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Konfrontation mit unserer Sterblichkeit

Filmemacher, Aktionskünstler, Theater- und Opernregisseur, Provokateur – Christoph Schlingensief hatte viele Gesichter. Und er hat sie gelebt, wie das von seiner Witwe Aino Laberenz herausgegebene Buch "Ich weiß, ich war's" auf bewegende Weise zeigt. Es versammelt Texte aus den Jahren 2009 und 2010, Interviews, Blog-Einträge, Emails, Fotos und Dokumente aus dem Nachlass.

Von Annette Brüggemann | 15.11.2012
    Christoph Schlingensief: "Glauben heißt ja eigentlich auch, eine Wahrheit suchen, aber vielleicht auch schon wieder ahnen, dass es das gar nicht sein kann. Also vielleicht ist es auch schon wieder genau anders rum... gütiger Gott - kann nicht sein! Gott ist gut, aber die Schöpfung ist schlecht... also gibt's Gott oder ist Gott vielleicht gar nicht existent? Oder ist er auch schlecht? Es gibt ja all diese Verschachtelungen."

    Christoph Schlingensief's Buch ist existenziell – es dreht die Uhr zurück und zeigt, wofür es sich in jeder Sekunde zu leben lohnt. Da ist kein Satz zu viel und keiner zu wenig. Mal lapidar, mal poetisch, mal wütend, mal voller Trauer und Selbstzweifel, beflügelt von einem Humor, der um den Ernst der Lage weiß.

    Es sollte ein Band der "vorletzten Worte, der unvollendeten Gedanken" werden, schreibt seine Frau Aino Labarenz in einem berührenden Vorwort. Sie hat die Texte Ihres Mannes zusammengestellt. Christoph Schlingensief wollte keine "Gesamtschau" seines Lebens und seiner Projekte, keine Chronologie.

    Im Buch enthalten sind Texte aus den Jahren 2009 und 2010, Interviews, Blog-Einträge, Emails, Fotos und Dokumente aus dem Nachlass und die Aufzeichnung von Abenden wie im Schauspielhaus Bochum am 24. November 2009, an dem Schlingensief aus Anlass seines Krebstagebuchs in freier Rede aus seinem Leben erzählte. Als Tondokument sind diese Sternstunden auch auf dem gleichnamigen Hörbuch "Ich weiß, ich war's" zu finden.

    Mit 49 Jahren blickt Christoph Schlingensief zurück, während er noch so viel vorhat. In leisen Tönen wird klar, dass es ihm um mehr geht, als er in seinem vom Krebs gezeichneten Körper noch bewerkstelligen kann. Um etwas, das über ein einzelnes Leben hinausgeht, wie es seine Vision vom Operndorf in Burkina Faso in Afrika eindrücklich zeigt.

    Leben und Theater waren für ihn eine Art "Forschungsanstalt" mit allen Reibungsflächen und Überforderungen, Scheitern und Glücksmomente inbegriffen. Wer nur rum sitze und sparsam mit seiner Energie sei, der könne eben keine Wärme erzeugen, so Schlingensief.

    In seinem Buch erzählt er von seiner Kindheit und Kinomanie, von seiner Zeit im Bayreuther Festspielhaus bis hin zur Grundsteinlegung in Burkina Faso und von seinen unvergesslichen politischen Kunstaktionen.
    So gründet Christoph Schlingensief 1998 zur Bundestagswahl die Partei "Chance 2000". "Wähle dich selbst!" lautet ihr Motto. Die Partei wird zu einem unbegrenzten Theaterstück. Anhand einer demokratischen Gebrauchsanleitung erklärt sie den Parteilosen den Weg zur Direktkandidatur für den Deutschen Bundestag und erklärt sich zum Sammelbecken für die Randständigen der Gesellschaft. Mit 6 Millionen Arbeitslosen will Schlingensief am 2. August im Wolfgangsee das Wasser zu einer Flutwelle hochsteigen lassen, um Helmut Kohl mitsamt seinem Ferienhaus wegzuspülen:

