Und sie diskutierten im Rahmen von 158 thematischen Sektionen und 750 Exposés die Bedeutung von Beziehungen, Vergleichen, kulturellen Transfers und Verflechtungen zwischen Staaten, Völkern, Gemeinschaften und Individuen. Deutlich wurde das stetig wachsende Interesse an transnationaler Geschichtsschreibung sowie deren thematische Diversifizierung. Für den Pariser Kongress verantwortlich waren Wissenschaftler des Global and European Studies Institute an der Universität von Leipzig in Zusammenarbeit mit dem Exzellenzcluster "TransferS" der Pariser Elitehochschule Ecole normale supérieure. Suzanne Krause berichtet.
Die Teilnehmer des 4. Europäischen Kongresses für Welt- und Globalgeschichte verfolgen ein ambitioniertes Ziel: sie wollen einem historischen Paradigmen-Wandel den Weg bereiten. So drehten sich in Paris viele Diskussionen um das Dauerbrenner-Thema 'Zentrum und Peripherie'. Seit dem 19. Jahrhundert hat ein langer historischer Prozess zur Herausbildung von Zentren geführt, die andere Gegenden der Welt ökonomisch, politisch zu Peripherien gemacht haben. Dieses Paradigma ist in Auflösung begriffen, erläutert Matthias Middell, Leiter des Global and European Studies Institute an der Universität von Leipzig.
"Letztlich lautete die These, dass dies ein sehr stabiler Prozess sei, der sehr langfristig haltbar ist. Und nun sehen wir am Aufstieg Chinas, am Aufstieg anderer sogenannter BRICS wie Indien, Brasilien, Südafrika und so weiter, dass das keineswegs der Fall ist. Sondern wir sehen, dass sich diese Relationen verschieben und dass etwas Peripherie werden kann, was gestern noch Zentrum war. Und etwas Peripherie bleiben kann, was Peripherie war. Und insofern stehen wir vor einer Herausforderung, die bis in die heutige Politik reicht, diese neue Dynamik von Zentrum- und Peripherie-Bildung historisch zu beobachten und auch politisch zu analysieren."
Das Thema Zentrum und Peripherie prägt seit Jahren auch die politische Aktualität in Frankreich, frühere Weltmacht, nun auf wirtschaftlichem Schlingerkurs. Dem Begriff Globalisierung haftet hier immer noch etwas Anrüchiges an. Und dem vor allem im angelsächsischen Raum erstarkenden Zweig Welt- und Globalgeschichte standen französische Historiker lange Zeit mehr als skeptisch gegenüber. Waren sie doch überzeugt davon, auch dank der traditionellen engen Beziehungen zu den frankophonen Regionen speziell in Asien und Afrika von Paris aus Weltgeschichte universal, global betrachten zu können. Dass nun erstmals ein Lehrstuhl für Globalgeschichte am altehrwürdigen Pariser Collège de France eingerichtet wurde, sei Sinnbild eines Wandels, sagt Michel Espagne. Deshalb auch holte der Germanist, an der Elitehochschule Ecole normale supérieure federführend im Bereich Kultur-Transfer, den diesjährigen Europäischen Kongress für Welt- und Globalgeschichte nach Paris:
"Ich habe den Eindruck, es ist zum ersten Mal vorgekommen, dass Historiker aus der ganzen Welt im großen Hörsaal des Collège de France über eine Form der Geschichtsschreibung reflektieren, die Grenzen sprengen möchte."
Grenzen wie die traditionelle Beschränkung vor allem französischer Historiker auf die Annalen-Forschung.
"Ich glaube, wir machen jetzt Schluss mit dieser Form der Geschichtsschreibung als Pflege der Erinnerungsorte."
Mit der Nabelschau also, bei der vor allem Schlachten zur Konstruktion nationaler Identität herangezogen wurden. Um neue Horizonte zu eröffnen, legte der Kongress einen Schwerpunkt auf die Forschung zur Geschichte Zentralasiens. Denn dank der Seidenstraße und anderer traditioneller Handelswege gilt Zentralasien als Paradebeispiel im Bereich Kulturtransfer, so Michel Espagne:
"Wir wollen am ehesten die Orte berücksichtigen, wo sich eben Wege kreuzen. Ich glaube, die neue Geschichte, die im Anmarsch ist, also diese Globalgeschichte, die transnationale Geschichte, soll den Akzent auf Forschungsunternehmen legen, die sich auf Orte der Begegnung fokussieren. Mein Kollege und Freund Matthias Middell spricht gern von Globalitäts-Portalen."
Dominiert wird die Forschung zur Welt- und Globalgeschichte bislang von Arbeiten aus dem angelsächsischen Raum. Deshalb stand nun beim europäischen Historiker-Treffen die Frankofonie im Mittelpunkt, berichtet Espagne:
"Wir haben festgestellt beispielsweise, dass Afrika zur Zeit in der französischen Außenpolitik eine große Rolle spielt, dass die afrikanischen Historiker aber in ihrer Entwicklung kaum wahrgenommen werden. Und wir haben gedacht, das wäre vielleicht ein interessanter Versuch, ihnen das Wort zu geben. Deshalb haben wir ziemlich viele Kollegen aus Afrika eingeladen, um über Globalgeschichte von ihrem afrikanischen Standpunkt aus zu reflektieren."
