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Krankenkassen
"Weg vom reinen Kundenservicegeschäft"

Die gesetzlichen Krankenkassen verändern ihr Geschäftsmodell vom "passiven Zahler" zum Gestalter der Krankenversorgung, sagte der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem im Deutschlandfunk. Außerdem verlagerten sie ihren Service immer mehr ins Internet.

Jürgen Wasem im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 01.03.2014
    Jürgen Zurheide: Wer sich in dieser Woche mit den Krankenkassen in Deutschland beschäftigt hat, erhält ein zwiespältiges Bild. Auf der einen Seite hören wir, eine Milliarde Überschuss im abgelaufenen Jahr, Reserven von insgesamt 30 Milliarden. Das sind ungewohnte Meldungen aus dem deutschen Krankenkassensystem. Da sind fast zwei Monate Gelder auf der hohen Kante, zwei Monate Ausgaben. Auf der anderen Seite wissen wir, die Krankenkassen verändern ihr Geschäftsmodell. Sie schließen Filialen, dafür soll man mehr im Internet tun. Das könnten Sparprogramme sein, vielleicht sind es aber Veränderungen im System. Über all das wollen wir reden, und ich begrüße dazu am Telefon Jürgen Wasen, den Gesundheitsökonomen der Universität Duisburg-Essen. Erst schönen guten Morgen, Herr Wasen!
    Jürgen Wasem: Guten Morgen nach Köln!
    Zurheide: Herr Wasen, fangen wir doch mal an. 30 Milliarden insgesamt auf der hohen Kante. Ist das viel Geld oder sind eben zwei Monate, wenn man es umrechnet in Ausgaben, auch wieder nicht viel?
    Wasem: Für die Verhältnisse der gesetzlichen Krankenversicherung ist das schon relativ viel. Wir hatten ja auch Jahre, da gab es ein paar Milliarden Defizit. Und häufig sind wir um die Nulllinie herum. Die gute Konjunktur der letzten Jahre in Verbindung damit, dass Schwarz-Gelb Anfang 2011 den Beitragssatz für die Beiträge an den Gesundheitsfonds aufgesetzt hat, hat halt wirklich viel Geld in die Kassen gespült. Für die langfristigen Ausgaben ist das natürlich nichts. Nur um eine Vergleichszahl zu nennen: Die private Krankenversicherung, die ja ein anderes Kalkulationsmodell hat und ja nur zehn Prozent der Deutschen versichert, hat 180 Milliarden auf der hohen Kante.
    Zurheide: Und wir wissen, dass die Ausgaben tendenziell steigen werden angesichts der demografischen Entwicklung. Ist dieser Satz eigentlich so richtig, muss das unbedingt steigen, oder kann man durch intelligente Präventionsprogramme daran was ändern?
    Wasem: Die meisten Gesundheitsökonomen sind sich einig, dass Prävention zwar gut investiertes Geld ist insofern, als dass man da Lebensqualität für einen erträglichen Preis bekommt, aber die meisten sagen, dass es auch nur wenige Bereiche gibt, wo man über den Lebenszyklus hinweg tatsächlich Geld spart. Weil ein Effekt von gut gemachter Prävention ist, dass die Leute länger leben, und dann holen einen die Krankheiten zu einem späteren Zeitpunkt ein.
    "Aus der Rolle des passiven Zahlers rauskommen"
    Zurheide: Kommen wir jetzt mal auf die Krankenkassen insgesamt. Da positionieren sich ja einige neu. Der Wettbewerb, der da ist, verändert sich. Wir haben das gerade in dieser Woche noch mal erlebt. Wie verändert sich die Lage und die Rolle der Krankenkassen? Früher waren die so eine Art Zahlstelle im Hintergrund. Man hat das wenig mitbekommen. Künftig, Frage: Sind sie mehr aktive Spieler im System und knüpfen regionale Netzwerke? Ist das eine wichtige Veränderung?
    Wasem: Ja. Das ist ein schleichender Prozess. Die Politik hat vor 15 Jahren angefangen, die Weichen zu stellen, dass die Krankenkassen aus dieser Rolle des passiven Zahlers rauskommen können und versuchen können, über Verträge mit Ärztenetzen, auch Verträge mit der Pharmaindustrie in der jüngeren Zeit, Verträge mit integrierten Versorgern, wo Krankenhäuser und ambulante ärztliche Einrichtungen dabei sind, stärker die Versorgung zu gestalten. Das ist ein langsamer Prozess. Die Krankenkassen tun sich auch schwer, da einzusteigen, solange etwa chronisch Kranke für sie finanziell noch ein schlechtes Geschäft sind. Aber so ganz langsam entwickelt sich das in die Richtung, und insofern gehen die Krankenkassen schrittweise weg vom Bezahlen und reinen Kundenservicegeschäft hin zum Gestalten der Versorgung.
    Zurheide: Müsste das eigentlich nicht viel stärker der Fall sein? Die Krankenkassen, wenn sie denn die Aufgabe annehmen, beklagen hin und wieder, wenn man uns lassen würde, würden wir das ja noch viel aktiver tun. Was natürlich im Umkehrschluss bedeutet, dass bei der Kasse A und B und C habe ich dann jeweils möglicherweise unterschiedliche Dinge eingekauft. Ist das das Modell der Zukunft? Oder sollte das das Modell der Zukunft sein?
