Gerner: Herr Schäuble, am 7. November auf dem Parteitag werden Sie neben dem Fraktionsvorsitz voraussichtlich auch Parteichef sein. Kurt Biedenkopf sagt, beides geht nur in der Regierung, nicht in der Opposition. Haben Sie die neuen Zeiten verpaßt?
Schäuble: Nein, ich glaube, über die Frage, ob man die beiden Ämter Parteivorsitz und Fraktionsvorsitz in einer Hand vereinigt, darüber kann man natürlich mit guten Argumenten unterschiedlicher Meinung sein. Die große Mehrheit im CDU-Bundesvorstand war anderer Meinung als Kurt Biedenkopf, und deswegen hat der Bundesvorstand diesen Vorschlag gemacht, aber der Parteitag muß am 7. November wählen.
Gerner: Wofür brauchen Sie die Machtfülle beider Ämter?
Schäuble: Ich weiß gar nicht, ob es so sehr eine Frage der Machtfülle ist. Ich glaube, wir müssen in der neuen Zeit als Opposition, für die wir nun in diesen vier Jahren durch die Wähler am 27. September den Auftrag bekommen haben, unsere Kräfte bündeln. Wir müssen im Parlament jeden Tag eine klare Alternative zur Regierungspolitik aufzeigen, und wir müssen als Partei natürlich auch die Grundsatzdebatte in unserem Lande voranbringen, die grundsätzliche Positionsbestimmung machen, ein Stück weit auch wichtige politische Themen voranbringen, Fragen beantworten, was die moderne Zeit, die Entwicklung am Ende dieses Jahrhunderts an konkreten Antworten verlangt. Das muß man arbeitsteilig machen, aber es ist gar nicht schlecht, wenn man es auch ein Stück weit mit vereinten Kräften tut.
Gerner: Von Ihnen wird erwartet, Herr Schäuble, daß Sie die Weichen stellen für die Erneuerung der CDU. Eine Kampfabstimmung um den stellvertretenden Vorsitz scheint unausweichlich. Kann man von Erneuerung reden, wenn Norbert Blüm und Erwin Teufel an ihren Kandidaturen festhalten? Ihre Intervention hat ja offenbar nicht gefruchtet.
Schäuble: Zunächst einmal haben wir ja vier stellvertretende Bundesvorsitzende. Für diese vier Positionen gibt es natürlich in der großen CDU viele hervorragend geeignete Frauen und Männer. Deswegen ist es doch überhaupt nicht etwas Negatives, wenn sich für diese vier Positionen mehr als vier Kandidaten bewerben. Dann wird der Parteitag wählen. Darin sehe ich überhaupt nichts Negatives. Das ist das eine. Das andere ist genauso klar. Eine große Volkspartei braucht hervorragende Frauen und Männer aus allen Schichten, aus allen Politikbereichen. Sie braucht junge und sie braucht erfahrene. Die richtige Mischung ist es. Es wäre ganz falsch, nun aus der CDU eine Parteiführung zu machen, in der nur noch junge Frauen und Männer sind, sondern die richtige Mischung ist es. Deswegen glaube ich, auf Politiker wie Norbert Blüm sollte die CDU nicht verzichten.
Gerner: Es geht aber auch um eine Richtungsentscheidung. Ein Generationswechsel wird in Ihrer Partei, aber auch von der Öffentlichkeit erwartet. Werden Sie darauf drängen, daß einer der sogenannten "jungen Wilden" unter den Stellvertretern ist?
Schäuble: Die Etikettierung hat ja immer ihr Problem. Natürlich werden wir in der Partei, wie übrigens auch in der Fraktion, auch eine ständige Veränderung haben. Das ist ja das entscheidende: bewahren und verändern, Kontinuität und Wandel. Das war übrigens in den vergangenen Jahren, in denen Helmut Kohl Bundesvorsitzender der CDU war, auch nicht anders. Deswegen haben wir ja sehr viel mehr jüngere bekannte Politiker als beispielsweise die SPD. Der Generationswechsel, die Veränderung ist eine ständige Aufgabe, und das geht auch immer mit Auseinandersetzungen. Die jüngeren drängen gegen die älteren, da gibt es eine Auseinandersetzung, das gibt ein Stück Spannung und Belebung in die Partei. Das ist gut so, und deswegen ist das überhaupt nichts Negatives.
Gerner: Das ist alles sehr allgemein, und ich kann verstehen, daß Sie vor den heutigen Sitzungen mit Namen nicht herauswollen. Deshalb aber noch mal konkret die Frage: Muß Christian Wulff im Sinne des Generationswechsels in der neuen Stellvertreterspitze vertreten sein?
Schäuble: Ich sage es noch einmal, Sie haben ja völlig Recht. Ich werde ja einen Teufel tun, jetzt im Rundfunk Fragen zu beantworten, die der Parteitag entscheiden muß. Das wird auch heute nicht im Bundesvorstand oder im Präsidium der CDU entschieden. Der nimmt die Kandidaturen zur Kenntnis, erörtert sie, aber entscheiden tut der Parteitag. Die rund 1 000 Delegierten des CDU-Parteitages sind souverän. Sie werden und sie wollen wählen, und sie wollen natürlich nicht, daß die Oberen ihnen vorgeben, was sie zu wählen haben. Das ist nicht unser Verständnis von innerparteilicher Demokratie.
