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Die Anfänge der organisierten Gewalt
Krieg mit Keule

Mord und Totschlag sind so alt wie die Menschheit. Aber wann war zum ersten Mal Krieg? Am Ufer des Flüsschens Tollense kämpften Menschen der Bronzezeit wohl um ihre Handelswege. Die Toten erzählen viel über die Anfänge der organisierten Gewalt.

Von Volkart Wildermuth |
Ausschnitt aus der Fundschicht im Tollensetal. Die dicht an dicht liegenden Menschenknochen und Schädel lassen den Eindruck entstehen, hier habe eine dramatische Schlacht stattgefunden. Für die wissenschaftliche Interpretation müssen jedoch auch andere Szenarien in Betracht gezogen werden.
Ausschnitt aus der Fundschicht im Tollensetal. Hier hat vor über 3000 Jahren eine Schlacht stattgefunden. (LAKD M-V, Landesarchäologie, Christian Hartl-Reiter)
"Das ganze Tollensetal ist voll mit Funden, wenn man so will. Mein Vater hat das damals entdeckt beim Schlauchbootfahren. Er war halt unterwegs und da hat er gesehen, da gucken menschliche Knochen raus."

Das Tollensetal in Mecklenburg Vorpommern. Ein kleiner Fluss schlängelt sich zwischen grünen Wiesen. Links und rechts Hügel, auf der einen Seite ein Wald. Einzige Spur der Zivilisation: weit hinten eine Hochspannungsleitung. Ansonsten Idylle, eine friedliche Landschaft, in der Ronald Borkward gerne spazieren geht.
Das Flüsschen Tollense schlängelt sich durch die idyllische Landschaft in Mecklenburg
Blick auf das Tollense-Tal (Matthias Hennies)

"Und da hab ich dann mal nachgeguckt am nächsten Tag und bin dann sofort fündig geworden. Das Erste, was kam, war gleich dann ein Oberarm mit einer Pfeilspitze drin und da war schon klar, worauf das hinausläuft."

Flugzeugabfertiger, das ist Ronald Borkwards Beruf, seine Leidenschaft ist die Geschichte.

"Da hab ich eine Notbergung gemacht und bin dann auf den Holzhammer und habe den weiter verfolgt in die Böschung rein. Und da lag dann ein Schädel drauf, von einer 30- bis 40-jährigen Frau auf dem Holzhammer. Und das wagt man ja gar nicht zu glauben, in dem Moment. Fast ein Highlight des Lebens, wenn man so will."
Im Schädel eines jungen Mannes steckt eine Pfeilspitze aus Bronze. Das Projektil traf das Opfer mit so großer Wucht, dass die Spitze in das Schädelinnere eindrang und Verletzungen am Gehirn verursachte.
Fund aus den Tollense-Ausgrabungen: Schädel mit Pfeilspitze (LAKD M-V, Landesarchäologie, Sabine Suhr)
Mord und Todschlag sind so alt wie die Menschheit, heißt es. Aber wann war zum ersten Mal Krieg?

Theorien zum Ursprung des Kriegs

Die Definitionen für Krieg fallen sehr unterschiedlich aus. Haben sich Menschen schon immer bekämpft, führt also eine direkte Linie vom Gebiss des Schimpansen über Faustkeil und Bronzeschwert bis zur Kalaschnikow, wie Richard Wrangham von der Harvard Universität meint?

"Wie sich Schimpansengruppen zueinander verhalten, das erinnert durchaus an Krieg. Es gibt Koalitionen von Männchen, die bei günstigen Gelegenheiten angreifen und Mitglieder anderer Gruppen töten. Die Formel ist ganz einfach: Wenn Du ohne Risiko töten kannst, dann lohnt sich das."
Oder gab es einst ein friedliches Zusammen- oder auch Nebeneinanderherleben. Vielleicht mit Schlägereien, vielleicht mit Morden, aber ohne die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Gruppen? Heidi Peter-Röcher, Würzburg:

"Nach meinen Ergebnissen beginnt der Krieg mit hierarchischen Gesellschaftsformen, mit Befehlsstrukturen. Das heißt, an dem Zeitpunkt, wo es Leute gibt, die andere zu etwas zwingen können. Das ist sicher der Kriegsbeginn."

