Spengler: Lassen Sie uns hier einen Punkt machen und etwas konkreter werden. Bei der Kopfpauschale heißt es, und das ist für manche Bürger schwer einsichtig, dass die Krankenschwester genau so viel Gesundheitsbeitrag bezahlen muss wie der Chefarzt.
Rürup: Ja, das ist richtig. Aber die Krankenschwester zahlt ja auch genau so viel wie der Chefarzt, wenn sie beispielsweise eine Kfz-Versicherung abschließt. Man muss ja auch sehen: Als Bismarck 1883 die Krankenversicherung eingeführt hat, war die entscheidende Leistung der Krankenversicherung das Krankengeld, und das war einkommensabhängig. Heute aber bestehen die Leistungen der Krankenversicherung im Prinzip zum überwiegenden Teil in einkommensunabhängigen Leistungen, und das ist der Punkt. Noch einmal: Solange man bei einkommensabhängigen Beiträgen bleibt, hat man immer eine quasi einkommens- oder lohnsteuerähnliche Finanzierung, und das belastet den Faktor Arbeit. Das ist das Zentralproblem, wie gehe ich mit der Belastung des Faktors Arbeit um. Das zweite Problem ist, wie ich mit der Einkommensverteilung umgehe, und da gibt es, glaube ich, keinen Kompromiss zwischen diesen beiden Konzepten.
Spengler: Das heißt, bei der Bürgerversicherung bliebe es im Prinzip beim Alten, also einkommensabhängig?
Rürup: Ja, nur dass also auch gegenwärtig nicht Versicherte reinkämen, also Beamten kämen rein, Selbständige, und gegenwärtig bemessen sich die Beiträge nach dem Lohneinkommen. Es würden dann auch Kapitaleinkommen, Mieten, Zinsen und so weiter rein gezogen werden. Das ist eben die Philosophie.
Spengler: Wenn aber die Einkommensumverteilung egal wie und wo nun doch stattfinden muss, gibt es denn dann bei dem einen oder anderen Konzept Gewinner oder auch Verlierer, also sagen wir mal, Besserverdienende stehen sich besser bei dem einen Modell oder schlechter Verdienende besser bei dem anderen Modell?
Rürup: Zunächst kann mal sagen, auch die Pauschalprämie hat natürlich die Einkommensumverteilung als ein ganz zentrales Element, nur geschieht sie da eben über das staatliche Steuer- und Transfersystem. Wenn man von Gewinnern und Verlierern spricht, kann man im Prinzip sagen, dass, bezogen auf Singles, bei der Pauschalprämie jeder verteilungsmäßig gewinnen würde, der mehr als 1.550 Euro im Monat verdient. Für die Einkommensbezieher darunter wäre die Pauschalprämie höher, aber ob sie Verlierer sind, das, denke ich, hängt wiederum davon ab, wie viel Steuermittel der Staat bereit ist, in die Hand zu nehmen, um dieses zu kompensieren. Aber vielleicht sollte man eins noch sagen: Unter Verteilungsgesichtspunkten kann man in der Tat sagen, die Einkommensverteilung ist natürlich bei der Bürgerversicherung besser aufgehoben, aber dem steht gegenüber, dass natürlich die Pauschalprämie sehr viel beschäftigungsfreundlicher ist, und da besteht eigentlich kein Unterschied. Wenn wir das Beschäftigungsziel in den Vordergrund stellen, dann ist die Pauschalprämie eigentlich nicht zu schlagen. Wenn wir das Verteilungsziel in den Vordergrund stellen, dann gibt es gewisse Vorteile für die Bürgerversicherung.
Spengler: Man muss sich da also entscheiden. Kommen wir mal zur Rentenversicherung. Auch da gibt es zwei Rentenkonzepte innerhalb der Unionsparteien. Einig sind sich zwar beide, also CSU wie CDU, darin, dass man Eltern besser stellen will, aber auch da ist wieder die Frage, wie schafft man die Umverteilung sozusagen zu Gunsten der Eltern?
Rürup: Ja, die CSU will diese Umverteilung, das heißt die Besserstellung der Erziehenden innerhalb des Systems bewerkstelligen, und zwar dadurch, dass Kinderlose einen zusätzlichen Beitrag bezahlen sollen, dass also Kindererziehung vielleicht aufgewertet werden soll und im Gegenzug dazu die Hinterbliebenenversorgung abgeschmolzen werden soll. Das ist die Philosophie der CSU. Die CDU will auch Kindererziehungsleistung vergünstigen oder besser honorieren, aber sie sagt, Familienpolitik ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und als solche dann von der Gesamtbevölkerung eben über das Steuersystem zu finanzieren. Deswegen wollen sie die Zuschüsse eben über das Steuersystem haben. Das sind die unterschiedlichen Meinungen.
