
Mittlerweile erhöhen immer mehr Kassen nicht nur zum Beginn ihres Haushaltsjahres den Beitrag, sondern auch mitten im Jahr. Ihnen bleibt schlicht keine andere Wahl. Denn der finanzielle Druck auf die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist in kurzer Zeit dramatisch gestiegen.
Diese Entwicklung ist nach Einschätzung vieler Fachleute beispiellos. Krankenkassen und Gesundheitsökonomen fordern Strukturreformen, um das ihrer Ansicht nach überteuerte deutsche Gesundheitswesen effizienter zu machen.
Die neue Bundesregierung hat das Problem offenbar erkannt und plant laut Koalitionsvertrag "tiefgreifende strukturelle Reformen". Konkrete Reformpläne fehlen allerdings bisher. Stattdessen wollen Union und SPD eine Kommission einsetzen, die Lösungen erarbeiten soll. Lediglich ein Vorhaben haben die Koalitionäre schon vereinbart: ein verbindliches "Primärarztsystem". Doch dagegen regt sich Widerstand.
Wie stark sind die Kassenbeiträge in den vergangenen Monaten gestiegen?
Die gesetzlichen Krankenkassen entscheiden eigenständig über die Höhe der Zusatzbeitragssätze, die Steigerungen sind daher nicht bei allen Kassen gleich. Zahlreiche Kassen haben im Jahr 2025 die Beiträge um einen Prozentpunkt oder mehr erhöht. Im Schnitt liegen die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenkassen damit bei 17,5 Prozent.
Auf rund 52.000 Euro beziffert das Statistische Bundesamt das Durchschnitts-Einkommen von Vollzeitbeschäftigten. Wenn davon 1,2 Prozent mehr an die Krankenkasse gehen, bleiben netto jährlich 624 Euro weniger. Rechnerisch übernehmen Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils die Hälfte davon.
Warum sind die Kassenbeiträge so stark gestiegen?
Eigentlich sollen die Kassen auch mit stabilen Beiträgen zusätzliche Leistungen finanzieren können. Weil die Löhne der Versicherten im Schnitt jedes Jahr steigen, haben die Kassen auch dann höhere Einnahmen, wenn sie stets den gleichen Prozentsatz einziehen. Wenn das Geld trotzdem nicht reichte, waren in früheren Jahren Anhebungen um 0,2 oder 0,3 Prozent üblich.
Fachleute nennen für die unüblich starke Anhebung vor allem zwei Faktoren, die schon seit langem Druck auf die Kassenfinanzen ausüben: Der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung wächst, und damit auch der Anteil chronisch Kranker, dadurch steigt der Behandlungsbedarf. Neue Entwicklungen in der Medizintechnik, vor allem aber in der Pharmaindustrie sorgen dafür, dass die Preise im Gesundheitswesen schneller steigen als in der Gesamtwirtschaft.
Schon ab den 1970er-Jahren ergriffen deshalb verschiedene Bundesregierungen unter dem Schlagwort „Kostendämpfung“ Maßnahmen, um die Gesundheitsausgaben im Zaum zu halten. Im Jahr 2010 hatte dann allerdings die damalige Bundesregierung von Union und FDP eine Entscheidung getroffen, die den Ausgabendruck weniger spürbar gemacht hat, obwohl er eigentlich fortbestand, erklärt Leonie Sundmacher. Sie ist Professorin für Gesundheitsökonomie an der Technischen Universität München und Mitglied im Gesundheits-Sachverständigenrat der Bundesregierung. Die Regierung erhöhte vor 15 Jahren die allgemeinen Kassenbeiträge stärker, als es eigentlich notwendig war. Dadurch konnten die Krankenkassen beträchtliche Rücklagen aufbauen.
Das wiederum habe einen psychologischen Effekt gehabt, erklärt Sundmacher: „Eine ganze Politikergeneration wusste, da sind Rücklagen.“ Vor diesem Hintergrund seien Bemühungen, durch immer neue Reformen die Kosten im Zaum zu halten, in den Hintergrund gerückt. Über viele Jahre hinweg konnte die Politik es hinnehmen, dass die Ausgaben der Kassen schneller stiegen als die Einnahmen, resümiert die Wirtschaftswissenschaftlerin. Die Rücklagen aus den 2010er-Jahren machten es möglich. Doch mittlerweile seien die Reserven aufgebraucht. Es sei ein „Kipp-Punkt“ erreicht, sagt Sundmacher. Reformen seien unumgänglich.
Zwei große Kostentreiber: Medikamente und Kliniken
Die Vorstandschefin der Siemens Betriebskrankenkassen (SBK), Gertrud Demmler, sieht ein weiteres großes Problemfeld. Bei patentgeschützten Arzneien habe die Pharmaindustrie in Deutschland großen Spielraum bei der Preisgestaltung. Länger etablierte Arzneien ohne Patentschutz seien oft vergleichsweise günstig, erklärt Demmler. Bei neuen, patentgeschützten Medikamenten hingegen beliefen sich die Kosten für ein Jahr Therapie zuletzt auf im Schnitt 400.000 Euro pro Patient. Alleine im vergangenen Jahr sind die Ausgaben der Kassen für Arzneien um 9,9 Prozent gestiegen.
