien und Lawinen gemeinsam haben

Der italienische Chemieprofessor Ugo Bardi hat ein Buch über den Seneca-Effekt geschrieben. Er bezeichnet damit den abrupten Zusammenbruch von Systemen: zu beobachten etwa bei Lawinen und Luftballons, aber auch bei Finanzmarktblasen und mächtigen Imperien.

Von Jantje Hannover | 27.11.2017
    Eis-Lawine bei Neko Harbor, Westseite der Antarktischen Halbinsel, Antarktis, Polarregionen (Hintergrundbild) Buchcover (Vordergrund)
    Wenn ein Luftballon platzt, eine Lawine entsteht, handelt es sich um Verknüpfungen in einer Netzwerkstruktur, die sich plötzlich neu organisieren. (imago stock&people/ Michael Nolan und Oekom Verlag)
    "Es wäre ein Trost für unsere schwachen Seelen und unsere Werke, wenn alle Dinge so langsam vergehen würden, wie sie entstehen; aber wie dem so ist, das Wachstum schreitet langsam voran, während der Weg zum Ruin schnell verläuft."
    Das sagte vor rund 2000 Jahren der römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca. Und als hätte Seneca diesen Satz beweisen wollen, war auch er im Laufe seines Lebens immer wohlhabender und einflussreicher geworden, sogar zum Berater von Kaiser Nero stieg er auf. Bis er in Ungnade fiel und schließlich verdächtigt wurde, Teil einer Verschwörung gegen den Kaiser zu sein, weswegen ihm Nero die Selbsttötung befahl.
    Netz, Knoten, Kollaps
    Den Autor Ugo Bardi, Professor für Chemie in Florenz, interessiert genau dieser rasche Absturz nach dem so erfolgreichen Aufstieg, eine Entwicklung, wie sie zum Beispiel auch zahlreiche physikalische Prozesse zeigen. Er tauft das Phänomen den "Seneca-Effekt". Bei den Grafiken und Abbildungen in Bardis Buch, meistens handelt es sich hier um Diagramme, die die Entwicklung verschiedener Elemente zeigen, ist die "Seneca-Kurve" die mit Abstand häufigste: "Allen Zusammenbrüchen sind bestimmte Eigenschaften gemeinsam. Es sind stets kollektive Phänomene, das heißt, sie treten nur in sogenannten komplexen Systemen auf, also in Netzstrukturen aus 'Knoten', die durch Verknüpfungen miteinander verbunden sind. Ein Kollaps ist die rasche Umstrukturierung einer großen Zahl solcher Verknüpfungen, unter Umständen auch ihr Zusammenbruch und Verschwinden."
    Am leichtesten lässt sich die Idee dieser Netzwerkstruktur in komplexen Systemen anhand des Internets verdeutlichen. Ugo Bardi zitiert das Beispiel des Facebook-Vorläufers Friendster. Einige Nutzer hatten sich abgemeldet, woraufhin andere feststellten, dass sie zu wenige Kontakte hatten und sich ebenfalls abmeldeten. Das Netz implodierte.
    Von Aufstieg und Untergang
    Auch wenn ein Luftballon platzt, eine Lawine entsteht oder sich die Spannung der Kontinentalplatten in einem Erdbeben entlädt, handelt es sich letztlich um Verknüpfungen in einer Netzwerkstruktur, die sich plötzlich neu organisieren - mit möglicherweise katastrophalen Folgen für den Menschen. Ein echter "Seneca-Ruin", wie Ugo Bardi sagt. Und er zeigt, dass bei Finanzblasen oder dem Kollaps mächtiger Imperien vergleichbare Kräfte wirken. Beispiel Römisches Reich. Nach Bardis Analyse musste es vor allem deswegen untergehen, weil die Rohstoffe Gold und Silber, das wichtigste Elixier des römischen Finanzsystems, immer schwerer zu beschaffen waren: "Erschöpfung ist ein kniffliger Begriff und er hat wenig oder gar nichts damit zu tun, dass ein Rohstoff tatsachlich knapp wird oder gar ausgeht. Vielmehr geht es um die Frage von Kosten und Nutzen. Bergbau ist mit Kosten verbunden, die im Lauf der Zeit steigen, weil die Bergleute zunächst die leicht zugänglichen und hoch konzentrierten Erze ausbeuten."