Entstand der Krieg erst, als die Menschen sesshaft wurden, oder noch später, als sie begannen Schwerter zu schmieden? Jürg Helbling, Konstanz:

"Krieg muss organisiert werden, es gibt Versammlungen, die Frage, ob man die Alliierten mobilisieren will oder nicht. Wann man losschlagen will, auf welche Weise. Ob man Überfälle startet oder zuerst eine Art Schlacht veranstaltet. Also das sind hochkomplexe Dinge, die nichts von dieser Emotionalität und Spontaneität von individuellen Gewaltausbrüchen haben."

Theorien zum Ursprung des Krieges gab es viele. Die einen träumten vom edlen Wilden, die anderen vom blutigen Naturzustand des Homo sapiens. Doch erst langsam sammeln sich ausreichend Daten an, um all die Thesen zu bewerten. Rick Schulting, Oxford:

"Menschen sind weder von Geburt an kriegerisch noch sind sie friedlich. Es hängt von den Bedingungen an. Ob sie gezwungen sind zu kämpfen, oder ob der Kampf einfach eine Möglichkeit ist, den Lebensunterhalt zu verdienen."

Ein Zufallsfund an der Tollense

Der Student Paul Hirschberg blickt auf das größte Grabungsfeld an der Tollense. 1996 hatte Ronald Borkward die ersten Knochen entdeckt. Über ein Jahrzehnt später ist die Fundschicht schon auf 20 Quadratmetern freigelegt, ein Gewirr aus Hölzern und Knochen, ein Huf, ein Schädel, alles säuberlich freipräpariert.
"Ein Wirbel wahrscheinlich von einem Pferd würde sehr nah kommen, weil drüben in dem Stück liegt auch Pferdeknochen", spekuliert der Student. "Vielleicht könnte man interpretieren, dass da irgendein Reiter gefallen ist. Man hat ja auch den Bronzering gefunden und der Schädel liegt ja auch noch da. Vielleicht irgendeine Elite. Wäre wahrscheinlich möglich. Aber ist nur eine Theorie."
Archäologe Thomas Terberger, damals Universität Greifswald, leitet die Ausgrabungen.
"Ja, hier haben wir eine besonders fundreiche Situation. Und hier hat man den Eindruck, dass die Überreste mindestens eines Menschen verteilt sind. Links haben wir den Schädel, mindestens zehn, zwanzig Rippen, nah beieinander liegend, da ist vielleicht der Brustkorb dann zusammengefallen, aber wir sehen auch Ober- und Unterschenkel, die vermutlich eben zu demselben Individuum gehören. Und die Knochen an der Stelle noch anatomisch in richtiger Lage zusammengeblieben sind."
Ein Mensch der Bronzezeit, gestorben vor über 3000 Jahren. Der Archäologe Thomas Terberger wird ihn bald genauer kennenlernen. Er sorgt dafür, dass die Knochen von Anthropologen und Chirurgen auf Verletzungen untersucht werden, dass sie mit Hilfe der Radiokarbonmethode exakt datiert werden, dass Veterinäre Tierknochen bestimmen und dass Archäobotaniker anhand von Pollen die vergangene Landschaft nachzeichnen. Noch ist es an dieser Grabungsstelle nicht so weit, jetzt kommt es erst einmal darauf an, den Fund zu dokumentieren. Die Archäologiestudentin Jana Dräger vermisst jedes einzelne Knochenstück, bevor sie es in ihren Plan einzeichnet.