    Wasem: Das ist insgesamt auf jeden Fall umstritten, ob das das Modell der Zukunft sein sollte. Richtig ist, die meisten Krankenkassen, auch nicht alle, aber die meisten, sehen sich schon in diese Richtung. Man kriegt dadurch einen Akteur, der Versorgung gestalten kann, mit ins Boot. Das, denke ich, ist ein wichtiger Punkt. Wir haben ja zunehmend Patienten, die mehrere Krankheiten haben, chronische Krankheiten haben, wo der einzelne Arzt, das einzelne Krankenhaus immer nur einen Ausschnitt anguckt. Auch der Hausarzt kann das nicht über die Hausarzt-(unverständlich) versorgen, alles sozusagen steuern, sondern man braucht auf der Ebene darüber jemanden, der bei der Gestaltung der Versorgung mitmacht. Da können die Krankenkassen eine wichtige Rolle spielen. Allerdings gibt es nach wie vor auch in der Politik, obwohl die die Weichen in die Richtung schon gestellt hat, schon Vorbehalte, wie stark sollen eigentlich Krankenkassen künftig sein. Also, die Angst vor einem "Krankenkassenstaat", die gibt es durchaus.
    "Zugangsmöglichkeiten zum System werden sich stärker unterscheiden"
    Zurheide: Jetzt kommen wir mal auf das, was das für die einzelne Krankenkasse bedeutet. Ich habe es vorhin angesprochen, die Barmer GEK, also eine der großen Kassen in Deutschland, hat gesagt, wir machen weniger Geschäftsstellen demnächst, weil die Menschen viele Informationen über das Internet holen und damit die Geschäftsstelle weniger wichtig wird. Werden die Geschäftsstellen weniger wichtig?
    Wasem: Grundsätzlich gilt das, ja. Wobei das Ausmaß, wie die Kassen sich da positionieren, in der Tat sehr unterschiedlich ist. Es gibt Krankenkassen, die haben diese Entwicklung, wie sie die Barmer jetzt vollzieht, schon vor einigen Jahren geräuschloser vollzogen und haben ihr Geschäftsstellennetz schon deutlich ausgedünnt und verstärkt auf Online und Telefon gesetzt - was die Kunden ja auch nachfragen, auch die jüngeren, neueren chronisch Erkrankten sind ja internetaffin. Auf der anderen Seite gibt es auch Krankenkassen, die ganz bewusst an dem Zweigstellennetz, an dem dichten Netz festhalten und sagen, das ist einer unserer Pluspunkte, warum wir von unseren Versicherten weiter gewählt werden. Das heißt, die Zugangsmöglichkeiten zum Krankenkassensystem werden stärker sich auch unterscheiden. Das ist schon heute so, und ich glaube, dieser Prozess wird noch weitergehen. Und die Versicherten treffen mit ihrer Krankenkassenwahl dann künftig wirklich eine deutlich komplexere Entscheidung. Es geht nicht mehr nur um den Beitrag - wie viel ist der Zusatzbeitrag - sondern es geht auch darum, wie ist mein Zugang zur Krankenkasse? Und es geht darum, darüber haben wir ja vorher gesprochen, was für Verträge haben die eigentlich abgeschlossen, wie versorgen die mich.
    Zurheide: Das heißt, unterm Strich könnte man eigentlich sagen, viele Krankenkassen bauen Personal ab oder sehen sich gezwungen, Personal abzubauen. Eigentlich müsste eine gute Kasse ihr Personal aufbauen, weil die mir dann den Service bieten, den ich eigentlich brauche, wenn ich mal krank bin. Allerdings muss ich dann bereit sein, das auch zu bezahlen.
    Wasem: Ja, die Schwerpunkte, wo die Beschäftigten der Krankenkasse eingesetzt werden innerhalb der Kasse, verschieben sich. Und das heißt auch, dass es Bereiche gibt, etwa die Vertragssteuerung, wo ich Personal ausbauen muss, das ist klar.
    Private Kassen bleiben stille Zahler
    Zurheide: Kommen wir noch mal auf einen Aspekt, den Sie gerade angesprochen haben. Es gibt in Deutschland, und das ist ein Unikat in der Welt immer noch, das System der gesetzlichen Krankenkassen, wo 90 Prozent versichert sind, und zehn Prozent eben bei den Privaten. Werden die Privatkassen eigentlich überleben? Da gibt es ja manche Zweifel, ob die das auf Dauer durchhalten können.
    Wasem: Nun, das hängt insbesondere zunächst einmal natürlich davon ab, wie die politischen Rahmenbedingungen sind. Wir haben ja vor dem Bundestagswahlkampf und ein bisschen auch im Bundestagswahlkampf die Diskussion über die Bürgerversicherung gehabt. Die Diskussion ist ja auch schon länger. Das ist ja in dieser Wahlperiode nicht gekommen, Schwarz-Gelb haben das Thema private Krankenversicherung ja völlig ausgeklammert. Das Wort tauchte im Koalitionsvertrag gar nicht auf. Das sichert der privaten Krankenversicherung natürlich die Möglichkeit, weiterzumachen. Die wesentliche Frage hängt mit dem zusammen, was wir eben diskutiert haben, wo die private Krankenversicherung relativ schlecht aufgestellt ist, ist tatsächlich Versorgung mit steuern zu können. Weil sie hat gar nicht die Möglichkeit, Verträge etwa mit Ärztenetzen zu schließen, sondern muss da das sein, was die gesetzliche Krankenversicherung früher war, der stille Bezahler von Leistungen. Das setzt sie schon in einen Nachteil. Wie groß dieser Nachteil ist, auch, ob da ein Kostennachteil draus entsteht, das ist nicht so ganz klar zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Ich denke, da muss man die Fakten auch weiter beobachten.
    Zurheide: Das deutsche Krankenkassensystem wird sich verändern. In welche Richtung das gehen kann, haben wir gerade diskutiert mit Jürgen Wasen, dem Gesundheitsökonomen. Ich bedanke mich bei Ihnen für das Gespräch. Auf Wiederhören!
    Wasem: Auf Wiederschauen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.