Heuer: Der Kompromiss, den die Koalition gestern gefunden hat, sieht so aus, dass die SPD bekommt, was sie wollte. Was haben denn die Grünen bekommen?
Müntefering: Nein, nein, das kann man so nicht sehen. Sondern wir haben ja schon in den Koalitionsverhandlungen darüber gesprochen, was wir tun können, was wir tun müssen, um die Rentenversicherung zu stabilisieren. Wir haben gemeinsam die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze beschlossen, wir haben die Absenkung der Schwankungsreserve beschlossen. Und die reine Frage war ja: Was bedeutet das dann, was für ein Ergebnis wird dann sein? Und da muss man sich dann wieder orientieren am Wachstum, das für das nächste Jahr geschätzt ist, und wir haben da eine sehr realistische Linie eingezogen mit 1,5. Das bedeutet: Wir schätzen die Arbeitslosigkeit relativ hoch, und das wiederum bedeutet: Es kommt weniger in die Kasse. Und deshalb war das Ergebnis rechnerisch 19,5. Wir hätten vielleicht minimal drunter bleiben können, aber das hätte uns dann im Verlauf des nächsten Jahres wieder Probleme gebracht. Und insofern glauben wir, es ist uns allen nicht schwergefallen.
Heuer: Im Koalitionsvertrag, den Sie angesprochen haben, da steht ja noch 19,3 Prozent. Muss sich die SPD nicht an das halten, was im Koalitionsvertrag steht?
Müntefering: Das steht auch nicht im Koalitionsvertrag. Das wird zwar überall erzählt, aber es steht nicht drin. Diese 19,3 war eine der Rechengrundlagen während der Verhandlungen, aber die 19,3 sind im Koalitionsvertrag keineswegs aufgeschrieben worden. Und mit dem, was wir nun erreicht haben, ist es auch möglich, dass Mitte des Jahres die Rentenerhöhung stattfinden kann. Und insofern ist das schon eine runde Entscheidung.
Heuer: Die Grünen haben sich aber auch auf die 19,3 Prozent verlassen, und als davon die Rede war, dass es doch nochmal um 0,2 Prozent höher liegen soll, haben sie weitere Forderungen gestellt, zum Beispiel die Verschiebung der Rentenerhöhung.
Müntefering: Ja, die Kommunikation war nicht ideal da, da will ich auch uns gar nicht ausnehmen dabei. Aber das ist so, wenn man ein solches Gesetz mit solcher Komplexität – und es sind ja drei gleichzeitig, die wir vorbereiten – vorbereiten muss. Aber da können wir sicher besser werden, was die Abstimmung angeht. Das ist zugegeben.
Heuer: Fritz Kuhn, der Parteichef der Grünen, hat nach der Sitzung gestern abend gesagt, was die Grünen bekommen hätten, sei die Kommission zur Reform der Gesundheits- und Rentenpolitik. Die ist aber vorher schon angekündigt gewesen.
Müntefering: Ja, aber das hat doch nochmal eine größere Rolle gespielt – nämlich die Frage der nachhaltigen Sicherung der sozialen Sicherungssysteme überhaupt. Das, was wir im Augenblick machen in bezug auf Rentenversicherung – und übrigens auch in bezug auf Krankenversicherung –, ist die Stabilisierung der augenblicklichen Situation. Aber in beiden Bereichen muss es ja Nacharbeit geben, insbesondere im Bereich des Gesundheitswesens. Und deshalb diese Festlegung, die Präzisierung auf eine Kommission zur nachhaltigen Sicherung der sozialen Sicherungssysteme. Zur Berücksichtigung der demographischen Entwicklung finde ich, ist das eine große Herausforderung. Und da wollen wir in dieser Legislaturperiode deutlich weiterkommen. Das ist schon eine wichtige Entscheidung.
Heuer: Vor der Bundestagswahl, Herr Müntefering, war von Beitragsstabilität die Rede. Der damalige Arbeitsminister Riester hat diese Stabilität versprochen. Frau Merkel, die Oppositionsführerin, redet jetzt von einer Rentenlüge. Sie haben ja sicher nicht gelogen. Wie kann man sich aber so irren?
