Mittwoch, 24. April 2024

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Krieg in Libyen
Nahostexperte: Türkische Einmischung völkerrechtlich "legitim"

Die Türkei sei ein schwieriger Partner, aber beim militärischen Eingreifen in Libyen könne sich Präsident Erdogan auf den Hilferuf der libyschen Regierung berufen, sagte Volker Perthes im Dlf. Letzten Endes gehe es der Türkei aber darum, ihren Einfluss in der Region auszudehnen, so der Nahostexperte.

Volker Perthes im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 28.12.2019
Jürgen Zurheide: Über den türkischen Präsidenten haben wir schon gesprochen. Es gibt noch einmal Anlass, über ihn zu reden, denn Erdogan zündelt jetzt weiter im Nahen Osten, er will in Libyen militärisch eingreifen, und damit macht er die Lage noch viel unübersichtlicher. Wenn man sich die verschiedenen Interessen in Libyen aufmalt, dann kommt man zu einem sehr komplizierten Gebilde. Eine Regierung, eine Gegenregierung, dann gibt es mal die Italiener, die die einen, die Franzosen, die die anderen unterstützen – und das sind nur ganz wenige, die da genannt sind. Wir versuchen, das jetzt zu entwirren mit Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik, guten Morgen!
Volker Perthes: Schönen guten Morgen!
Türkei und Russland als verbündete Rivalen
Zurheide: Herr Perthes, fangen wir an mit den Interessen der Türkei, die möglicherweise nicht nur Waffen, sondern auch vielleicht Militär schicken will nach Libyen. Welche Interessen hat der Erdogan?
Perthes: Das eine große Interesse, wenn wir die Komplexität ein bisschen reduzieren wollen, heißt Einfluss. Einfluss in Libyen konkret, wo ein Bürgerkrieg tobt, Einfluss im östlichen Mittelmeerraum, Einfluss im Mächtespiel zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten auf der einen Seite und zwischen der Türkei und Katar auf der anderen Seite. Einfluss aber auch im Spiel zwischen Russland und der Türkei in dem Raum, das die Vorgängerimperien, wenn Sie so wollen, also das Osmanische Reich und das Russische Reich, irgendwann mal kontrolliert haben.
Porträt des Direktors der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Volker Perthes
"Die Deutschen versuchen, zu vermitteln, was nicht das Schlechteste ist." - Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) (picture alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert)
Zurheide: Fangen wir mit so ganz profanen Dingen an, obwohl sie nicht profan sind: Es geht auch um Öl. Erdogan will ja die Regierung, die in Tripolis herrscht, unterstützen – und hat sich dafür im Gegenzug zusichern lassen, dass er Zugriff aufs Öl hat im Mittelmeer. Ist das ein Punkt, den Sie berücksichtigen müssten?
Perthes: Er hat sich das zusichern lassen von einer Regierung, die eigentlich wenig zusichern kann. Die Regierung in Tripolis ist zwar international anerkannt, aber sie hat keinerlei Chancen, das eigene Meeresgebiet vor der Küste zu kontrollieren. Was hier geschlossen wurde, ist ein politisches Abkommen zu Lasten Dritter, die nicht beteiligt waren, die aber hätten beteiligt werden müssen, insbesondere Griechenland und Zypern, durch deren internationale Zonen, durch deren Hoheitsgewässer, sozusagen, die von Libyen und der Türkei auf einer Karte abgezeichneten Korridore verlaufen. Und insofern wird dieses Abkommen über die Meeresgebiete und die darunterliegenden Bodenschätze, das Türkei und Libyen miteinander abgeschlossen haben, vermutlich nie implementiert werden.
Revanche wegen Kurden-Unterstützung: Türkei will USA "ärgern"
Zurheide: Interessant ist ja auch: Eine türkische Delegation ist in den zurückliegenden Tagen in Moskau gewesen und hat verhandelt, da soll es auch um diese Dinge gegangen sein, denn interessant ist wiederum, Russland unterstützt die Rebellenregierung oder den Warlord Haftar. Da gibt es dann jetzt eine direkte Konfrontation, auf der anderen Seite kauft Erdogan Waffensysteme bei den Russen. Auch das ist, für mich jedenfalls, verwirrend. Für Sie auch?
Perthes: Es sieht erst mal verwirrend aus, aber es fällt genau in das rein, was ich eben versucht habe, zu sagen: Wir haben hier eine Auseinandersetzung auf mehreren Handlungsebenen. Eine davon ist die russisch-türkische. Hier haben wir zwei Staaten, die sich beide in der historischen Tradition sehen, die Türkei in der historischen Tradition des Osmanischen Reiches, Russland in der Tradition des Russischen Reiches. Beide Staaten hatten traditionell Einfluss auch im Mittelmeerraum, nicht zuletzt im östlichen Mittelmeerraum. Sie sind hier Konkurrenten, das haben wir auch in Syrien gesehen, das sehen wir jetzt in Libyen.
