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Kornblum: Keine Bedrohung wie nach dem 11. September

Nach den Anschlägen von Boston sei man in puncto Sicherheit skeptischer geworden. Aber die Amerikaner fühlten sich nicht so in der Existenz bedroht wie nach dem 11. September, meint der ehemalige US-Botschafter John Kornblum.

John Kornblum im Gespräch mit Silvia Engels | 17.04.2013
    Silvia Engels: Wer hinter dem Bombenanschlag auf den Marathon von Boston mit drei Toten und über 170 Verletzten steckt, ist weiterhin unbekannt. In den USA wird sowohl über eine Attacke von radikalen Islamisten als auch über ein Attentat von radikalen Regierungsfeinden spekuliert.
    Kurz vor der Sendung sprachen wir mit John Kornblum, dem ehemaligen US-Botschafter in Deutschland. Welche Gefühle treiben ihn um, wenn er die Bilder des Anschlags von Boston sieht?

    John Kornblum: Das ist natürlich eine unglaubliche Tragödie und besonders schlimm, wenn Sie wollen, weil es an einem Feiertag war in Boston, während des Boston-Marathons. Das ist ein Ereignis, das eigentlich für die ganzen Vereinigten Staaten ein Tag des Interesses, aber auch des Sports ist. Und dass jemand dieses Ereignis ausgesucht hat für einen terroristischen Anschlag, ist natürlich besonders tragisch.

    Engels: Sie deuten es an, dieser Stadtmarathon hat eine besondere Symbolkraft. Wie schwer ist das zu gewichten, wenn dieser Feiertag zum Terrorziel wird?

    Kornblum: Na ja, es führt natürlich zu der Annahme, dass jemand genau diesen Tag aussuchen wollte, um eine Botschaft zu schicken, egal wer das war. Denn im Moment, wie Sie sagen, weiß niemand, wer das war oder hätte sein können. Aber es scheint so zu sein, dass dieser Tag extra ausgesucht wurde, um einen Punkt zu machen.

    Engels: Trauen Sie sich eine Einschätzung zu, in welchem Lager Sie den oder die Täter vermuten?

    Kornblum: Ich glaube nicht. Ich habe jetzt heute Morgen wieder alles im Fernsehen geschaut und man wagt es nicht. Alles was man weiß – man hat schon eigentlich erstaunlich viele Indizien gesammelt – ist, dass die Bomben ziemlich einfach waren. Sie sehen aus, als ob sie zuhause gebastelt worden sind - sie sind eigentlich in Dampfgartöpfen gemacht worden -, dass sie auch entworfen worden waren, um diesen Schaden anzurichten. Die hatten Rollkugeln drin, die natürlich überall so geschossen wurden. Aber mehr weiß man nicht und es wird jetzt über die nächsten Tage natürlich eine sehr intensive Untersuchung geben.

    Engels: Viele Beobachter verweisen jetzt darauf, dass sich viele an die Anschläge vom 11. September in den USA erinnert fühlen. Geht es Ihnen auch so?

    Kornblum: Ja, es geht mir auch so. Aber es gibt natürlich auch, wenn man das Wort jetzt hier benutzen kann, eine Dankbarkeit, dass wir zehn Jahre lang keinen Anschlag gehabt haben und dass teilweise die Maßnahmen, die genommen worden sind, wenn man etwa im Flughafen oder so ist, etwas ärgerlich sind. Aber sie haben uns ein ziemlich hohes Maß an Sicherheit gebracht. Dieser Anschlag zeigt aber, dass man nie im Voraus wissen kann, wo was passiert.

    Engels: Wie würden Sie die Entwicklung der US-amerikanischen Gesellschaft seit den Anschlägen vom 11. September 2001 beschreiben? Hat sich da etwas entwickelt, das man mit solchen Terroranschlägen – ich benutze das Wort mit Einschränkung – etwas abgeklärter reagiert?

    Kornblum: Ja. Die amerikanische Gesellschaft, ich würde sagen, ist jetzt eine skeptische geworden. Man merkt das immer, wenn man da ist und wenn man auch mit Freunden dort spricht. Man hat nicht mehr so ein sicheres Gefühl wie vorher. Aber zur gleichen Zeit, wie Sie gesagt haben, man ist, glaube ich, nicht mehr in der Lage, oder man fühlt sich nicht so bedroht, nicht so in der Existenz bedroht wie nach dem 11. September. Es ist in diesen zwölf Jahren sehr, sehr viel passiert. Und Sie sehen gestern die Börse. Ich war wirklich sehr überrascht. Die Börse ist hochgegangen gestern nach dem Anschlag. Das zeigt, dass das Leben weitergeht. Es wird geklärt, es wird auch debattiert, es wird bestimmt eine politische Debatte nachher geben. Aber ich glaube nicht, dass die Implikationen so stark sein werden wie nach dem 11. September.