Auch der Kliniksektor sei seit Jahren ein großer Kostentreiber, beklagt die Kassenchefin. In den vergangenen 15 Jahren haben sich die Ausgaben für die Kliniken verdoppelt, auf derzeit rund 100 Milliarden Euro im Jahr. Allerdings seien die Abläufe oft inneffizient, kritisiert Demmler: „Da werden Ressourcen vergeudet.“
Was erhofft sich die Politik vom Primärarztsystem?
Damit Patienten besser durchs Gesundheitssystem geleitet werden, will die Koalition aus Union und SPD ein sogenanntes Primärarztsystem einführen. Es soll „verbindlich“ sein, schreiben die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag. Der Allgemeinarzt Wolfgang Blank, der mit Kollegen im Bayerischen Wald ein Netz von sieben Hausarztpraxen betreibt, ist von der Idee begeistert. Er definiert das Primärarztsystem mit zwei Worten: „Keine Umwege.“ Patienten sollen sich eine Hausarztpraxis suchen, die sie stets als ersten Ansprechpartner nutzen. Der Hausarzt oder die Hausärztin könne über einen längeren Zeitraum immer mehr Wissen über die Probleme sammeln und sie gegebenenfalls an Facharztpraxen oder auch Physiotherapeuten weiterleiten, erklärt Blank.
Schon in einem Gutachten aus dem Jahr 2001 kritisierte der Gesundheits-Sachverständigenrat „Über-, Unter- und Fehlversorgung“. An diesem Befund habe sich nichts Grundlegendes geändert, findet das Ratsmitglied Leonie Sundmacher. Patienten bewegten sich in Deutschland weitgehend ohne Koordination zwischen Arztpraxen, Kliniken, Reha-Einrichtungen oder Physiotherapie-Praxen hin und her. In Deutschland gebe es deswegen im internationalen Vergleich überdurchschnittlich viele Behandlungen in Arztpraxen und Krankenhäusern. Das trage dazu bei, dass Deutschland pro Kopf die höchsten Ausgaben für Gesundheit in der Europäischen Union hat.
Internationale Studien zeigten, dass Länder mit Primärversorgungssystem bessere Ergebnisse etwa bei der Versorgung von chronisch Kranken hätten. Und diese Länder hätten niedrigere Kosten, weil unnötige Untersuchungen und Therapien vermieden würden, erklärt Sundmacher.
Widerstand gegen Primärarztsystem von Fachärzten
Verbände, in denen überwiegend Fachärzte organisiert sind, warnen eindringlich vor einem Primärarztsystem. Der Bayerische Facharztverband etwa sieht ein hohes „Risiko von Fehldiagnosen und verzögerten Behandlungen – mit teils drastischen Folgen für die Betroffenen“.
Aber auch vom Deutschen Hausärzteverband, von dem man erwarten könnte, dass er Pläne für ein Primärarztsystem vorbehaltlos begrüßt, kommen Warnungen. Es dürfe keine Pflicht für Patienten geben, sich bei Hausarztpraxen einzuschreiben. Vielmehr solle das System der sogenannten Hausarztverträge ausgebaut werden, wünscht sich der Verband. Seit dem Jahr 2004 können die verschiedenen Krankenkassen mit Ärzteverbänden solche Verträge aushandeln, in die sich Patienten freiwillig einschreiben. An entsprechenden Verträgen des Hausärzteverbandes nehmen rund zehn Millionen Menschen teil, das ist weniger als ein Siebtel aller Kassenpatienten.
Weniger Kassen – geringere Kosten?
Als Maßnahme, um Kosten im Gesundheitswesen zu senken, kommt immer wieder der Vorschlag, die Zahl der Krankenkassen zu senken. Das Fachblatt „Ärztezeitung“ hat im Jahr 2023 berechnet, wie groß das Sparpotenzial wäre, wenn es deutlich weniger Kassen gäbe. Das Ergebnis ist ernüchternd. Zum einen ist die Zahl der Kassen seit 1990 bereits um mehr als 90 Prozent gesunken, von 1147 auf derzeit 94.
Zum anderen machen die Verwaltungskosten deutlich weniger als fünf Prozent aus. Deshalb sei das Sparpotenzial gering, betont die Ärztezeitung. Denn die Arbeit, die die Beschäftigten der derzeit 94 Kassen leisten, müsse auch dann geleistet werden, wenn es weniger Kassen gäbe. Das Einsparpotenzial liege deshalb deutlich unter einer Milliarde Euro, bei zuletzt 311 Milliarden Euro Ausgaben in der GKV.
Die Vorstandschefin der Siemens Betriebskrankenkasse, Gertrud Demmler, bringt ein weiteres Argument vor. Sie ist überzeugt, dass eine Einheitskasse ineffizienter wäre als eine mittelgroße Zahl von Kassen, die untereinander in Konkurrenz stehen: „Weil wir im Wettbewerb sind und deshalb Effizienzen heben müssen.“ Die Kassen lassen sich ihrer Ansicht nach mit dem Mittelstand in der Wirtschaft vergleichen: „Wer käme auf die Idee, den Mittelstand abzuschaffen mit dem Argument, der sei ineffizient? Niemand.“