    Christoph Schlingensief: "Als wir dann losgeschwommen sind, raus, da kam ein Boot an und da war ein Mann mit Megafon und schrie immer: "Herr Schlingensief, schwimmen Sie zurück!" "Nee, das geht doch nicht, die ganzen Leute..." und ich hatte auch wirklich Angst, dass ich untergehe, ich hab auch gar nicht die Kondition gehabt, auch früher nicht, und hinter mir die ganzen Leute und ich: "Nein, helfen Sie mir, sagen Sie Kohl, er soll ans Fenster kommen und er soll einfach nur winken, das reicht den Leuten, dann schwimmen wir zurück!" Und er so: "Nein, das kann ich doch nicht machen, Herr Schlingensief... schwimmen Sie zurück, schwimmen Sie sofort zurück!" Und ich: "Das mach ich doch nicht, die ganzen Leute... rufen Sie doch einfach an da und sagen Sie, er soll nur winken, nur einfach zeigen oder so..." "Herr Schlingensief, das kann ich nicht machen, der kommt nicht ans Fenster, was denken Sie denn' Das geht doch gar nicht, ich bin nur vom BND, was soll ich denn machen'" "Ja, machen Sie irgendwas, ich geh doch sonst unter..." Und dann hat der aber nichts gemacht... "Weg jetzt!" hat er gerufen, "Schluss, aus!" Und dann sind wir wirklich abgedreht und ich bin dann mit den letzten Atemzügen noch da angekommen am Ufer und hab mit Martin Wuttke dann zusammen Helmut Kohl, genau um die Uhrzeit, 16 Uhr, was-weiß-ich, 34 für tot erklärt. "Der Bundeskanzler ist tot. Er hat sich nicht gezeigt, er ist gerade verendet in seinem Ferienhaus und deshalb ist Deutschland jetzt führerlos. Deshalb wählt 'Chance 2000'!"

    2002 nimmt er den damaligen FDP-Spitzenpolitiker Jürgen W. Möllemann ins Visier, als dieser mit seinem berühmten israelkritischen Flugblatt Schlagzeilen macht.

    Vor Möllemanns ehemaliger, dubioser Wirtschafts- und Exportberatungsfirma startet er die einwöchige "Aktion 18 – tötet Politik" durch deutsche Städte. Er vollführt ein Voodoo-Ritual mit Huhn, verbrennt die israelische Flagge, verteilt 20 Kilo Federn und wirft 7000 Patronenhülsen in Möllemanns Firmengarten, während er "Möllemann, ich verfluche dich!" ruft.

    Zwei Jahre zuvor hatte Christoph Schlingensief in Österreich für Wirbel gesorgt. Im Rahmen der Wiener Festwochen stellt er nach dem Vorbild von "Big Brother" einen Container vor die Wiener Staatsoper. Auf dem Containerdach hisst er blaue Fahnen der Freiheitlichen Partei Österreichs - FPÖ - und stellt ein Schild mit der Aufschrift "Ausländer raus" auf. Im Jahr 2000 war der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel von der Österreichischen Volkspartei - ÖVP - mit der von Jörg Haider geführten FPÖ eine Koalitionsregierung eingegangen, obwohl Jörg Haider zuvor in seinen Wahlkampagnen die Abschiebung "integrationsunwilliger" und "ungebildeter" Immigranten befürwortete und einen "Stopp der Überfremdung" propagierte.

    Schlingensief macht aus Politik ernst:

