Grimm: Guten Morgen.
Heuer: Der Bundesrat scheint zum Blockadeinstrument verkommen zu sein. Das sieht man zuletzt an der Zuwanderungsdebatte. Vor wenigen Jahren gab es Gerhard Schröders Geldgeschenke an die CDU-regierten Länder und dafür die Zustimmung zur rot-grünen Steuerreform. Welchen Eindruck hinterlässt so etwas beim Bürger, Herr Grimm?
Grimm: Ich denke, der Bürger merkt vor allem daran, wie sehr die Handlungsfähigkeit der Bundespolitik geschwunden ist. Er bekommt den Eindruck, dass diejenigen Reformen, über deren Überfälligkeit und Notwendigkeit eigentlich niemand streitet, trotzdem nicht auf den Weg kommen oder zu spät auf den Weg kommen, oder aber in verbesserter Weise, so dass sie nicht den Effekt erzielen, den man sich davon wünschen möchte.
Heuer: Jetzt zeigen sich ja alle Seiten gesprächsbereit, um den Handlungsspielraum wieder zu erweitern. Nach Ihren bisherigen Erfahrungen in der Föderalismuskommission, wollen wirklich alle einen Kompromiss, bei dem sie ja auch verlieren?
Grimm: Ich habe den Eindruck, dass der Leidensdruck mittlerweile so groß geworden ist, dass auf allen Seiten eine Bereitschaft besteht, etwas zu tun. Was im Prinzipiellen angestrebt werden müsste, darüber gibt es relativ große Einigkeit. Wenn es dann an die konkrete Umsetzung geht, zeigen sich erhebliche Kontroversen. Die Kontoversen sind diesmal nicht so sehr - wie wir es sonst häufig gewohnt sind - Kontroversen zwischen rechts und links, also zwischen SPD und CDU und den jeweiligen kleineren Parteien, sondern die Kontroversen sind in viel, viel stärkerem Maße Kontroversen zwischen der Bundesseite auf der einen Seite und der Länderseite auf der anderen Seite - ungeachtet der Parteienfrage.
Heuer: Jürgen Rüttgers, der Christdemokrat aus Nordhrein-Westfalen hat gestern gesagt, der Bund blockiere. Ist das auch Ihr Eindruck?
Grimm: Nein, das ist sicher nicht mein Eindruck. Es ist eher mein Eindruck, dass die Länder eine Verhandlungsposition aufbauen, bei der sie für jede Konzession, die sie machen - dabei geht es vor allem um die Abgabe von Zustimmungsrechten des Bundesrates - dass sie für jede einzelne Konzession, die sie machen, eine Gegenleistung verlangen. So ist es aber so gewesen, dass gerade dieses Spiel von Leistung und Gegenleistungen, uns bei Verfassungsänderungen in dieses Problem hinein geführt hat, das wir jetzt lösen wollen. Deswegen ist es nicht der richtige Weg zu sagen, für jede Konzession, die von Bundesseite gemacht wird, sofort eine Zug-um-Zug-Kompensation auf Länderseite. Ich denke, dass auf beiden Seiten gelegentlich das Interesse am Gesamtstatus wohl verloren geht. Es geht nicht primär darum, gewinnen hier Bund oder gewinnen hier die Länder, sondern es geht primär darum, gewinnt die Bundesrepublik Deutschland, die aus Bund und Ländern besteht.
Heuer: Eine Gegenleistung, die die Länder fordern, wenn sie Mitspracherechte aufgeben, ist die Zuständigkeit für die Bildungspolitik. Wie es heißt, vom Kindergarten bis zur Habilitation. Sollte der Bund aus Ihrer Sicht so weitreichende Zugeständnisse machen?