Gerner: Die Auseinandersetzung in der Parteispitze spiegelt ja auch einen Konflikt zwischen Arbeitnehmerflügeln und jenen, die mehr Wirtschaftsnähe für sich beanspruchen innerhalb der CDU. Norbert Blüm hat von einer Gerechtigkeitslücke in Ihrer Partei geredet, die letztendlich zur Niederlage bei der Bundestagswahl geführt habe. Blüm hat sogar von Vorschlägen aus dem sozialen Kühlhaus geredet.
Schäuble: Ich kenne die Äußerungen nicht, die Sie jetzt Norbert Blüm unterstellen.
Gerner: "Stern"-Interview.
Schäuble: Das habe ich noch nicht gelesen. Der erscheint ja auch erst heute. Meine Meinung ist die folgende: Eine große Volkspartei der Mitte muß natürlich zwischen unterschiedlichen Gesichtspunkten und Interessen ein Stück weit Ausgleich finden. Deswegen gibt es immer auch in der Sache übrigens einen Konflikt zwischen wirtschaftlichen und sozialen Argumenten. Man muß den richtigen Ausgleich finden. Das ist die Leistung, die große Leistung der Volkspartei CDU - auch CSU - immer gewesen. Das muß man aber nicht immer gleich mit einem negativen Attribut versehen. Schauen Sie, die Demokratie lebt von der Diskussion und von der Auseinandersetzung. Daraus entsteht Spannung, Dynamik und Bewegung, und das machen wir. Das heißt nicht Streit und nicht Konflikt.
Gerner: Auch das ist wieder sehr allgemein, Herr Schäuble. Sie haben offenbar bei der Wahl ja ein soziales Gerechtigkeitsempfinden vieler Wähler nicht getroffen. Die Wählerwanderungen zur SPD deuten das auch an. Was wollen Sie dort korrigieren?
Schäuble: In der Sache ist meine Meinung auch ein wenig differenzierter. Ich glaube, das vorherrschende Motiv für die Wahlentscheidung am 27. September ist gewesen, daß die Menschen ein diffuses Bedürfnis nach Wechsel hatten, und das hat die SPD befriedigt. Im übrigen hat sie es ja ohne Inhalt befriedigt. Die SPD hat ja auch gesagt, sie wolle gar nicht sehr viel anderes machen. Das ist der eigentliche Grund. Man hat uns ja im Nachhinein nicht vorgeworfen, manche Maßnahmen seien sozial nicht akzeptiert worden, sondern man hat uns ja vorher genauso vorgeworfen, wir hätten zu wenig oder zu spät Reformen gemacht. Das eine oder das andere kann nur richtig sein. Ich glaube, die Wahrheit liegt in der Mitte. Ich glaube auch nicht, daß wir das Koordinatensystem unserer Politik grundsätzlich verschieben müssen, sondern was wir immer und immer wieder leisten müssen ist, die Menschen davon zu überzeugen, daß unsere grundsätzliche Überzeugung, unsere Wertorientierung die richtigen Antworten für unser Land am Ende dieses Jahrhunderts sind. Das ist eine beständige, auch nicht immer leicht zu erfüllende Aufgabe. Es wird aber im übrigen in diesen Tagen der rot/grünen Koalitionsverhandlungen auch ein Stück weit deutlicher sichtbar, daß unsere Antworten besser gewesen sind als die unserer Konkurrenz. Wenn Herr Stollmann jetzt sagt - das war der Wirtschaftsministerkandidat der SPD -, das Steuerkonzept der CDU sei besser als das, was rot/grün verhandelt haben, dann zeigt das ja, es ist in der Praxis ein bißchen komplizierter.
Gerner: Herr Schäuble, Sie geben mir das Stichwort rot/grün. Mit welchem Partner in Bund und Ländern wollen Sie die linken Mehrheiten in Zukunft brechen? Alleine können Sie es nicht schaffen.
Schäuble: Nein, aber wissen Sie, wir stehen jetzt am Anfang unserer Oppositionsaufgabe.
Gerner: Sie wollen mir doch nicht sagen, daß Sie sich noch keine Gedanken darüber gemacht haben?
Schäuble: Nun gut, wir haben ein Bündnis mit der FDP in den letzten Jahren erfolgreich gehabt. Das war eine gute Zusammenarbeit. Unsere Freunde in Hessen beispielsweise, die ja unmittelbar vor einer ganz wichtigen Landtagswahl stehen, bei der wir fest entschlossen sind, daß wir sie gewinnen wollen und gewinnen können und gewinnen werden, die haben natürlich die Absicht, mit der FDP zusammen in Hessen die Landesregierung zu übernehmen. Es entscheidet sich aber ein Stück weit von Fall zu Fall. In Hessen ist es so, im Bund ist es auch so gewesen, und für die anderen Wahlen werden wir es immer dann entscheiden - übrigens die anderen Parteien auch -, wenn die Entscheidungen anstehen.