Ein Durcheinander von Knochen

"Wenn da ein Knochenhaufen mit mehreren Rippen und Wirbeln und dann noch das Holz dazu, wenn das alles übereinander und untereinander und quer und kreuz liegt, dann kann man es auf dem Foto nie so genau erkennen, als wenn man es von 20 Zentimeter Entfernung sieht und zeichnet."

Das Durcheinander der Knochen belegt: Die Menschen der Bronzezeit sind nicht direkt hier gestorben. Die Leichen müssen flussaufwärts ins Wasser gefallen sein, sie trieben ein Stück, bevor sie auf einer Sandbank, in einem Altarm der Tollense hängenblieben, im Schlick versanken. Die Kleider, das Fleisch zersetzte sich. Allein die Kochen blieben im feuchten Torf über mehr als drei Jahrtausende erhalten. Nun liegen sie wieder frei und Grabungsleiterin Dr. Gundula Lidke muss schnell handeln. Was sie jetzt übersieht wird für immer im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben.

"Ja, momentan ist es noch so, dass man vielleicht wie ein Arzt am OP-Tisch, das einfach nur als Fundsituation begreift. Das Schicksal der einzelnen Person dahinter ist momentan eher wenig interessant."

Gewalt gehört zum Menschen, von Anfang an

Immer wieder stoßen Archäologen auf Spuren gewaltsamer Ereignisse. Die frühesten Belege stammen mit aus Deutschland. In der Großen Ofnethöhle bei Nördlingen fanden sich 33 zum Teil eingeschlagene Schädel. Sie sind 9000 Jahre alt und stammen von Jägern und Sammlern der Mittelsteinzeit. In Talheim bei Heilbronn entdeckte man auf einem Acker die Überreste eines Massakers an 34 Menschen der Jungsteinzeit. Gewalt gehört zum Menschen, von Anfang an. Doch diesmal geht es um ganz andere Dimensionen. Im Tollensetal sind vor über 3000 Jahren wahrscheinlich mehrere Hundert Menschen gewaltsam zu Tode gekommen.

Wie alltäglich war dieses Ereignis? Prägte die organisierte Gewalt das Leben der Menschen damals bereits? Rick Schulting:

"Wir sehen uns Verletzungsspuren direkt an Knochen an. Sie sind der direkte Beweis für körperliche Gewalt."

Auf der Suche nach aussagekräftigen Funden ist Rick Schulting durch Museen in ganz Europa gereist. Am Ende konnte der Archäologe an der Universität Oxford über 2000 Schädel untersuchen. Viele waren zerbrochen, trotzdem wagte er sich an eine Bestandsaufnahme der Gewalt.

"Wir haben die Kriterien angewandt, mit denen Rechtsmediziner Verbrechen und Morde nachweisen. So konnten wir unterscheiden, ob der Bruch im Schädel kurz vor dem Tod auftrat, als die Knochen noch elastisch waren. Später brechen sie ganz anders, weil sie ganz trocken sind."
Handout eines undatierten Grabungsfundes, vorgestellt am 11.02.2016 auf einer Pressekonferenz in Berlin zu den Ergebnissen von archäologischen Nachgrabungen auf einem Berg nahe Groß Fredenwalde in der Uckermark (Brandenburg). Die neu gefundenen Gräber datieren in die Mittelsteinzeit und sprechen
Knochen aus einer Grabung bei Groß Fredenwalde (dpa / Thomas Terberger)
Schultings Schädel stammen aus drei Phasen der Frühgeschichte: Die weitaus längste ist die Altsteinzeit. Über 150.000 Jahre lebten die Menschen als Jäger und Sammler. Das änderte sich, als Ackerbau und Viehzucht entstanden und die Bauern der Jungsteinzeit sesshaft wurden: in Mitteleuropa vor etwa 7500 Jahren. Die Bronze erreichte den Kontinent vor etwa 4200 Jahren. Die komplexe Metallbearbeitung erforderte komplexe Gesellschaften, mit umfassender Arbeitsteilung, oft hierarchischen Strukturen und weiträumigen Handelsbeziehungen. Spätestens hier mussten die Anfänge organisierter Gewalt zu finden sein. Doch wo genau?