Grimm: Ich denke, dass es jedenfalls sinnvoll ist, wenn die Eigenständigkeit der Länder in denjenigen Bereichen, die ihnen zugewiesen sind - dazu gehören Bildung und Kultur - wieder erhöht wird. Auch in diesen Bereichen gibt es in hohem Grade Verflechtungen, so dass sich nicht nur für den Bund Handlungshemmnisse aufbauen, sondern auch für die Länder, weil sehr, sehr viele Dinge in diesem Bereich mittlerweile von allen siebzehn Partnern gemeinsam - sechszehn Ländern und dem Bund - geregelt werden müssen. Deswegen glaube ich, dass es im Prinzip richtig ist, den Ländern als Einzelnen, wieder größeren Spielraum zu verschaffen in denjenigen Gebieten, die ihre sind. Es ist auch berechtigt, den Ländern die Gebiete der Gesetzgebungskompetenz zu übertragen, die im Laufe der Zeit an den Bund gewandert sind, ohne dass dafür ein ausreichenden Grund besteht. Ob das nun so geschehen muss, dass es eine restlose Aufteilung gibt, oder ob es Bereiche gibt, in denen die Mitwirkung des Bundes nach wie vor sinnvoll ist - wie etwa bei der Forschungsförderung, die eine nationale Angelegenheit ist und sehr viel Geld kostet - das ist eine andere Frage. Aber im Prinzip ist es richtig, das zu tun.
Heuer: Aber wie kann man dann sicher stellen, dass der Bund, der ja auch eine Verantwortung nach außen hat, diese Verantwortung noch ungehindert wahrnehmen kann? Zum Beispiel gegenüber der Europäischen Union?
Grimm: Das ist ein drittes Kapitel bei den Reformüberlegungen. Wir haben ja zum Einen die Ebene des Bundes. Da geht es ja darum, dass die Handlungs- und Reformfähigkeit auf der Bundesebene wieder hergestellt wird. Dann haben wir die Länderebene, über die wir gerade gesprochen haben. Da geht es darum, dass den Ländern wieder größerer, eigenständiger Bewegungsspielraum zukommt. Das ist ja auch der Sinn des Föderalismus, dass man Vielfalt und Pluralität erhält - auch ein gewisses Wettbewerbsmoment - für die europäische Ebene. Das Problem auf der europäischen Ebene ist, dass die Europäische Union sich nicht darum kümmert, wer landesintern, deutschlandintern dafür zuständig ist. Dass wir ein föderalistisches Land sind, ist für die Europäische Union ohne Bedeutung. Sie hat es nur mit dem Bund zu tun. Das wirft ein innerdeutsches Problem auf. Auf der europäischen Ebene verhandelt der Bund, aber er verhandelt unter Umständen über Kompetenzen, die innerhalb unseres Staates den Ländern gehören. Dieses Problem ist durch eine Verfassungsänderung relativ kurz nach der Wiedervereinigung in den frühen Neunziger Jahren gelöst worden - durch den neuen Artikel 23. Aber meiner Meinung nach sehr schlecht gelöst worden, insofern als auch hier der Bund auf der europäischen Ebene, wenn er dort auftritt, sehr, sehr engen Bindungen unterliegt. Würden die Länder, diejenigen Mitspracherechte, die sie sich damals ausgehandelt haben bei der Verfassungsänderung der Neunziger Jahre, würden sie sie wirklich ausschöpfen, dann wäre Deutschland auf der europäischen Ebene zu einer relativen Bedeutungslosigkeit verdammt. Auch hier müssten Änderungen vorgenommen werden, und die Änderungen, die ich mir vorstelle, sind die, dass wenn Deutschland die europäische Ebene betritt, dort nur der Bund etwas zu sagen hat. Aber vorher, wenn die Standpunkte, die Stellungnahmen des Bundes zu europäischen Problemen gebildet werden auf der nationalen Ebene, dass dort die Länder ein erhebliches Mitspracherecht bekommen, oder wenn es um Bundesgesetzgebung geht, auch der Bundestag - um den geht es ja auch - erhebliches Mitspracherecht bekommt.
Heuer: Herr Grimm, ich danke Ihnen für das Gespräch. Dieter Grimm, Rektor am Wissenschaftskolleg in Berlin war das im Interview mit dem Deutschlandfunk.