    "Ja, meine Damen und Herren, jetzt geht es los! Kommen Sie rein! Betrachten Sie Ihren Asylbewerber! Wählen Sie seine Telefonnummer und schmeißen Sie ihn endlich aus Österreich raus!" Genau, es war so, dass man abends, das waren wirklich echte Asylbewerber, bis auf einen, das war ein Schauspieler, der war mit da drunter, um Ordnung zu schaffen, die Asylbewerber... wenn dann auch Kritiker rein gingen, so Journalisten rein gingen, kamen sie raus und sagten: "Das ist ja wirklich furchtbar, das sind ja wirklich Echte!" Am nächsten Tag in der Zeitung haben sie dann geschrieben: "Schauspieler". Das ging nicht, sie konnten nicht schreiben, dass es Echte sind. Es war irgendwie nicht drin, warum weiß ich nicht, das nur nebenbei... und dann konnte man eben die Leute raus wählen mit einer TED-Telefonnummer. Jeder hatte so ne Endung, -3, -4, -5, -6, -7, wie beim Gottschalk, und dann war der eben raus, wurde dann abends abgeführt, in eine Limousine, direkt zur Landesgrenze und dann war der weg. Und der Letzte, der überlebt hat, der Letzte, der drin blieb, durfte dann eine Österreicherin heiraten und deshalb eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, das war das Spiel. "Hier, meine Herren von der FPÖ, machen Sie Fotos von diesem Prototyp einer neuen ausländerfreien Gesellschaft! Das ist das neue Europa, dafür stehen wir grade..."

    Provokation war das Markenzeichen Christoph Schlingensiefs. Er lüftete Vorhänge, blickte hinter Kulissen und verschob die Grenzen zwischen Theater und Realität immer weiter.

    In Bayreuth, wo er 2004 den "Parsifal" inszeniert, installiert er eine rotierende Drehbühne aus Nomadenbauten und multifunktionalen Kinoleinwänden, um Tod, Auferstehung und Wiedergeburt in einem Raum-Zeit-Gefüge simultan erlebbar zu machen.

    In seinem Theaterstück "Kirche der Angst", das auf der Ruhrtriennale 2008 gezeigt wird, setzt er sich mit dem Fremden in sich selbst, dem Krebs, auseinander. Er baut die Kirche seiner Kindheit, in der er selbst jahrelang Messdiener war, als Kulisse wieder auf und feiert mit den Schauspielern ein Fluxus-Happening.

    Und dann als Steigerung und Endpunkt aller Inszenierungen bringt Schlingensief die Oper mitten ins Leben zurück. Schon viele Jahre zuvor war er nach Afrika gereist, dort möchte er seinen Traum eines Operndorfs realisieren – mit einem Opernhaus, einem Sportplatz, einem Krankenhaus, Wohnhäusern und einer Schule, in der es neben den regulären Fächern auch Film-, Kunst- und Musikklassen geben soll. "Um von Afrika zu lernen", wie Christoph Schlingensief immer wieder betont. Auf dem Weg dorthin lernt er den Architekten Francis Kéré kennen, der für seine Schulbauten in Afrika mit Preisen ausgezeichnet wurde. Dieser zeigt ihm seine Heimat Burkina Faso und hilft ihm, seinen Traum wahr werden zu lassen - 30 Kilometer östlich von Ouagadougou. Vor einem Jahr hat die Schule mit zwei Klassen für 100 Kinder ihren Betrieb aufgenommen.

    Die künstlerische Existenz Christoph Schlingensiefs war außergewöhnlich. In Zeiten, in denen Talentshows Karrieren versprechen. In denen Finanzmärkte von unserer Lebensrealität nicht weiter entfernt sein könnten. In denen Kategorien wie "Sicherheit" und "Kosteneffizienz" an Priorität gewinnen, konfrontiert uns Christoph Schlingensief mit unserer Sterblichkeit. Sein Buch berührt, setzt eine Zäsur. Hier ist ein Mensch gegangen, der sich leidenschaftlich verausgabt hat, mit allen Widersprüchen, für seine Kunst, für Andere – und er fehlt.

    Christoph Schlingensief: "So, Schluss... das darf nicht an die Öffentlichkeit."

    Christoph Schlingensief: "Ich weiß, ich war's".
    Herausgegeben von Aino Laberenz
    Kiepenheuer & Witsch 2012, 304 Seiten, gebunden, 19,99 Euro
    ISBN 978-3-462-04242-9

    Christoph Schlingensief: "Ich weiß, ich war's".
    4 CDs, Multi Jewelcase
    ROOF Music 2012, 19,99 Euro
    ISBN 978-3-941168-52-7