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Krebszellen auf Reise

Um bei der Bekämpfung von Tumormetastasen erfolgreicher zu sein, versuchen Krebsforscher zu verstehen, wann und wie Tumorzellen wandern. US-Forscher konnten jetzt nachweisen, dass Tumorzellen für ihre Fortbewegung ein genetisches Programm nutzen, das aus der Embryonalentwicklung bekannt ist.

Von Martin Winkelheide | 03.12.2012
    Embryonen wachsen und bilden Organe nach einer genau festgelegten Choreografie. Das frühe Gehirn, das Neuralrohr, reift zu Rückenmark und Gehirn heran. Aus ihm stammen aber auch die Pigementzellen der Haut. Ein spezielles Programm, EMT mit Namen, sorgt dafür, dass die Zellen wandern können, sagt der französische Krebsforscher Jean Paul Thiery von der Universität Singapur.

    "Diese Zellen verlassen das Neuralrohr. Sie wandern auf eine genau festgelegte Art und Weise. Sie dringen nicht einfach irgendwo ein, sie siedeln sich ausschließlich in der Haut an, und sie bilden die Pigmentzellen."

    Vielleicht haben wandernde Zellen im Embryo und wandernde Tumorzellen Gemeinsamkeiten. Möglicherweise nutzen sie das selbe genetische Programm. Zehn Jahre ist es her, dass Jean Paul Thiery diese Hypothese aufgestellt hat.

    "Die Krebszellen gewinnen die Fähigkeit der embryonalen Zellen zurück, zu wandern. Das Problem ist nur, es handelt sich nicht um normale Zellen, sondern um bösartige Zellen. Und wenn die durch den Körper wandern, bereitet das Krebspatienten ernste, häufig lebensbedrohliche Probleme."

    US-amerikanischen Forschern ist es jetzt erstmals gelungen, Jean Paul Thierys Hypothese zu belegen. Jing Yang von der Universität von Kalifornien in San Diego und ihre Kollegen in La Jolla und Massachusetts gaben Mäusen mit einem Plattenepithel-Krebs, einen speziellen Faktor. Dieser Faktor TWIST 1 reichte bei den Krebszellen aus, das Wander-Programm zu starten. Die Zellen veränderten ihre Form, lösten sich aus dem Zellverbund und wanderten über die Blutbahn in entfernte Organe, so Jing Yang.

    "Die Krebszellen nutzen das Programm, um zu wandern. Aber, sobald sie in einem Organ – etwa der Lunge – angekommen sind, schalten sie das Programm wieder ab. Sie bewegen sich nicht mehr. Sie beginnen wieder, sich zu teilen. Und dann entstehen neue Knoten, die lebensbedrohlichen Metastasen."

    Viele wichtige Details sind noch ungeklärt. Der Faktor TWIST 1 ist ein sicherer Weg, das Wanderprogramm zu starten, aber wahrscheinlich nicht der einzige.

    "Wir haben gesehen, dass viele verschiedene Signale den Startimpuls setzen können. Entzündliche Prozesse etwa oder auch ein Sauerstoffmangel im Tumor können das EMT-Programm starten. Vielleicht ist es bei jeder Tumorart auch ein wenig anders, vielleicht kommt es auch auf eine Kombination verschiedener Signale an."

    Viele Zellen eines Tumors beginnen zu wandern, sobald das EMT-Programm startet. Aber nur aus relativ wenigen geht eine Metastase hervor. Besitzen diese wenigen Krebszellen zusätzliche, andere Eigenschaften als andere Krebszellen? Das ist unklar. Ebenso, warum nach der Wanderung durch den Körper oft viele Jahre vergehen können, bis Krebszellen sich erneut teilen und vermehren. Jing Yang plant daher, die Mäuse-Experimente zu wiederholen. Nur will sie diesmal die Tumorzellen markieren, um genau verfolgen zu können, was in der Zeit passiert von der Wanderung der Zellen bis zum Heranwachsen der Metastase.
    Dann erst lässt sich auch abwägen, ob sich das neue Wissen vielleicht nutzen ließe für die Krebsmedizin. Denn, würde TWIST1 medikamentös blockiert, könnte das EMT-Programm nicht starten.

    "Faktoren wie TWIST 1 sind eigentlich ideale Angriffspunkte für eine Behandlung. Denn solche sogenannten Transkriptionsfaktoren werden ausschließlich während der Embryonalentwicklung genutzt. In Zellen von Erwachsenen sind sie überflüssig. Sie haben keine Funktion: weder für das Zell-Überleben noch für die Zellteilung."

    Bevor ein solcher Wirkstoff, der TWIST 1 blockiert, an Patienten erprobt werden könnte, muss sicher sein, dass er wirklich mehr nützt, als dass er schadet. Denn er könnte zwar Krebszellen daran hindern, zu wandern. Krebszellen, die aber bereits unterwegs sind, könnte er dazu bringen, die Wanderung zu stoppen und Metastasen zu bilden. Wie hoch dieses Risiko ist, ist unklar. Das neue Wissen lässt sich dennoch jetzt schon praktisch nutzen. Jing Yang und ihre Kollegen haben Daten und Gewebeproben von Frauen mit Brustkrebs analysiert und entdeckt, dass bei Tumoren, die besonders viel von dem Faktor TWIST 1 bilden, das Risiko hoch ist, dass sie früh streuen. Um die Heilungschancen zu erhöhen, sollten solche Tumore daher besonders aggressiv behandelt werden. Trotz aller unangenehmen Nebenwirkungen von Chemo- und Strahlentherapie.