Wenig Besitz, um den zu kämpfen sich gelohnt hätte

Über die langen Jahrzehntausende der Jäger-und-Sammler-Gesellschaften kann Rick Schulting kaum etwas sagen, es gab schlicht zu wenig Funde. Größere Auseinandersetzungen vermuten er und seine Kollegen für diese Periode aber nicht. Die Jäger und Sammler hatten wenig Besitz, um den zu kämpfen sich gelohnt hätte. Eine Ausnahme bilden die Küstenregionen mit ihren ergiebigen Fischgründen und Muschelfeldern.

"Und wie zu erwarten zeigt sich, dass aus dieser Zeit in Dänemark besonders viel Gewalt dokumentiert ist. Ein Kollege argumentiert sogar, dass es damals mehr Gewalt gab, als in den bäuerlichen Gesellschaften der Jungsteinzeit. Die Landwirtschaft hat dann den Druck eher gemildert, weil man die Gebiete im Landesinneren besser nutzen konnte."
Doch dann wuchs in der Jungsteinzeit die Bevölkerung. Die frühen Bauern konnten Besitz ansammeln, vor allem wertvolle Viehherden. Sie waren an ihre Felder gebunden, konnten streitbaren Nachbarn nicht einfach ausweichen. Es kam deshalb zu gewaltsamen Konflikten, die Rick Schulting in den Schädelsammlungen nachweisen kann.

"Die Zahlen schwanken etwas je nach Region und Zeit. Aber der Prozentsatz der Verletzungen, die keine Heilungsspuren zeigen, die also vermutlich die Todesursache waren, die liegen immer zwischen zwei und fünf Prozent. Das hört sich nicht nach viel an. Aber es gibt heute auf der ganzen Welt keine Gesellschaft, in der so viele Menschen an Kopfverletzungen sterben."

Die Jungsteinzeit, eine Periode der Gewalt. Doch die Daten lassen Raum für Interpretationen.

"Das hängt meines Erachtens an den Rechenwegen. Also wenn man eine kleine Gemeinschaft von sagen wir mal 30 Personen hat und da kommt in 20 Jahren ein gewaltbedingter Todesfall vor, weil sich irgendjemand dafür rächen will, dass ihm jemand die Frau weggenommen hat, dann ist das umgerechnet in solchen Zahlen, wie sie für Todesraten in Amerika berechnet werden, natürlich viel. Aber Tatsache ist: Es ist ein Todesfall in 20 Jahren."

Heidi Peter-Röcher ist Professorin für Archäologie an der Universität Würzburg. Auch sie versucht die Bedeutung der Gewalt anhand von Knochen in Museumssammlungen abzuschätzen. Schädel hat sie nicht untersucht, sondern systematisch Veröffentlichungen ausgewertet. In ihre Analyse konnte sie so die Überreste von etwa 18.000 Individuen mit einbeziehen, von der Altsteinzeit bis ins Mittelalter. Generell sind die Verletzungsraten ähnlich verteilt wie in der Studie von Rick Schulting. Auffällig ist vor allem der Beginn der Jungsteinzeit.

"Diese Zeit der Sesshaftwerdung war, glaube ich, auch zumindest in einigen Gebieten von ziemlicher Gewalt begleitet. Ob das als Krieg bezeichnet werden darf, da hätte ich meine Zweifel, und als diese neuen Formen des Umgangs miteinander, diese neuen Regeln gefunden waren, hat die Gewalt auch wieder aufgehört, das sehe ich an meinen Skelettfunden, ja."

Nur Gewalt oder schon Krieg?