Spengler: Hat eine dieser Lösungen für Sie besonderen Charme?
Rürup: Ja, für mich ist in der Tat Familienpolitik eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, welche von allen Bürgern bezahlt werden muss. Außerdem ist es für mich schon etwas irritierend, wie beim CSU-Konzept zu sehen, dass das Kind eines Beamtes, eines Selbständigen, eines Arbeitslosen und eines Sozialhilfeempfängers weniger Wert sein soll als das Kind eines Rentenversicherungspflichtigen. Wir müssen doch sehen, das Kind eines Beamtes, eines Selbständigen, leistet doch eigentlich den gleichen generativen Beitrag zur Stabilisierung der Systeme, und ausschließlich dieses System über lohnabhängige Beiträge zu lösen, erscheint mir außerordentlich problematisch. Also für mich ist es völlig klar: Der ordnungspolitisch korrekte Weg ist die Steuerfinanzierung von Familienleistung.
Spengler: Das heißt, im Prinzip wäre bei beiden, Krankenversicherung und Rentenversicherung, Ihrer Ansicht nach der ordnungspolitisch korrekte Weg Umverteilung durch das Steuersystem?
Rürup: Ja, eigentlich völlig richtig. Umverteilung gehört ins Steuersystem. Es muss von allen Einkommen ohne Beitragsbemessungsgrenze bezahlt werden. Das Steuersystem ist der genuine Ort für Einkommensumverteilung, das ist richtig.
Spengler: Nun haben schlauere Köpfe, als ich es bin, ausgerechnet, dass man 30 Milliarden Euro braucht, um all das, was da wünschenswert ist an Umverteilung auch wirklich im Steuersystem umzuverteilen. Wo sollen denn diese 30 Milliarden Euro herkommen?
Rürup: Das ist richtig. Bleiben wir zunächst bei der Gesundheit. Dort in der Tat würde es bedeuten, wenn wir im Prinzip die gleichen Verteilungswirkungen, die wir gegenwärtig im GKV-System haben, ins Steuersystem übertragen würden, bräuchten wir ungefähr 25 bis 27 Milliarden Euro, und das ist natürlich eine sehr große Zahl. Das ist eigentlich die Schwachstelle dieses Konzepts, eben diesen unverzichtbaren sozialen Ausgleich über das Steuersystem zu finanzieren. Man kann sich dem etwas nähern, wenn man beispielsweise den Arbeitgeberanteil auszahlen würde als Barlohn. Das heißt eben, dass die Löhne einmal erhöht würden. Würde man dann dieses erhöhte Arbeitseinkommen versteuern, dann hätte man ein zusätzliches Steueraufkommen in der Größenordnung von etwa 18 Milliarden Euro. Das heißt, wir haben eine Finanzierungslücke von etwa sieben Milliarden Euro. Das ist - allerdings auch das muss man sagen - unter den gegenwärtigen fiskalischen Bedingungen auch schon eine ganze Menge, und in der Tat wird sich da letztlich entscheiden, ob dieses System umgesetzt werden kann.
Spengler: Wenn Sie nun sozusagen eine Art Mittler zwischen CSU und CDU wären, müssten Sie denn den Parteipolitikern sagen, ihr müsst euch entscheiden, oder könnten Sie ihnen sagen, na ja, es gibt noch Kompromisse zwischen diesen beiden Fragen?
Rürup: Bei der Rente scheinen die Unterschiede nicht unüberbrückbar, da, glaube ich, ist am ehesten eine Lösung möglich. Hier ist völlig klar, Kindererziehungsleistungen müssen besser honoriert werden. Wenn man die Entscheidung trifft, wir machen das im Steuersystem, ist das natürlich auch ein bisschen problematisch. Man könnte natürlich auch fragen: Ist es nicht besser, Erziehungsleistung nicht im Alter zu honorieren, sondern während der Erwerbsphase? Aber ich glaube, wenn man das will, dann wird man sich in der Rente einigen können, das also, wie es gegenwärtig der Fall ist, über die Steuerfinanzierung zu machen. Keine Einigungsmöglichkeiten sehe ich zumindest nach Lage der Dinge im Gesundheitsbereich. Hier muss man sich entscheiden. Will man Beschäftigungseffizienz oder will man Stabilität der Verteilung?