Müntefering: Das kommt darauf an, wie hoch man das Wachstum für das nächste Jahr einschätzt. Und wir haben nun leider erleben müssen, dass in diesem Jahr das Wachstum deutlich hinter dem zurückgeblieben ist, was die Wirtschaftsweisen uns Anfang des Jahres gesagt haben und was wir selbst auch vermutet haben. Und mit jedem weiteren Absinken des Wachstums ist natürlich auch die Einnahme bei den sozialen Sicherungssystemen und beim Finanzminister weniger geworden. Was wir jetzt im Augenblick machen, ist, dass wir die Wachstumsschätzung für das nächste Jahr von 2,5 auf 1,5 Prozent runterholen. Und das ist eine Größe, die ist haltbar für die nächsten beiden Jahre. Da sind wir ganz sicher. Und das bedeutet natürlich: Jetzt kommt weniger in die Kasse. Und daraus versuchen wir im Augenblick, die Konsequenzen zu ziehen. Wir schätzen uns nicht schön im Augenblick, sondern wir gehen ganz ehrlich an die Sache ran. Und ich glaube, für alle Beteiligten ist es das beste, dass wir jetzt eine solche realistische Linie aufbauen. Im übrigen, was die Rentenversicherungsbeiträge angeht: Sie werden natürlich nicht nur von den Arbeitnehmern, sondern auch von den Arbeitgebern bezahlt, paritätisch. Das bedeutet die Erhöhung der Lohnnebenkosten. Gerne tun wir das nicht, und wir verstehen auch, dass die Grünen an der Stelle sehr zurückhaltend waren. Aber wir glauben, es ist besser so zu machen, als nach einem halben oder dreiviertel Jahr dann nachkarten zu müssen.
Heuer: Irren, Herr Müntefering, ist ja menschlich. Und wer sich einmal irrt, dem kann das wieder passieren. Sollte das Wachstum weiter sinken: Erhöhen Sie dann den Beitragssatz bei der Rente erneut, oder ist jetzt definitiv Schluss?
Müntefering: Das sind jetzt Spekulationen an der Stelle. Ich meine, wir wissen nicht, was mit der Weltwirtschaft wird. Jedenfalls das, was wir binnenwirtschaftlich tun können, das tun wir. Und neben dem, was wir jetzt die ganze Zeit besprechen, haben wir natürlich gestern abend auch über die Umsetzung von Hartz gesprochen. Und Hartz bedeutet ja, dass wir intensiv darangehen, Beschäftigung zu schaffen, die Vermittlung zu verbessern, die Bundesanstalt für Arbeit zu modernisieren. Und wir sind schon überzeugt, dass das Wirkung haben wird. Und bei jedem Arbeitslosen, den wir weniger haben und bei jeder Arbeitsstelle, die wir zusätzlich schaffen, kommt natürlich auch mehr Geld in die Rentenversicherung oder in die sozialen Versicherungssysteme überhaupt. Und darauf müssen wir uns ausrichten. Wachstum braucht Beschäftigung, Beschäftigung bringt Wachstum. Und das ist auch die Lösung für die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme.
Heuer: Gerade bei der Umsetzung der Hartz-Vorschläge, Herr Müntefering, so ist zu hören, sparen Sie aber nicht so viel ein, wie Sie eigentlich einsparen wollten. Die Rede ist von 5,8 Milliarden Euro statt der ins Auge gefassten 6,5 Milliarden Euro.
