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Konjunkturforscherin: 20 Prozent der Arbeitnehmer profitieren von Jobgarantien

Sabine Klinger, Leiterin des Fachbereichs Konjunktur beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung "IAB" der Bundesanstalt für Arbeit, vermutet, dass die Finanzkrise Mitnahmeeffekte bei Unternehmen produzieren könnte. Die Firmen nutzten die wirtschaftspolitische Situation, um geschultes Personal kostengünstig zu halten.

Sabine Klinger im Gespräch mit Sandra Schulz | 16.12.2008
    Sandra Schulz: Ein Angebot, das aus Arbeitnehmerperspektive fast zu schön klingt, um wahr zu sein. Unter bestimmten Umständen will Siemens im kommenden Jahr auf betriebsbedingte Kündigungen verzichten. So die Ankündigung des Vorstandsvorsitzenden Löscher auf dem Gipfel am Wochenende. Auch ein Weihnachtsgeschenk für die Parteien der Großen Koalition, die sich im kommenden Bundestagswahlkampf mit ihrem Krisenmanagement für ihre Wiederwahl empfehlen wollen? Das kommt wohl auf die Bedingungen an. Im Januar will Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den DAX-Konzernen verhandeln, aber schon jetzt formiert sich Widerstand aus der Wirtschaft.


    Telefonisch verbunden bin ich nun mit Sabine Klinger, Leiterin des Forschungsbereichs Konjunktur und Arbeitsmarkt beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung "IAB" der Bundesanstalt für Arbeit. Guten Tag!

    Sabine Klinger: Guten Tag!

    Schulz: Frau Klinger, glauben Sie, dass dieser Kündigungsverzicht kommt?

    Klinger: Ich halte es zumindest für möglich, insbesondere eben von Großunternehmen. Sie zeigen auf diese Art und Weise auch, dass sie Verantwortung in der Krise übernehmen wollen, und zumindest für Großunternehmen kann man vielleicht auch schlussfolgern, dass sie diese Verantwortung übernehmen können.

    Schulz: Für wie sinnvoll hielten Sie so eine Verabredung?

    Klinger: Ich glaube, es ist wichtig, ein Signal zu setzen, dass alle Parteien ein Interesse daran haben, in dieser Krise Verantwortung zu übernehmen und zu reagieren. Die Unternehmen, insbesondere die Großunternehmen, tun das an dieser Stelle, indem sie sich zumindest verhandlungsbereit zeigen bezüglich solcher Jobgarantien.

    Schulz: Aber jetzt werden die Unternehmen so eine Selbstverpflichtung ja nicht aus reinem Altruismus unterzeichnen, vermute ich. Welche Gegenleistung wird die Bundesregierung erbringen müssen?

    Klinger: Zunächst muss meines Erachtens grundsätzlich in Frage gestellt werden, ob eine flächendeckende Jobgarantie möglich ist. Darüber hinaus ist es so, dass Menschen in der Ökonomie, ob nun Haushalte oder Unternehmen, auf Anreize reagieren und weniger aus Altruismus heraus. Insofern glaube ich, dass die Unternehmen, die solche Jobgarantien anbieten, aus dem Gesamtpaket von wirtschaftlichem und politischem Handeln auch einen Nutzen für sich selbst erkennen. Dies kann einerseits darin liegen, dass eben Unterstützungen durch die Bundesagentur für Arbeit, Stichwort Kurzarbeit, geleistet werden. Andererseits kann dies aber auch ein Argument sein, wenn nach der Krise wieder über die Gestaltung des Steuer- und Abgabensystems gesprochen werden wird.

    Schulz: Nutzen für sich selbst erkennen; lautet da das Stichwort auch Mitnahmeeffekte bei den Unternehmen?

    Klinger: Mitnahmeeffekte von politischen Maßnahmen kann man normalerweise nie ausschließen. Insofern ist an dieser Stelle sicherlich etwas dran, dass Unternehmen jetzt politische Möglichkeiten nutzen, um Personal kostengünstiger zu halten, welches sie ohnehin ungern losgelassen hätten. Das halte ich für möglich, denn es liegt selbstverständlich im Interesse der Unternehmen, ihre geschulten und eingearbeiteten Mitarbeiter zu halten, über die Durststrecke hinweg im Betrieb zu beschäftigen, denn es ist teuerer und schwerer geworden, geschultes Personal, Fachkräfte in den Betrieben zu finden und an die Betriebe zu binden.

    Schulz: Es ist jetzt ja offen, ob die Gelder ausreichen für die erweiterte Kurzarbeit. Mit Mehrkosten in welcher Größenordnung rechnen Sie?

    Klinger: Das kann ich nicht quantifizieren, denn die Haushaltsplanung obliegt der Bundesagentur für Arbeit, nicht dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. In Ihrem Beitrag wurde ja aber angesprochen, dass Vorstandsmitglied Alt zugesichert hat, dass diese Mittel zur Verfügung stehen werden.