Und gleichzeitig wissen sie, dass sie immer da sein werden als Nachbarn. Das heißt, das sind Konkurrenten, die versuchen, miteinander umzukommen, sich, wenn Sie so wollen, an den Grenzgebieten der alten Reiche käbbeln und dort unterschiedliche Kräfte unterstützen, in Syrien und in Libyen; gleichwohl aber wissend, dass sie gemeinsame Gegner haben, die stärker sind, hier zum Beispiel die USA. Und wenn die Türkei gegen den Widerstand und gegen den Rat ihrer Nato-Partner Flugabwehrwaffen in Russland kauft, dann weiß sie, dass sie damit den USA schadet oder sie zumindest verärgert – wie man gleichzeitig aus türkischer Sicht verärgert ist durch die langjährige Unterstützung kurdischer Milizen durch die USA.
Hilferuf der Regierung in Tripolis
Zurheide: Jetzt machen wir es noch etwas komplizierter, jetzt kommen wir zu europäischen Interessen. Die Italiener wiederum stehen auf Seiten des Regierungsgebildes in Triplos, die Franzosen unterstützen Haftar und sind da quasi wieder mit den Russen zusammen. Eine europäische Antwort auf all das ist wegen des bestehenden Interessenkonfliktes da wohl kaum zu erwarten. Oder doch?
Perthes: Das ist leider tatsächlich so, Europa spielt bei den Imperien, von denen ich eben in Anführungsstrichen gesprochen habe, keine richtige Rolle im östlichen Mittelmeerraum. Die Europäische Union ist prinzipiell dazu verpflichtet, die sogenannte legitime, von der UN anerkannte Regierung zu unterstützen – wie Italien das ganz explizit tut. Frankreich ist auch daran gebunden, tut es aber nicht so explizit beziehungsweise gibt mehr oder weniger stille Unterstützung für Haftar, den man für einen kommenden starken Mann hält.
Und die Deutschen versuchen, zu vermitteln, was nicht das Schlechteste ist. Es gibt einen sogenannten Berliner Prozess, wo die deutsche Regierung versucht, zwei Dinge zu verhandeln mit allen Mächten, die hier involviert sind. Dazu gehört die Türkei, dazu gehören die Vereinigten Arabischen Emirate, dazu gehört Russland, dazu gehören andere. Diese zwei Dinge sind erstens ein Waffenstillstand, damit politische Verhandlungen möglich werden, und zweitens eine Einhaltung des ohnehin von der UN schon beschlossenen internationalen Waffenembargos gegen Libyen, was aber von allen unterlaufen wird – jetzt von der Türkei, wenn sie Waffen an die Regierung in Tripolis liefert und seit Längerem schon von Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten und von Russland.
Erdogans Einmischung "völkerrechtlich in Ordnung"
Zurheide: Jetzt hat die Bundeskanzlerin angekündigt, zeitnah, möglicherweise im Januar, Erdogan zu besuchen. Welche Einflussmöglichkeiten hat sie, jetzt auch eingedenk der Tatsache, dass wir natürlich ein anderes Problem in Syrien haben, das heißt Flüchtlinge, und das wird dann weitergeleitet an Griechenland. Insofern machen wir es noch etwas komplizierter, als wir es die ganze Zeit schon haben.
Perthes: Libyen ist bei Weitem nicht das einzige Problem, was EU-Staaten, insbesondere auch Deutschland, mit der Türkei haben. Im Gegenteil, man könnte sagen, in Sachen Libyen tut die Türkei etwas, das völkerrechtlich legitim ist, oder kündigt an, das zu tun. Es gibt nämlich einen Hilferuf der international anerkannten Regierung in Tripolis. Und Erdogan sagt jetzt, er wird diesem Hilferuf folgen, das ist völkerrechtlich in Ordnung, ganz anders als das, was die Türkei im Norden Syriens unternimmt.
Aber wenn man einen problematischen Partner wie die Türkei hat, dann ist das, was die Bundeskanzlerin tut, wahrscheinlich das, was man tun muss, auch wenn die Erfolgsaussichten gering sind – nämlich im Gespräch bleiben und deutlich machen, dass die deutsch-türkischen Beziehungen mit all ihren Verästelungen und ihren ökonomischen und gesellschaftlichen Dimensionen sich nur aufrechterhalten lässt, wenn man zumindest bei ein paar Fragen einen Kompromiss findet.
Hoffnungsvolle Anzeichen in der Region
Zurheide: Als Schlussfrage eine, die möglicherweise ganz schwierig ist, und ich weiß, wem ich sie stelle: Haben Sie die Hoffnung, dass im kommenden Jahr in der gesamten Region sich irgendwas zum Positiven wendet, haben Sie noch ein Stück Hoffnung? Ich weiß, Sie sind ja hinter den Kulissen oft beteiligt gewesen.
Perthes: Es gibt Hoffnungen, die aber jetzt weniger sich beziehen auf Verhandlungen, die zwischen Staaten geführt werden oder unter der Ägide Vereinten Nationen geführt werden. Wir können ein paar hoffnungsvolle Anzeichen sehen in Ländern wie Tunesien oder Algerien, immerhin reden wir über ein Nachbarland hier, über Libyen.
Auch im Sudan, wo wir gesehen haben, dass – anders als 2011, als die Rebellionen in der arabischen Öffentlichkeit ziemlich schnell niedergeschlagen worden sind –, wir hier den Versuch haben von Regierungen und Volksbewegungen, tatsächlich Kompromisse zu finden. Das haben wir in Tunesien gesehen, das haben wir in Algerien mit Abstrichen gesehen und im Sudan haben wir auch eine neue Regierung, die gerade versucht, die sudanesischen Milizionäre aus dem Jemen abzuziehen, wo wir eine ähnliche Situation haben oder hatten wie in Libyen, nämlich einen internationalisierten Bürgerkrieg.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.