Müntefering: Davon gehen wir eigentlich nicht aus. Es gibt unterschiedliche Schätzungen, welche Wirkung das haben wird. Aber wir werden ja schon im Verlauf der nächsten Woche mit der Aktion 'Kapital für Arbeit' beginnen, das heißt, dass dann Unternehmen, wenn sie Arbeitslose einstellen, ihre Eigenkapitaldecke verbessern können mit günstigen Bürgschaften. Und in den ersten Stunden, nachdem, was bekannt wurde, sind schon Hunderte von Anfragen eingegangen. Das heißt, da ist am Arbeitsmarkt etwas in Bewegung, und das wollen wir stützen. Wir wollen ja nicht nur defensiv die Beiträge erhöhen und versuchen, den Haushalt im Griff zu halten, sondern wir wollen auch aktiv und nach vorne hin Beschäftigung schaffen und für neue Impulse sorgen. Das gehört zu unserem Konzept der Mittelstandsoffensive auch noch mit dazu.
Heuer: Die Bürger, Herr Müntefering, hören jetzt immer von neuen Abgaben und Steuererhöhungen, sie hören von einer ganzen Reihe von Zahlen, die schwer zu sortieren sind. Können Sie ausschließen, dass es weitere Abgaben oder Steuererhöhungen geben wird?
Müntefering: Nun, wir haben gestern zum Beispiel beschlossen in der Runde, dass die Heizölsteuer, also die Steuer aufs leichte Heizöl – das ist das Öl, mit dem man heizt in der Wohnung, in den Häusern –, dass das nicht erhöht wird. Das war in den letzten Tagen auch im Gespräch, das haben wir an der Stelle aber verhindert. Und wir haben gleichzeitig dafür gesorgt, dass die Heizkosten für Gas und für Heizöl in der Spreizung bleiben, das heißt, dass das Gas nicht so stark erhöht wird, wie es zunächst vorgesehen war. Und wir sorgen bei der Ökosteuer auch dafür, dass Unterglasbetriebe zum Beispiel und Nachtspeicher nicht in dem Maße herangezogen werden, wie es erst vorgesehen war. Also, wir haben das jetzt schon abgewogen und ausgependelt, und ich glaube, dass es so, wie wir das jetzt beschlossen haben, es gerecht ist.
Heuer: Noch einmal die Frage, Herr Müntefering: Schließen Sie neue weitere Abgaben und Steuererhöhungen aus?
Müntefering: Ja, ich kann nicht erkennen, wo das sein würde oder wo das sein könnte. Das setzt natürlich immer voraus, dass wir Bewegung in den Arbeitsmarkt bekommen. Und darauf konzentrieren wir uns ja mit einem ganzen Teil von Geld. Es ist ja nicht so, als ob wir mit den Sparmaßnahmen, die wir jetzt durchführen, nur einfach die Kassen füllen würden, sondern es geht ja darum, dass wir Luft gewinnen für Investitionen. Der Bund hat im nächsten Jahr mehr Investitionen, größere Investitionen als jemals zuvor. Das bringt Arbeitsplätze, das bringt Anschub. Und darauf konzentrieren wir uns. Wir nehmen im Moment – das ist wahr – ein Stück weg vom Konsum, aber wir geben es in die Zukunftsfähigkeit des Landes, in die Bildung und in die Forschung und eben in die konkrete Infrastruktur.
Heuer: Anderes Thema, Herr Müntefering. Aus der EU-Kommission ist inoffiziell zu hören, das deutsche Defizit werde 2003 voraussichtlich auf 3,7 Prozent steigen. Kommt diese Schätzung hin?
Müntefering: Das weiß ich nicht, das kann ich auch nicht wissen. Bei diesem Defizit geht es ja um das, was Bund, Länder, Gemeinden und die sozialen Sicherungssysteme als Jahresergebnis haben. Das Jahr ist noch nicht rum. Ich kenne keine Schätzung, die soll ja Ende nächster Woche wohl kommen. Also, das kann ich nicht weiter kommentieren. Dass wir deutlich über drei Prozent sind, das haben wir schon vor 14 Tagen festgestellt und auch öffentlich gemacht. Aber eine konkrete Zahl kann ich nicht sagen.
Heuer: Angenommen, die 3,7 Prozent stimmen. Dann müsste ja weiter gespart werden. Haben Sie denn überhaupt noch Spielraum?