    Engels: Sie haben es angesprochen: Sie rechnen nicht mit einer neuen Runde der US-Debatte um innere Sicherheit nach diesen Anschlägen?

    Kornblum: Oh, es wird bestimmt eine Debatte geben, natürlich, weil das Land im Moment sehr politisiert ist. Es sind natürlich nur etwas mehr als 24 Stunden her, aber die ersten Reaktionen waren nicht sehr parteilich und auch nicht sehr angreiferisch. Das heißt, man versucht jetzt herauszufinden, wer das war, aber es hat keine große Spaltung in der Gesellschaft gegeben, bis jetzt nicht mindestens.

    Engels: Sie haben es aber auch angedeutet: Grundsätzlich sind ja die politischen Gräben zwischen Demokraten und Republikanern derzeit besonders tief. Werden nicht doch die Lager bald versuchen, aus den Vorfällen in irgendeiner Hinsicht Kapital zu schlagen?

    Kornblum: Es kann sein. Aber ich glaube, im Moment hält man sich auch zurück, weil man wirklich kaum Indizien hat, wer das hätte sein können. Das heißt, es hätte natürlich irgendwie eine ausländische Gruppe sein können, aber es hätte auch eine inländische Gruppe sein können, und es hätte links gewesen sein können oder es hätte rechts gewesen sein können. Also im Moment ist die Lage so unklar, dass die Politiker und die Kommentatoren sich bestimmt zurückhalten, weil sie wollen jetzt nicht eine große These hier in die Luft setzen, die nachher völlig falsch ist.

    Engels: Auffällig ist ja, dass bislang kaum jemand den Veranstaltern Vorwürfe macht, sie hätten nicht auf die Sicherheitsvorkehrungen ausreichend geachtet. Denken Sie, dass wir weitere Regulierungen für sportliche Großereignisse, was die Sicherheit angeht, erleben, oder wird man das eher hinnehmen, dass man so etwas nicht komplett schützen kann?

    Kornblum: Na ja, ein Marathon ist natürlich im Endeffekt kaum zu schützen, weil es per Definition über viele, viele Kilometer geht und die Leute stehen an der Straße. Das ist kaum zu kontrollieren. Ich glaube, was man tun wird, was man natürlich nach solchen Ereignissen immer tut, ist, zuerst das Bewusstsein der Menschen versuchen zu beeinflussen, dass man aufmerksam sein sollte, dass man immer aufpassen sollte, wer da ist. Diese Sachen waren anscheinend in Stofftüten und vielleicht hat man sie gesehen und nicht daran gedacht, was es war. Es wird bestimmt mehr Bewusstsein geben. Aber im Endeffekt: Gerade ein Marathon ist so gut wie unmöglich zu kontrollieren.

    Engels: Nun erreichen uns Meldungen, wonach ein Brief abgefangen worden sei, der an den republikanischen Senator Roger Wicker adressiert gewesen sein soll. Darin soll sich das gefährliche Gift Rizin gefunden haben. Wir wissen nicht, ob es irgendeinen Querbezug zu diesem Anschlag gibt. Rechnen Sie denn so oder so damit, dass Trittbrettfahrer in irgendeiner Form sich die Unruhe in den USA für ihre Aktionen zunutze machen?

    Kornblum: Ja, natürlich. Es kann sein, dass das so etwas ist. Es ist interessant: Der Brief müsste eigentlich vor dem Ereignis geschickt worden sein, um genau gestern anzukommen. So schnell geht ein Brief nicht. Es kann sein, dass es irgendwie eine Botschaft ist von den Tätern. Es kann auch sein, dass es überhaupt nichts damit zu tun hat, dass irgendjemand anders eine Aktion unternehmen wollte aus ganz anderen Gründen. Das weiß man natürlich nicht. Aber es ist nicht nur ein Ergebnis von Fernsehkrimis: Man ist immer erstaunt, wie sorgfältig und im Endeffekt mit welchem Ergebnis diese Untersuchungen gemacht worden sind, und es kommt sehr oft sehr viel heraus. Und ich glaube, in diesem Fall wird das auch der Fall sein.

    Engels: Welche Stimmung erwarten Sie in den nächsten Wochen und Monaten in Amerika?

    Kornblum: Oh, ich glaube gedämpft. Ich glaube nicht, dass es große Aufregung gibt, ehrlich gesagt. Man wird natürlich nachdenklich sein und vorsichtig sein und vielleicht ein bisschen beängstigt sein, aber ich glaube, die Stimmung wird eher gedämpft sein und nicht sehr aufgeregt und nicht sehr emotional wie nach dem 11. September.

    Engels: John Kornblum, ehemaliger US-Botschafter in Deutschland, vielen Dank für das Gespräch.

    Kornblum: Ich bedanke mich.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.