Heuer: Der Bundesrat scheint zum Blockadeinstrument verkommen zu sein. Das sieht man zuletzt an der Zuwanderungsdebatte. Vor wenigen Jahren gab es Gerhard Schröders Geldgeschenke an die CDU-regierten Länder und dafür die Zustimmung zur rot-grünen Steuerreform. Welchen Eindruck hinterlässt so etwas beim Bürger, Herr Grimm?
Grimm: Ich denke, der Bürger merkt vor allem daran, wie sehr die Handlungsfähigkeit der Bundespolitik geschwunden ist. Er bekommt den Eindruck, dass diejenigen Reformen, über deren Überfälligkeit und Notwendigkeit eigentlich niemand streitet, trotzdem nicht auf den Weg kommen oder zu spät auf den Weg kommen, oder aber in verbesserter Weise, so dass sie nicht den Effekt erzielen, den man sich davon wünschen möchte.
Heuer: Jetzt zeigen sich ja alle Seiten gesprächsbereit, um den Handlungsspielraum wieder zu erweitern. Nach Ihren bisherigen Erfahrungen in der Föderalismuskommission, wollen wirklich alle einen Kompromiss, bei dem sie ja auch verlieren?
Grimm: Ich habe den Eindruck, dass der Leidensdruck mittlerweile so groß geworden ist, dass auf allen Seiten eine Bereitschaft besteht, etwas zu tun. Was im Prinzipiellen angestrebt werden müsste, darüber gibt es relativ große Einigkeit. Wenn es dann an die konkrete Umsetzung geht, zeigen sich erhebliche Kontroversen. Die Kontoversen sind diesmal nicht so sehr - wie wir es sonst häufig gewohnt sind - Kontroversen zwischen rechts und links, also zwischen SPD und CDU und den jeweiligen kleineren Parteien, sondern die Kontroversen sind in viel, viel stärkerem Maße Kontroversen zwischen der Bundesseite auf der einen Seite und der Länderseite auf der anderen Seite - ungeachtet der Parteienfrage.
Heuer: Jürgen Rüttgers, der Christdemokrat aus Nordhrein-Westfalen hat gestern gesagt, der Bund blockiere. Ist das auch Ihr Eindruck?
Grimm: Nein, das ist sicher nicht mein Eindruck. Es ist eher mein Eindruck, dass die Länder eine Verhandlungsposition aufbauen, bei der sie für jede Konzession, die sie machen - dabei geht es vor allem um die Abgabe von Zustimmungsrechten des Bundesrates - dass sie für jede einzelne Konzession, die sie machen, eine Gegenleistung verlangen. So ist es aber so gewesen, dass gerade dieses Spiel von Leistung und Gegenleistungen, uns bei Verfassungsänderungen in dieses Problem hinein geführt hat, das wir jetzt lösen wollen. Deswegen ist es nicht der richtige Weg zu sagen, für jede Konzession, die von Bundesseite gemacht wird, sofort eine Zug-um-Zug-Kompensation auf Länderseite. Ich denke, dass auf beiden Seiten gelegentlich das Interesse am Gesamtstatus wohl verloren geht. Es geht nicht primär darum, gewinnen hier Bund oder gewinnen hier die Länder, sondern es geht primär darum, gewinnt die Bundesrepublik Deutschland, die aus Bund und Ländern besteht.
Heuer: Eine Gegenleistung, die die Länder fordern, wenn sie Mitspracherechte aufgeben, ist die Zuständigkeit für die Bildungspolitik. Wie es heißt, vom Kindergarten bis zur Habilitation. Sollte der Bund aus Ihrer Sicht so weitreichende Zugeständnisse machen?
