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Krieg in Jugoslawien

DLF: Je länger der Krieg in Jugoslawien andauert, desto deutlicher wächst auch innerhalb der Bundestagsparteien die Kritik an den NATO-Einsätzen. Waren es zunächst vor allem Teile der Grünen, die laut über politische Alternativen nachdachten, begann an diesem Wochenende nun auch bei der SPD diese Diskussion. Heute morgen dazu am Telefon der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Gernot Erler. Guten Morgen.

    Erler: Guten Morgen.

    DLF: Herr Erler, wie geschlossen steht Ihre Fraktion noch hinter einer unbegrenzten Fortsetzung der NATO-Luftangriffe?

    Erler: Ich denke, es ist ein natürlicher Vorgang, daß bei dem Geschehen auf dem Balkan auch innerparteilich ein Bedarf an Artikulation, an Information entsteht – und das vor allen Dingen wenige Tage vor dem außerordentlichen Bundesparteitag. Und insofern kann man - glaube ich – sagen, daß wir auf jeden Fall auf dem Parteitag eine inhaltliche Diskussion brauchen, die jetzt vorbereitet wird von verschiedenen Seiten.

    DLF: Es war, Herr Erler, an diesem Wochenende ja mehr als eine Diskussion: Es waren Forderungen von Hermann Scheer etwa, oder Michael Müller, die ein sofortiges Ende der Luftangriffe verlangten. Droht die Debatte um den Jugoslawienkrieg zu einer Zerreißprobe für Ihre Partei zu werden?

    Erler: Ich denke, das sind die Äußerungen, die nach außen dringen. Aber es ist ja wohl klar, daß eine Positionsbestimmung der SPD zu dem Krieg im Kosovo Aussagen enthalten muß zu der Frage: Was passiert mit der fortlaufenden Entvölkerungsaggression von Milosevic im Kosovo, wie will man die stoppen? Es kann ja nicht darum gehen, nur die NATO-Aktivitäten zu beurteilen, sondern auch einen Ausweg zu zeigen, wie man rauskommt aus diesem Vertreibungsgeschehen. Und wenn es zu einer Debatte kommt, dann wird das – glaube ich – sogar im Vordergrund stehen auf dem Parteitag.

    DLF: Herr Erler, Ihr Parteigenosse Mickfeld vom Vorstand schätzt, daß 50 Prozent der SPD-Basis gegen die NATO-Einsätze sind. Wie lange kann es sich die Parteiführung leisten, diese Stimmung zu ignorieren?

    Erler: Die Parteiführung wird das nicht ignorieren, sondern sie wird sich sehr gründlich auf den Parteitag vorbereiten und sie wird gründlich auch eine Antwort über die Legitimation, die politische Legitimation der Beteiligung in der in sich immer noch sehr geschlossenen NATO vorbereiten. Das ist auch notwendig, denn bisher gibt es noch zu wenig sichtbaren Zusammenhang zwischen den militärischen Aktivitäten in der NATO in Jugoslawien und dem Stop des unmittelbaren Vormarsches im Kosovo. Dieser Legitimationszusammenhang muß in den nächsten Tagen deutlicher werden, sonst wird das nicht etwa eine Erscheinung in der SPD sein, sondern es wird insgesamt ein Abbröckeln der Zustimmung in der Öffentlichkeit - und das nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in ganz Europa - geben. Aber es besteht durchaus die Aussicht, daß dieser Zusammenhang deutlicher wird: Leider nicht in den Hauptnachrichten, aber schon hört man doch, daß zum Teil der Vormarsch zum Stehen kommt, weil zum Beispiel kein Treibstoff mehr da ist, daß sich jugoslawische Einheiten im Kosovo eingraben, daß sie also diese Umzingelung von Dörfern und das Vertreiben der Leute nicht mehr so fortsetzen können wie in den vergangenen Tagen. Das sind genau die Nachrichten, die man braucht, damit die Legitimation, damit die Zustimmung in der Öffentlichkeit nicht bröckelt.

    DLF: Aber dennoch, Herr Erler, noch einmal die Frage: Kann es sich in einem NATO-Land - wie Deutschland es ja ist - eine Regierung überhaupt leisten, jetzt in Kriegszeiten eine kontroverse außenpolitische und sicherheitspolitische Debatte offen zu führen?

    Erler: Ich glaube nicht, daß wir dem Vorbild von Milosevic folgen können, der es verhindert, differenzierte Äußerungen zu dem, was im Land passiert, nach draußen zu lassen, weil alles unter Kontrolle ist. In einem demokratischen Land muß – wenn es um Krieg und Frieden geht, wenn es um die Beteiligung der NATO-Politik in diesem Fall hier geht – auch eine offene und kontroverse Diskussion geben können, und erst recht innerhalb der SPD.

    DLF: Sie haben den Parteitag in der kommenden Woche angesprochen. Mit welchem Verlauf der Debatte über den Krieg in Jugoslawien rechnen Sie?