Gerner: Trotz der Verdienste von Helmut Kohl um die deutsche Einheit, die CDU ist heute ihrer Wählerschaft nach eine West-Partei. Nach Ihrem Vorstoß vor einigen Tagen forderte jetzt Eberhard Diepgen, die ehemaligen Funktionseliten der DDR, wie er sagte, in die Überlegungen der CDU mehr einzubeziehen. Woher der Sinneswandel? Kommt man so an neue Wähler? Ist das Ihre Erwägung?
Schäuble: Das was ich gesagt habe, ist überhaupt kein Sinneswandel, sondern es ist die ganz selbstverständliche Praxis der CDU, die wir ja auch so des öfteren beschlossen haben seit Anfang der 90er Jahre, nämlich daß diese Fragen nicht bundesweit einheitlich entschieden werden, sondern von jedem Orts- und Kreisverband auch in Würdigung der Personen. Eines will ich aber doch einmal sagen: Mir kommt die Debatte manchmal ein wenig absurd vor. Wir sind jetzt acht Jahre nach der deutschen Einheit oder neun Jahre nach dem Fall der Mauer. Es geht ja auch nicht um die Frage, ob man mit der PDS als einer postkommunistischen Partei zusammenarbeitet, wie es die SPD bedauerlicherweise in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern tut, sondern es geht doch um die Frage, ob Menschen, die in früheren Zeiten sich anders entschieden oder verhalten haben, als wir es für richtig gehalten haben, acht oder neun Jahre danach auf Lebenszeit von der Teilhabe am politischen Leben ausgeschlossen bleiben sollen oder nicht. Und da kann es doch nur eine Antwort geben: Wer sich zu den Grundwerten freiheitlicher Demokratie bekennt und dafür entscheiden will, den kann man doch nicht zurückstoßen.
Gerner: Herr Schäuble, wenn Herr Diepgen aber sagt, ehemalige Eliten der DDR einbeziehen, mit welchem Recht zieht die CDU dann noch über die PDS her?
Schäuble: Erstens einmal müssen Sie den Herrn Diepgen fragen, wenn Sie interpretiert haben wollen was er gesagt haben soll. Zweitens sage ich noch einmal: Sie müssen doch unterscheiden zwischen einer Partei und den Menschen. Sie können doch nicht Menschen, die sich früher einmal anders verhalten haben oder entschieden haben, als wir es für richtig halten, lebenslänglich von der Teilnahme am politischen Leben ausschalten, wenn Sie sich heute zu den Grundwerten unserer freiheitlichen Demokratie bekennen. Aber etwas völlig anderes ist doch, daß sie mit einer Partei, die weiterhin nicht zweifelsfrei auf dem Boden des Grundgesetzes steht - die PDS ist ja zum Beispiel Gegenstand der Beobachtung durch den nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz gewesen -, nicht Regierungsverantwortung teilen. Das genau halte ich für falsch, und das ist das, was die SPD zur Zeit in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt macht. Das ist doch ein Unterschied zwischen den Menschen und der Partei.
Gerner: Herr Schäuble, die Spatzen pfeifen es von den Dächern, daß Angela Merkel die neue Generalsekretärin wird. Wird sie mehr General oder Sekretärin sein?
Schäuble: Ich habe ja gesagt, daß ich den Gremien der Partei meinen Vorschlag machen werde. Die paar Stunden werden Sie es auch noch abwarten können. Die Überraschung wird wahrscheinlich nicht so riesig sein. In jedem Fall muß der künftige Generalsekretär der CDU natürlich General in erster Linie sein. Das ist gar keine Frage.
Gerner: Gegen Helmut Kohl aufzumucken, haben sich außer Kurt Biedenkopf kaum welche getraut in den letzten Jahren. Wie wollen Sie die Streitkultur wieder herstellen in Ihrer Partei?
Schäuble: Zunächst einmal ist es ja ein Unterschied, ob man in den Gremien der Partei unterschiedliche Meinungen vertritt - das haben wir immer in den Jahren getan -, oder ob man öffentlich den Eindruck von Krach in der CDU produziert, was jeder Partei immer eher schadet. Das heißt, Streitkultur ist ja nicht eine Frage des Auftretens in Interviews gegeneinander oder in Talk Shows, sondern des inhaltlichen Ringens um richtige Lösungen.
Gerner: Wünschen Sie sich denn als künftiger CDU-Chef Leute in Ihrer Partei, die aufmucken?
Schäuble: Ich wünsche mir jedenfalls eine sehr intensive und lebendige Diskussion auf allen Ebenen der Partei und den richtigen Weg für unsere Partei und für unser Land.
Gerner: Wolfgang Schäuble war das, der Fraktionschef von CDU/CSU und künftiger Parteichef der CDU. Herzlichen Dank für dieses Gespräch nach Bonn.