Die Knochenfunde zeigen: Sobald es etwas gab, um das zu kämpfen sich lohnte, wurde auch gekämpft. Doch erst mit dem Aufkommen komplexerer Gesellschaftsformen in der Bronzezeit häufen sich die Spuren organisierter Gewalt, so Heidi Peter-Röcher. Was nicht heißt, dass es nicht auch schon in der Jungsteinzeit größere Auseinandersetzungen zwischen Gruppen gegeben haben kann. Rick Schulting verweist auf eine über 5500 Jahre alte Befestigungsanlagen aus England.

"Um diese Hügel-Befestigungen zu bauen, mussten Hunderte Leute koordiniert werden. Wenn das möglich war, dann konnte man auch Hunderte Leute für andere Zwecke organisieren, für Überfälle oder Kriege. Das ist eine neue Dimension. Gelegentlich entdecken wir sogar Belege. In Hambledon Hill wurde der Wall niedergebrannt. Im Schutt fand sich ein Skelett mit einer Pfeilspitze im Brustkorb. Das ist ziemlich eindeutig. Und in Crickley Hill hat man 400 Pfeilspitzen gefunden, die offensichtlich durch das Tor geschossen wurden, das war wohl ein ziemlich großer Angriff."

"Herbert und ich, wir gehen jetzt erst mal hier vorne rein und gucken uns dieses lange Holzteil an, was eventuell ein Einbaum ist. Dann schwimmen wir beide das Gebiet 32 ab. Und du könntest dich jetzt hier im Prinzip schon rumtreiben lassen, in die Richtung."

"Und ich gebe die Funde raus?"

"Wenn sie im Ufer drinnen stecken, lässt Du sie erst mal stecken. Da kommen wir hin, messen die ein, fotografieren das, zeichnen das vielleicht, die bleiben erst mal drinnen, aber muss natürlich unbedingt gemeldet werden, hier steckt was drinnen. Und die verspülten Funde werden ganz normal von Land aus mit GPS eingemessen hochgegeben."

Ein Team von Forschungstauchern bereitet sich auf einen Tauchgang in der Tollense vor. Sie haben sich in die sperrigen Trockentauchanzüge gezwängt, die Flaschen auf den Rücken geschnallt, die Kamera festgebunden. Und jetzt geht es endlich los.

Jedes Jahr verschieben sich die Windungen der Tollense, schneidet der Fluss andere Erdbereiche an und legt dabei neue Knochen frei. Der Historiker Dr. Joachim Krüger steigt an den Wochenenden regelmäßig in den Fluss. Im klaren Wasser finden er und seine Mitstreiter kleine Fingerknochen, lange Oberschenkel, ganze Schädel.

"Ich führe im Moment was die Anzahl der geborgenen Schädel angeht. Also alles in allem müssten es so sechs, sieben Schädel beziehungsweise Schädelfragmente sein, die ich hier gefunden haben. Das war an einem Tag, dass ich diese drei Schädel hintereinander gefunden hatte, letzten Montag, das war natürlich schon ein ganz besonderes Erlebnis, das ist, ich glaube, kaum zu toppen."

Einer lag einfach auf dem sandigen Grund. Andere waren schon von Algen bewachsen, ähnelten großen Steinen. Der Fluss nimmt sie mit, so wie er wohl schon vor über 3000 Jahren Leichen mitgeschwemmt hat. Wo der eigentliche Ort des Geschehens liegt, ist nach wie vor unklar. Die Taucher beobachten die Ufer vor allem flussaufwärts. Hoffen, dass die Tollense irgendwann das Schlachtfeld selbst offenlegt. Krüger:

"Ich hab mir die alte Fundstelle da drüben angeschaut. Zustand kontrolliert. Ja, die Strömung hat da ziemliche Schäden angerichtet. Das Ufer ist dort stark ausgefressen. Große Sedimentblöcke sind raus gebrochen und runter gerollt, aber ich hatte dann dort frisch aus dem Profil heraus diesen Gelenkkopf. Also menschlich durchaus."