    Schulz: Wenn wir jetzt noch mal auf diese angekündigte oder angepeilte Selbstverpflichtung der DAX-Unternehmen blicken. Wie viel Arbeitnehmer oder wie viel Prozent der Arbeitnehmer würden davon überhaupt profitieren?

    Klinger: Wir wissen, dass ungefähr 70 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Betrieben mit weniger als 250 Mitarbeitern arbeiten, 80 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Betrieben mit weniger als 500 Mitarbeitern. Sie sehen anhand dieser Relation schon, dass lediglich 20 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten übrig bleiben, die in Großbetrieben arbeiten und die von solchen Jobgarantien betroffen sein könnten.

    Schulz: Könnte es sein, dass die Bundesregierung, dass die Parteien der Großen Koalition bei den Verhandlungen, die jetzt laufen, auch das Wahljahr 2009 schon im Blick haben und sich eben vor Entlassungen schützen wollen und dafür auch tiefer sozusagen ins Staatssäckel greifen?

    Klinger: Das halte ich nicht für ausgeschlossen. Mein Eindruck ist dennoch, dass die Nachrichten über die Auswirkungen dieser Krise, auch über die Schärfe der Krise doch so deutliche Worte sprechen, dass es unabhängig von einem Wahljahr im Interesse der Politiker und der Wirtschaft, der Haushalte, der Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist zu reagieren, sich Gedanken zu machen, wie man auf diese Krise reagieren kann, um ihr Ausmaß einzuschränken.

    Schulz: Und nach den Reaktionen, so wie sie sich jetzt im Moment abzeichnen, reicht das aus Ihrer Sicht aus für ein Krisenmanagement?

    Klinger: Die Prognosen sind ja nach wie vor unsicher. Es gibt zwar sehr viele, aber niemand kann mit Sicherheit sagen, wie scharf tatsächlich die Krise wird. Insofern halte ich es für richtig, dass es diese Gespräche jetzt gibt, dass auch alle verschiedenen Seiten eingebunden werden in diese Gespräche, und dass sich die Regierung darauf vorbereitet, demnächst auch handlungsfähig zu sein.

    Schulz: Jetzt ist es ja eigentlich normal in einer Marktwirtschaft, dass Unternehmen Leute einstellen und im Rahmen des Kündigungsschutzes auch entlassen können. Mal ganz grundsätzlich gefragt: wie passt so ein Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen überhaupt zur Marktwirtschaft?

    Klinger: Ich glaube, dass ist hier eine Sonderreaktion – zum einen bedingt durch die Finanzkrise. Zum anderen ist es in einer Marktwirtschaft üblich, dass es Fluktuationen gibt, dass täglich Tausende Jobs entstehen, aber auch vernichtet werden. Dennoch funktioniert der Markt ja nicht über ein reines "hire and fire", sondern über Verhandlungslösungen. Gewerkschaften und Arbeitgeber setzen sich zusammen. Die Politik hat mehrfach versucht, Bündnisse für Arbeit auf die Beine zu stellen. Insofern ist es ein Argument, ein aufeinander Zugehen, dass man auch einmal besonders in schweren Zeiten betriebsbedingte Kündigungen vermeiden möchte, um aber auch in einer anderen Phase Argumente zu haben, von der Gegenseite Zugeständnisse einzuholen.

    Schulz: Wir führen ja immer wieder, vor allem vorangetrieben auch von der CDU, eine Debatte um die Lockerung des Arbeitsrechtes, um die Lockerung des Kündigungsschutzes. Rechnen Sie damit, dass diese Debatte einstweilen sozusagen verstummt?

    Klinger: Ich glaube, dass gerade bezüglich der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes in der Vergangenheit sehr viele und auch grundlegende Schritte gegangen sind. Sie haben während des zurückliegenden Aufschwungs erste Wirkungen für den Arbeitsmarkt gezeigt. Insofern halte ich es im Moment nicht für die richtige Zeit, über weitere Reformprojekte am Arbeitsmarkt zu sprechen. Ich glaube, dass wir gerade auch diesen Aufschwung gebraucht haben, damit sich die Reformschritte umsetzen können. Insofern halte ich jetzt tatsächlich Krisenbewältigung für die wichtigere Aufgabe.

    Schulz: Aber wenn die Krise vorbei ist, dann werden die Unternehmen mit Blick auf die Kooperation jetzt zu Krisenzeiten verstärkt mit ihren alten Forderungen in die Offensive gehen?

    Klinger: Das ist jedenfalls nicht auszuschließen und es ist rational aus Sicht der Betriebe.

    Schulz: Sabine Klinger, Leiterin des Forschungsbereichs Konjunktur und Arbeitsmarkt beim IAB der Bundesanstalt für Arbeit. Haben Sie vielen Dank!

    Klinger: Gerne. Auf Wiederhören!