Sonntag, 19. Mai 2024

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Kosovaren streben baldige Unabhängigkeit an

Heuer: Am Telefon ist jetzt Marie-Janine Calic, Balkanexpertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Tag, Frau Calic.

Moderatorin: Christine Heuer | 18.03.2004
    Calic: Guten Tag.

    Heuer: Wieso eskaliert die Gewalt im Kosovo gerade jetzt?

    Calic: In den letzten Monaten hat sich wachsender Druck aufgebaut von Seiten der Albaner, die Albaner sind frustriert, dass sie immer noch nicht alle Institutionen im Kosovo selber regieren können und sie drängen auf Unabhängigkeit. Kosovo ist ja seit 1999 international verwaltet und der Status blieb offen, die Kosovaren würden lieber heute als morgen Unabhängigkeit erreichen und sie glauben, dass ihnen dabei die Minderheiten, insbesondere die Serben aber auch die UNO dabei im Wege stehen. Die UNO andererseits verlangt, dass erst bestimmte Standards erfüllt sein müssen, institutionell und auch in Bezug auf die Minderheitenrechte, bevor über den Status gesprochen werden kann. Vor diesem Hintergrund glauben vielen Kosovaren, dass eigentlich die Serben und auch die anderen Minderheiten Schuld daran sind, dass sie ihre politischen Aspirationen nicht verwirklichen können. Die werden zu Sündenböcken gemacht für alles mögliche, was im Kosovo schief läuft und gleichzeitig eben auch leider die UNO und die KFOR werden da mit in einen Topf geworfen.

    Heuer: Die Gewalt geht in diesem Fall, diesmal also ganz eindeutig von den Albanern aus?

    Calic: Ja, es hat leider in den letzten Monaten und Jahren, muss man sagen, immer ethnische Gewalt gegeben. Seit 1999 sind rund 240.000 Nicht-Albaner aus dem Kosovo vertrieben worden, vor allem Serben aber auch Zigeuner und diese Menschen konnten bis heute nicht zurückkehren. Zwei Ereignisse haben, glaube ich, die Kosovaren besonders aufgebracht in den letzten Wochen und Tagen, das Eine ist der Beginn des direkten Dialogs zwischen Belgrad und Priština, der von der UNO verordnet wurde. Die Kosovaren haben sich dagegen gewehrt, es soll darum gehen bestimmte praktische Fragen zwischen Belgrad und Priština zu lösen, aber die Kosovaren glauben, dass das nur ein Ablenkungsmanöver ist und sie wollen eigentlich die Unabhängigkeit ohne jeglichen Dialog mit Belgrad. Das Zweite, glaube ich, ist der Machtwechsel in Belgrad hin zu einer eher konservativen und nationalen Regierung und der neue Premierminister Koštunica hat in den letzten Tagen das Kosovothema wieder aufgebracht und hat die Kantonisierung Kosovos verlangt und darin sehen viele Kosovaren einen ersten Schritt in Richtung Aufteilung ihrer Provinz und sie wollen natürlich die territoriale Integrität erhalten und das Kosovo in den jetzigen Grenzen in die Unabhängigkeit führen.

    Heuer: Welche Rolle, Frau Calic, spielt denn in dieser Situation Albanien? Gibt es für so etwas wie großalbanische Fantasien Unterstützung?

    Calic: Es gibt Gruppen, sowohl in Albanien wie auch im Kosovo und auch in Mazedonien, die solche großalbanischen Fantasien haben, aber es ist sicherlich keine Mehrheitsmeinung, sondern das sind radikale Minderheiten. Albanien selber ist doch sehr zurückhaltend gewesen und das hat einen ganz einfachen Grund, nämlich die europäische Perspektive. Albanien verhandelt über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen und kann sich solche Fantasien gar nicht leisten, ist da sehr zurückhaltend und ich glaube, dass die albanische Führung auch weiß, dass das ganz unrealistisch wäre, eine solche großalbanische Fantasie weiterzuverfolgen.

    Heuer: Albanien ist zurückhaltend, gilt das auch für den Präsidenten der Provinz Kosovo, also für Ibrahim Rugova, der ja auch Albaner ist?

    Calic: Rugova repräsentiert natürlich als Staatsoberhaupt die gesamte Provinz, auch er ist ein Anhänger der möglichst schnellen Unabhängigkeit der Provinz und einer Unabhängigkeit, die möglichst ohne jede Bedingungen vonstatten gehen soll. Das ist natürlich ganz unakzeptabel aus internationaler Sicht, denn es ist klar, dass erst Institutionen funktionieren müssen, dass Rechtsstaatlichkeit etabliert sein muss und dass vor allem die ausufernde Gewalt und leider auch grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, die vom Kosovo ausgeht in den Griff bekommen werden muss. Leider gibt es im Kosovo bei den politischen Eliten wenig Verständnis dafür, dass eben solche Bedingungen, also bestimmte Standards erst erfüllt sein müssen, bevor über den Staat des Kosovos langfristig diskutiert werden kann.

    Heuer: Jetzt schickt die NATO ja zusätzlich 350 Friedenssoldaten ins Kosovo, dort sind ja schon fast oder annähernd 20.000 KFOR-Soldaten stationiert. Bringt das denn jetzt was?

    Calic: Ja, ich glaube das Signal ist wichtig, denn wir haben ja gesehen, dass die Sicherheitslage sehr gefährlich ist und dass es in bestimmten Hot-Spots, also in bestimmten Spannungsregionen notwendig ist, zusätzliches Sicherheitspersonal zu entsenden, um eine gewisse abschreckende Wirkung zu erzielen oder um auch einfach zu signalisieren, dass die NATO dieser ausufernden Gewalt nicht tatenlos gegenüberstehen wird. Ich glaube, dass in den letzten Monaten es eine Tendenz gegeben hat, sich die Situation ein bisschen schön zu reden von internationaler Seite. Dahinter steht der Wunsch zu mehr Normalisierung und längerfristig auch dieses Projekt Kosovo zu einem Erfolg zu führen und die internationale Präsenz zu reduzieren, aber leider ist das ein sehr langfristiger Prozess und ich glaube, schnelle Resultate sollten wir nicht erwarten.

    Heuer: Nun hat die serbische Regierung der NATO militärische Hilfe im Kosovo angeboten. Sollte das Bündnis ein solches Angebot ernstlich erwägen?

    Calic: Nein, das ist natürlich ganz ausgeschlossen, denn nach der NATO-Intervention und dem Kosovo-Krieg ist es ganz unvorstellbar, das noch mal serbische Truppen in den Kosovo zurückkehren würden, das würde ja vielmehr Unruhe und Konfliktpotential schaffen als Gutes tun. Belgrad sieht natürlich jetzt eine Gelegenheit, sich wieder ins Spiel zu bringen und die NATO anzuprangern und überhaupt auch die internationale Staatengemeinschaft anzuprangern. Belgrad erhebt ja immer noch Rechtsanspruch auf Kosovo, beharrt auf dem Standpunkt, dass Kosovo im Grunde genommen ein Bestandteil, ein völkerrechtlicher Bestandteil Serbiens ist. Tatsächlich ist es aber so, dass der Status offen ist und über seine endgültige Statuslösung wird international verhandelt werden müssen.

    Heuer: Marie-Janine Calic war das, sie ist die Balkanexpertin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Frau Calic.

    Calic: Bitte sehr.