Müntefering: Ja, das ist ja genau das, was wir jetzt im Augenblick machen. Wir haben ja alles darauf angelegt, im Jahre 2003 wieder bei unter 3,0 Prozent zu sein. Darauf richten wir uns ja ein. Wir wollen, dass im nächsten Jahr wir den europäischen Stabilitätspakt wieder erfüllen – in Deutschland insgesamt, nicht nur Bund, sondern auch Länder und Gemeinden miteinander.
Heuer: Gleichzeitig versucht Deutschland aber, die Anwendung des Stabilitätspaktes zu flexibilisieren. Wie hoch muss denn die Überschreitung eigentlich sein, damit klar von einem 'Verstoß' gegen diesen Pakt gesprochen und dieser Verstoß dann auch ohne Wenn und Aber geahndet wird?
Müntefering: Der Verstoß beginnt bei über drei Prozent. Das ist klar. Ich glaube, dass wir in Deutschland allerdings für uns in Anspruch nehmen dürfen, dass wir besondere Lasten haben – beim Aufbau, beim Zusammenwachsen. Das ist eine riesige Aufgabe, die andere vergleichbare Länder nicht haben. Aber wir wollen uns an der Stelle überhaupt nicht drücken; wir wollen unseren Teil dazu beitragen, und deshalb nochmal: Für das nächste Jahr wollen wir wieder unter drei Prozent sein. Das, was Hans Eichel im Rahmen der Koalitionsvereinbarung vorgeschlagen hat, hat ja genau diese Zielrichtung auch: Genügend Geld zu schaffen für Investitionen im öffentlichen Bereich, zu versuchen, die Lohnnebenkosten zu stabilisieren und insgesamt natürlich auch die Nettokreditaufnahme nicht explodieren zu lassen. Das Ziel, die Nettokreditaufnahme auf Null im Jahre 2006 – das gilt unverändert.
Heuer: Sie erwähnen die besonderen Lasten Deutschlands. Und so, wie Sie die Praxis im Umgang mit dem Stabilitätspakt schildern, gewinnt man den Eindruck, dass da ein Spielraum über mehrere Jahre ausgeschöpft wird, der so eigentlich von Anfang an ja nicht vorgesehen war. Müsste man den Pakt nicht dann ehrlicherweise neu schreiben?
Müntefering: Nein, nein. Wir wollen ihn behalten, wir werden von uns auch keine Impulse geben, um ihn zu verändern. Wir haben allerdings deutlich gemacht, nachdem andere Länder in Europa über seine Flexibilisierung gesprochen haben – der Präsident selbst –, dass wir von Deutschland aus für dieses Jahr 2002 das auch für uns in Anspruch nehmen. Aber generell ist die Tendenz einer stabilen Entwicklung schon angebracht, und die wollen wir auch nicht unterlaufen.
Heuer: Der deutsche Finanzminister Hans Eichel hat zusammen mit seinem Amtskollegen aus Frankreich gestern vorgeschlagen, weitere Kriterien im Stabilitätspakt mit zu berücksichtigen, zum Beispiel die Inflation. Diese Kriterien sollen aber, sagt Eichel, nicht in den Vertrag geschrieben werden. Wieso denn nicht, wenn man doch so verfahren möchte?
Müntefering: Das weiß ich nicht. Dazu kenne ich die Meinung von Hans Eichel auch nicht. Die Diskussionen, die gestern da geführt worden sind, die sind bei uns in der Fraktion und in der politischen Öffentlichkeit noch nicht geführt worden. Insgesamt bin ich aber ganz sicher, dass ich Hans Eichel richtig interpretiere, wenn ich sage: Er tut als Finanzminister alles dafür, dass wir nicht zusätzlich uns verschulden, sondern dass der Staat seine Handlungsfähigkeit auch in Zukunft dadurch behält, dass er sparsam ist. Das ist die Voraussetzung dafür, dass etwas übrigbleibt für die wichtigen Investitionen in die Zukunft.
Heuer: Das war Franz Müntefering, der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Müntefering: Bitte schön, Frau Heuer.
Link: Interview als RealAudio