    Brauchten die Römer und ihre Vasallen anfangs nicht mehr als ein Sieb, um die Goldnuggets aus dem Flusssand zu waschen, waren schon bald Äxte und Pickel, Bergstollen und Rollwagen nötig. Am Ende verschlang der Rohstoffabbau so viel Geld, dass er sich nicht mehr lohnte. Und genau auf diesen Punkt steuere auch die heutige Menschheit mit Hochgeschwindigkeit zu, sagt Bardi. Auch wenn sie heute auf ungleich ausgefeiltere Technologien zurückgreifen könne und sich derzeit wegen des niedrigen Ölpreises in falscher Sicherheit wiege: "Leider sieht es gegenwärtig nicht so aus, als würden die Regierungen der Welt und die Öffentlichkeit das Problem der Mineralverknappung realisieren, und wir bewegen uns nur sehr langsam in Richtung eines sparsameren Verbrauchs. [...] Aber ganz gleich, was heute getan oder unterlassen wird: Das aktuelle Industriesystem der Welt muss großen Veränderungen unterworfen werden, so groß, dass sein Fortbestehen keineswegs gesichert ist."
    Die Zukunft der Welt
    Den Zusammenbruch der Weltwirtschaft wegen Rohstoffverknappung hatte auch der Club of Rome vor heute 45 Jahren mit seiner Studie "Die Grenzen des Wachstums" vorausgesagt. Bardi hält die damals per Computersimulation errechneten Szenarien für weiterhin aktuell. Diese sagten für die Parameter Ressourcen, Wirtschaftsentwicklung, Bevölkerungswachstum oder Nahrungsversorgung überwiegend Seneca-Kurven, also steile Abstürze, voraus. Der Kollaps könne unmittelbar bevorstehen, lasse sich aber - wie ein Erdbeben - nicht exakt voraussagen. Das Gleiche gelte für die Flora und Fauna des Planeten Erde, auch Gaia genannt, die wie die Weltwirtschaft in einer komplexen Netzwerkstruktur gedeihen.
    "Gemäß der Gaia-Hypothese verfügt das Ökosystem Erde über eine gewisse Fähigkeit, Bedingungen zu schaffen und aufrechtzuerhalten, die Leben ermöglichen, und unsere Erde verhält sich, zumindest teilweise, selbst wie ein Lebewesen. Das heißt, Gaia hält die Homöostase (das Gleichgewicht) aufrecht, sodass das Ökosystem in der Lage ist, große Katastrophen zu vermeiden und sich von unvermeidbaren zu erholen."
    Der Autor weist nach, dass die Erde in den letzten 542 Millionen Jahren, also seit komplexere Lebensformen existieren, eine annährend konstante Temperatur aufrechterhalten hat. Es scheint, dass die Erde die seither um fast ein Drittel zurückgegangene Sonneneinstrahlung ausgeglichen hat, indem sie den Kohlenstoffgehalt der Luft regulierte. Und wie wir wissen, dreht die Menschheit den Kohlenstoff-Thermostat zurzeit konsequent in die falsche Richtung.
    Fossil-Imperium am Scheideweg
    Ugo Bardis Bericht ist für den Nicht-Naturwissenschaftler stellenweise recht anspruchsvoll, zum Beispiel wenn es gilt, im Weltgeschehen das Wirken des zweiten Grundsatzes der Thermodynamik oder das Phänomen des Phasenübergangs zu entdecken. Aber der Autor verpackt sein breit aufgestelltes Wissen in einer humorvollen und gut verständlichen Sprache, er flicht geschichtliche Ereignisse, Anekdoten und sogar Science Fiction-Romane ein, und es gelingt ihm, den Leser immer wieder abzuholen.
    "Unser heutiges Imperium, das wir mit Fug und Recht als "Fossil-Imperium" bezeichnen können, steht an einem Scheideweg, denn die fossilen Brennstoffe haben ihr Verbrauchsdatum deutlich überschritten, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen. Dabei ist die Gefahr, die uns heute droht, weitaus gravierender (als bei den Römern) und der Handlungsdruck geradezu lebensnotwendig. [...] Die Dringlichkeit dieses Problems ist bislang noch nicht im ausreichenden Maße in das Bewusstsein unserer imperialen Herrscher vorgedrungen."
    Und weil das so ist, hat Ugo Bardi einige Kapitel der Bewältigung des Kollapses gewidmet. Diese Möglichkeiten hält er jedoch recht vage und relativiert sie, angesichts der Egoismen der Menschen und ihrer Tendenz, einmal Gewonnenes nicht wieder hergeben zu wollen. Immerhin berge der Zusammenbruch auch Chancen, denn nur so könne Neues entstehen. In jedem Fall bleibt Bardis Versuch, die drohende Gefahr für die Bewohner des Planeten Erde anhand der Vorgänge in komplexen Systemen etwas konkreter zu machen, absolut lesenswert.
    Ugo Bardi: "Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können",
    aus dem Englischen übersetzt von Gabriele Gockel und Sonja Schumacher, Oekom Verlag, 312 Seiten, 25 Euro.