Beginnen wir diese Kolumne vor der Europawahl mal etwas persönlicher: zweimal habe ich ein Fernseh-Duell der Spitzenkandidaten für das Europaparlament moderiert, 2014 Schulz gegen Juncker, 2019 Timmermans gegen Weber. 2014 wurde die EVP stärkste Kraft und Jean-Claude Juncker auf Vorschlag des EU-Rats vom EU-Parlament bestätigt und Kommissionspräsident. Das Duell hatte sich bewährt. Der Rat hatte das System der Spitzenkandidaten respektiert. Einer der beiden wurde Präsident.
Auswahl im Hinterzimmer statt auf der TV-Bühne
2019 lief es anders. Der Sozialist Frans Timmermans und der konservative Manfred Weber lieferten sich in Berlin ein Streitgespräch, das sich bald als Scheinduell herausstellte. Bei den Wahlen gab zwar wieder eine EVP-geführte Mehrheit, aber Weber wurde nicht Kommissionschef. Weil dem französischen Präsidenten Emanuel Macron, der so mitreißend von Europa reden kann, der Mann aus Niederbayern nicht passte. Aus Gründen, die nie wirklich klar wurden, setzte Macron auf Ursula von der Leyen, die ganz ohne öffentliche Debatte Kommissionschefin wurde.
Ich erzähle das als Beleg dafür, wie schwierig es ist, über Europa zu berichten. Gewiss, die formale Regel, dass der erfolgreiche Spitzenkandidat am Ende das Amt auch bekommt, gibt es auf europäischer Ebene nicht. Der EU-Rat behält sich die Entscheidung vor. Aber die aussichtsreichsten Kandidaten hatten sich gestellt und Millionen von Zuschauerinnen und Zuschauern waren dabei. Doch die Entscheidung fiel im Hinterzimmer. Unser Duell, ein Stück vorweggenommener europäischer Demokratie, war spektakulär gescheitert.
Viele Parteien, viele Protagonisten
Kein Wunder, dass es einen solchen Versuch vor den Wahlen am nächsten Sonntag nicht mehr gegeben hat. Stattdessen unübersichtliche Debatten mit zu vielen Protagonisten. Die EU hat sich selbst aus dem Programm genommen.
Nun präsentieren viele Kanäle Sondersendungen und Dokumentationen, die Zeitungen liefern auf Sonderseiten Informationen über die Parteien und die Kandidaten. Gut so. Dennoch fragt man sich beim Blick auf die Wahlplakate, worum geht es eigentlich? Wenn sich da Scholz und Merz an der Seite ihrer Spitzenkandidatinnen zeigen, geht es dann um eine Richtungsentscheidung für die EU oder um einen innenpolitischen Stimmungstest?
Dabei braucht Europa mehr Demokratie. In einem von den nationalen Regierungen geprägten System sind die Wahlen zum Europaparlament die einzige Chance von Bürgerinnen und Bürgern, in dieser Gemeinschaft der 27 direkt mitzubestimmen.
Eine echte Kommissionswahl im Parlament
Doch bei der Europawahl gibt es nicht nur ein demokratisches Defizit, es gibt wegen der fehlenden Fünf-Prozent-Hürde auch richtige Fehlanreize. Das versucht jetzt Wagenknechts BSW auszunutzen, die sich zum ersten Mal einem Wählervotum stellt. Dabei schielt sie unter leichteren Bedingungen als bei Landtags- oder Bundestagswahlen auf parlamentarische Absicherung und Pfründe, auch wenn sie in Brüssel „kaum kontrollierte EU-Technokraten“ am Werk sieht, die Europas Demokratie und Identität bedrohen. Die EU macht es ihren Gegnern wirklich leicht.
Europa sollte seinen Wählerinnen und Wählern mehr zutrauen und seinem Parlament mehr Befugnisse geben, einschließlich der Wahl und nicht nur der Bestätigung der Kommissionsspitze. Leider wird auch nach diesen Europawahlen der nächste Kommissionchef oder die Chefin in Brüsseler Hinterzimmern ausgekungelt werden. Da bleibt dem Wähler nur das Prinzip Hoffnung. Ein bürgernahes Europa braucht bei der nächsten Wahl in fünf Jahren wieder ein Fernseh-Duell, das seinen Namen verdient.
Peter Frey begann seine Karriere beim ZDF 1985, er berichtete aus Washington, gründete das ZDF-Morgenmagazin und übernahm später die Leitung des ZDF-Hauptstadtstudios. Von 2010 bis 2022 verantwortete er die Informationsangebote des Senders als ZDF-Chefredakteur.