Grimm: Ich denke, dass es jedenfalls sinnvoll ist, wenn die Eigenständigkeit der Länder in denjenigen Bereichen, die ihnen zugewiesen sind - dazu gehören Bildung und Kultur - wieder erhöht wird. Auch in diesen Bereichen gibt es in hohem Grade Verflechtungen, so dass sich nicht nur für den Bund Handlungshemmnisse aufbauen, sondern auch für die Länder, weil sehr, sehr viele Dinge in diesem Bereich mittlerweile von allen siebzehn Partnern gemeinsam - sechszehn Ländern und dem Bund - geregelt werden müssen. Deswegen glaube ich, dass es im Prinzip richtig ist, den Ländern als Einzelnen, wieder größeren Spielraum zu verschaffen in denjenigen Gebieten, die ihre sind. Es ist auch berechtigt, den Ländern die Gebiete der Gesetzgebungskompetenz zu übertragen, die im Laufe der Zeit an den Bund gewandert sind, ohne dass dafür ein ausreichenden Grund besteht. Ob das nun so geschehen muss, dass es eine restlose Aufteilung gibt, oder ob es Bereiche gibt, in denen die Mitwirkung des Bundes nach wie vor sinnvoll ist - wie etwa bei der Forschungsförderung, die eine nationale Angelegenheit ist und sehr viel Geld kostet - das ist eine andere Frage. Aber im Prinzip ist es richtig, das zu tun.
Heuer: Aber wie kann man dann sicher stellen, dass der Bund, der ja auch eine Verantwortung nach außen hat, diese Verantwortung noch ungehindert wahrnehmen kann? Zum Beispiel gegenüber der Europäischen Union?
Grimm: Das ist ein drittes Kapitel bei den Reformüberlegungen. Wir haben ja zum Einen die Ebene des Bundes. Da geht es ja darum, dass die Handlungs- und Reformfähigkeit auf der Bundesebene wieder hergestellt wird. Dann haben wir die Länderebene, über die wir gerade gesprochen haben. Da geht es darum, dass den Ländern wieder größerer, eigenständiger Bewegungsspielraum zukommt. Das ist ja auch der Sinn des Föderalismus, dass man Vielfalt und Pluralität erhält - auch ein gewisses Wettbewerbsmoment - für die europäische Ebene. Das Problem auf der europäischen Ebene ist, dass die Europäische Union sich nicht darum kümmert, wer landesintern, deutschlandintern dafür zuständig ist. Dass wir ein föderalistisches Land sind, ist für die Europäische Union ohne Bedeutung. Sie hat es nur mit dem Bund zu tun. Das wirft ein innerdeutsches Problem auf. Auf der europäischen Ebene verhandelt der Bund, aber er verhandelt unter Umständen über Kompetenzen, die innerhalb unseres Staates den Ländern gehören. Dieses Problem ist durch eine Verfassungsänderung relativ kurz nach der Wiedervereinigung in den frühen Neunziger Jahren gelöst worden - durch den neuen Artikel 23. Aber meiner Meinung nach sehr schlecht gelöst worden, insofern als auch hier der Bund auf der europäischen Ebene, wenn er dort auftritt, sehr, sehr engen Bindungen unterliegt. Würden die Länder, diejenigen Mitspracherechte, die sie sich damals ausgehandelt haben bei der Verfassungsänderung der Neunziger Jahre, würden sie sie wirklich ausschöpfen, dann wäre Deutschland auf der europäischen Ebene zu einer relativen Bedeutungslosigkeit verdammt. Auch hier müssten Änderungen vorgenommen werden, und die Änderungen, die ich mir vorstelle, sind die, dass wenn Deutschland die europäische Ebene betritt, dort nur der Bund etwas zu sagen hat. Aber vorher, wenn die Standpunkte, die Stellungnahmen des Bundes zu europäischen Problemen gebildet werden auf der nationalen Ebene, dass dort die Länder ein erhebliches Mitspracherecht bekommen, oder wenn es um Bundesgesetzgebung geht, auch der Bundestag - um den geht es ja auch - erhebliches Mitspracherecht bekommt.
Heuer: Herr Grimm, ich danke Ihnen für das Gespräch. Dieter Grimm, Rektor am Wissenschaftskolleg in Berlin war das im Interview mit dem Deutschlandfunk.