David Simo reiste aus seiner Heimat Kamerun an. Der Germanist gilt als einer der renommiertesten Forscher auf dem schwarzen Kontinent. Bei Aufenthalten in der westlichen Welt jedoch muss Simo regelmäßig Missions-Arbeit leisten und das gängige Vorurteil widerlegen, Afrika mangele es an Geschichtsschreibung. Dann erinnert er an die hunderttausende Manuskripte in Malis Wüstenstadt Timbuktu, die teils schon im 13. Jahrhundert entstanden sind. Darunter die sogenannten Tariq-Chroniken, in denen afrikanische Missionare im Mittelalter, beim Einfall der Araber, die Geschichte ihres Volkes in Nord-Mali festhielten. Simo:
"Wenn man bedenkt, dass Afrika lange Zeit überhaupt die Geschichtlichkeit abgesprochen wurde, dass Afrika nicht geschichtlich ist, wenn man bedenkt, dass dies lange Zeit als selbstverständlich galt und auch reproduziert wird, dann versteht man, dass es ja keine banale Aufgabe ist, mal so einen Satz zu formulieren: Es gibt eine intellektuelle Geschichte Afrikas. Und dabei selbstverständlich darauf zu verweisen, dass Afrika nicht nur der Kontinent der Oralität ist, wie das oft behauptet wird. Sondern dass es eine schriftliche Tradition auch in Afrika gibt. Das sind Versuche, die im Grunde, sagen wir, durchaus subversiv gegenüber dem dominierenden Diskurs ist."
Für die westliche Welt gilt Afrika als Peripherie. Für die dortige Bevölkerung jedoch ist ihr Kontinent das Zentrum ihrer Welt. Beim Kongress-Auftakt skizzierte Boubacar Barry die Herausforderung, als Afrikaner ein eigenes Geschichtsbewusstsein zu entwickeln. Der Senegalese ist Professor für Zeitgeschichte an der Cheikh-Anta-Diop-Universität in Dakar:
"Nehmen wir nur mein Beispiel. Ich gehöre zu einer Generation, die noch die französische Kolonialherrschaft erlebt hat. Die also formatiert wurde auf die Geschichte Galliens. In der Schule wurde mir beigebracht, meine Vorfahren seien Gallier. Und dann kam mein Land auf seine eigene Kultur zurück, nachdem es die Unabhängigkeit errungen hatte."
Bei der Kongress-Eröffnung berichtete Catherine Coquery-Vidrovitch, Grande Dame der Afrika-Studien, dass sie gerade bei einem Wissenschaftler-Treffen in Brasilien war. Als einzige Europäerin in der Runde, zwischen afrikanischen Forschern, die in der Heimat oder auch in der Diaspora arbeiten. Gemeinsam wollen sie nun ein Werk zur Geschichte Afrikas schreiben. Dies sei, sagt die französische Historikerin, längst überfällig. Denn selbst wenn westliche Forscher die Fakten kennen - ihr Denken und ihr Blickwinkel seien eben nicht afrikanisch. Welchen Unterschied das macht, belegte Catherine Coquery-Vidrovitch an einem aktuellen Beispiel - der Forschung zum Ersten Weltkrieg. Rund 500.000 afrikanische Soldaten wurden von den Kolonialherren in Europa an die Front geschickt, mindestens jeder Fünfte kam dort um. Ihr Schicksal in der Fremde ist mittlerweile Gegenstand einiger westlicher Studien. Afrikanische Forscher hingegen arbeiten zu den Auswirkungen der Heimkehr ihrer Kriegsveteranen, resümiert Catherine Coquery-Vidrovitch:
"Die französische Armee beispielsweise brachte den Soldaten aus Afrika bei Einzug ein ganz rudimentäres Französisch bei, ohne Adjektive und Ähnliches. Dieser Slang wurde in Frankreich später Negersprache genannt. Als die Soldaten heimkamen, verfügten sie also über zusätzliche Kommunikationskompetenzen. Viele hatten sich dank ihres Militäreinsatzes aus dem Sklavenstatus befreien können. Bei ihrer Rückkehr galten sie bei der Kolonialverwaltung als Chefs. Das führte zu einer sozialen und politischen Revolution in Afrika. Darin bestand die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für Afrika. Und das geht weit über die tragische und spezifische Frage der schwarzen Soldaten in den europäischen Schützengräben hinaus."
Welt- und Globalgeschichte, so ein Ergebnis des europäischen Historiker-Kongresses, lässt sich nur schreiben, wenn alle Sprachen, alle Blickwinkel einbezogen werden. Wenn die Grenzen des herkömmlichen Denkens von Zentrum und Peripherie überschritten werden - zum Beispiel von jungen Akademikern mit kosmopolitischem Lebenslauf, die für ihre Studien weltweit Archive aufsuchen und so die transnationale Geschichtsschreibung beflügeln.
Bisherige Grenzen stellt auch der senegalesische Historiker Boubacar Barry infrage:
"Der universelle Ansatz in der Geschichtsschreibung wird wohl meiner Meinung nach von den Ländern eingebracht werden, die unter Kolonialherrschaft standen. Bislang jedoch haben es die ehemaligen Kolonialmächte noch nicht vermocht, ihr Denken zu entkolonialisieren. Zu verstehen, dass die Welt uns allen gehört. Die größte heutige Herausforderung ist: Wie kann man Bürger dieser Welt sein, mit gleichen Rechten? Denn man kann nicht wie Frankreich einerseits das Uran aus Niger besitzen wollen und gleichzeitig Nigrern den Aufenthalt verweigern in Frankreich, wo das Uran zum Einsatz kommt."