    Erler: Ich rechne damit, daß eine Erklärung von der Parteispitze, das heißt vom Bundeskanzler und vom Verteidigungsminister kommen wird, die sehr detailliert sein muß, und die sehr genau auch die politischen Perspektiven, die aus der deutschen Beteiligung hervorgeht, enthalten muß, und die sicherlich auch einen großen Schwerpunkt auf die Frage der Behandlung der Flüchtlinge legen wird. Hier gibt es ja durchaus beachtenswerte deutsche Initiativen aus den letzten Tagen, die auch deutlich machen, daß - bei aller Beteiligung an den Militäraktionen - wir immer den menschlichen Aspekt nicht vergessen dürfen und uns vor allen Dingen auf diese enorme Herausforderung für ganz Europa vorbereiten müssen. Hier ist ja wirklich einiges passiert und ich erwarte, daß hier ein sehr ausführlicher Bericht vorgelegt wird, daß der aber dann durchaus kontrovers diskutiert wird.

    DLF: Rechnen Sie, Herr Erler, bei diesem Parteitag mit einem Antrag, etwa der Parteilinken, die auf ein sofortiges Ende der NATO-Luftangriffe hingehen?

    Erler: Ich rechne nicht damit – ich bin ganz sicher, daß es solche Anträge von verschiedenen Untergliederungen oder Gruppen von Delegierten geben wird. Ich gehe aber auch davon aus, daß es einen Antrag geben wird aus der Mitte der Führung der Partei heraus, der sich mit dem gleichen Thema beschäftigt. Und dann wird man darum ringen, welche Mehrheiten es gibt. Und ich sage noch einmal: Eine solche Diskussion ist angemessen. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern das ist eine wahre Selbstverständlichkeit, daß in einer solchen Situation auch kontrovers diskutiert wird.

    DLF: Noch deutlicher, Herr Erler, als in Ihrer Partei, der SPD, ist die Zerrissenheit bei den Grünen in dieser Frage. Könnte diese innerparteiliche Diskussion zum Sprengsatz auch für die bestehende rot-grüne Koalition werden?

    Erler: Also, wenn solche Parallelerscheinungen in den beiden Koalitionsparteien sind – und es gibt da Parallelen der Diskussion und Situationen in beiden Parteien –, dann ist das nicht unbedingt ein Sprengsatz für die Koalition, sondern wir sind hier in einer vergleichbaren Lage, und die Aufgabe der Grünen-Führung ist genau so wenig zu beneiden, wie die der SPD. Ich sehe im Augenblick eher parallele Schichtungen in beiden Parteien, aber bisher keine Gefahr für die Koalition und die Weiterarbeit der Koalition. Man darf ja vor allen Dingen jetzt einen Fehler nicht machen, daß man zuläßt, daß aus dieser europäischen Frage - bei der auch die Amerikaner eine sehr wichtige Rolle spielen, bei der nach meiner Auffassung die Russen eine wichtigere Rolle in Zukunft spielen sollten – jetzt eine kleine Münze gehauen wird von einer innerparteilichen Auseinandersetzung. Das darf nicht die große Richtung sein. Die Diskussion innerhalb der Partei – so berechtigt sie ist – muß das Ziel haben, irgendwelche konstruktiven Vorschläge zu erarbeiten, wie es weitergehen soll. Hier ist ja der größte Bedarf, was die politische Regelung der Zukunft angeht, auch Kreativität zu zeigen, auch zu zeigen, daß man politisch handlungsfähig ist.

    DLF: Aber immerhin, Herr Erler, hat der Bundesgeschäftsführer der Grünen, Wittekofer, davor gewarnt, daß es bei dem Parteitag der Grünen einen Beschluß geben könnte, der die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfreiheit der Koalition einschränken könnte. Das wäre aber doch das Ende für die Koalition?

    Erler: Es wäre sicherlich wünschenswert, daß die Grünen ihre Diskussionen – und sie haben übrigens etwas länger Zeit bis zu ihrem Parteitag und insofern auch die Chance, noch andere Nachrichten verarbeiten zu können aus dem Kosovo, aus Jugoslawien, während das bei der SPD etwas kurzfristig ist, weil der Parteitag am nächsten Montag stattfinden wird – aber es wäre in der Tat notwendig und wünschenswert, daß die Grünen ebenfalls eine Diskussion führen, die ganz klar auch auf das Ziel ausgerichtet ist, Antworten zu geben, wie diese Vertreibungspolitik im Kosovo beendet werden kann, wie der wahnwitzige Versuch, 1,8 Millionen Menschen zu vertreiben, beendet werden kann – und sich nicht nur zu konzentrieren auf die Frage: Deutsche Beteiligung an NATO-Angriffen 'Ja' oder 'Nein'. Das ist eine völlig verkürzte Diskussion, die können die Grünen sich meines Erachtens auch nicht leisten.

    DLF: Im Deutschlandfunk-Interview heute morgen der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Gernot Erler. Vielen Dank und auf Wiederhören nach Berlin.

    Erler: Auf Wiederhören.