Wieder an Land informiert Joachim Krüger Grabungsleitern Gundula Lidke

"Den einzelnen Knochen, der drinnen steckte, den hab ich nur als WGS 84, den können wir jetzt nicht einmessen. Aber der Wirbel kam ziemlich dicht dabei raus. Ihr könnt trotzdem Euch an dem Wirbel orientieren, den Wirbel als südlichsten Punkt nehmen und von dort hochgehen."

"Ungefähr drei vier Meter? Wo müssen wir hin?"

"53, 44, 42, 2, 13"

Handel über den Kontinent hinaus

Das Ausmaß der Gewalt im Tollensetal muss für damalige Verhältnisse enorm gewesen sein. Es gab keine Städte in der Region, keine großen Befestigungsanlagen. Norddeutschland war dünn besiedelt vor 3000 Jahren. Die Bauern lebten in kleinen, weit verstreuten Weilern von ein, zwei Dutzend Einwohnern. Sie fertigten kunstvolle Bronzearbeiten und trieben Handel mit weit entfernten Völkern, um das dafür nötige Kupfer und Zinn zu beschaffen. Aber mehrere Hundert Menschen an einem Ort, dazu Waffen, Verletzungen - das war außergewöhnlich. Was vor über 3000 Jahren geschah - niemand weiß das derzeit. Aber eine gewisse Vorstellung vom Krieg in Dorfgesellschaften kann die Völkerkunde vermitteln. Jürg Helbling:

"Ich war vor drei Jahren im Hochland von Neuguinea im östlichen Hochland und da sind wir letztlich in so einen Krieg reingelaufen, zwischen zwei Dörfern."

Jürg Helbling ist Professor für Ethnologie, zurzeit an der Universität Konstanz. Auslöser des Dorfkrieges, erzählt er, sei ein Betrug beim Kartenspiel gewesen.

"Das war ein Konflikt bei dem die beiden Seiten vereinbart haben, wann und wo sie sich bekämpfen wollen. Sie sind also noch nicht so auf 100 Prozent Eskalation gekommen, sondern sie haben zuerst auf Distanz zueinander mit Pfeilen vor allem sich beschossen. Das gab ein paar Verletzte aber keine Toten. Das ist bemerkenswert, weil diese Leute haben auch Gewehre. Also wir haben dann auch gehört, dass dieser Konflikt abgeflaut ist und nicht zu einer weiteren Eskalation geführt hat."

Konflikte zwischen Dörfern in Neuguinea

Bei solchen Schlachten gibt es nur wenige Tote. Anders bei Überfällen im Morgengrauen, bei denen die Angreifer bei geringem eigenen Risiko wahllos Männer, Frauen und Kinder töten. Das Hochland von Neuguinea ist bekannt für seine kriegerischen Dörfer. Jürg Helbling hat aber auch auf den Philippinen bei einem Volk gelebt, dem Gewalt praktisch unbekannt ist. Doch was ist der Normalfall? Unter welchen Umständen greift eine Gesellschaft an und unter welchen kehrt Friede ein? In alten Missionarsberichten, in Unterlagen von Kolonialbehörden und modernen Fachartikeln hat der Ethnologe nach Mustern gefahndet:

"Da zeichnet sich eigentlich ab, dass in Wildbeutergesellschaften, die also in kleinen mobilen Gruppen leben, vom Jagen und Sammeln leben, dass die keine Kriege führen. Es gibt zwar Gewalt zwischen Personen, aber es gibt keine Kriege in dem Sinne."

Von Krieg spricht Jürg Helbling, wenn eine ganze Gemeinschaft sich für einen Angriff entscheidet, wenn Gewalt nicht spontan aus einer Laune heraus geschieht, sondern organisiert wird. Wildbeuter haben das nicht nötig, können sich bei Konflikten im Notfall aus dem Weg gehen. Aber das ist nicht möglich für landwirtschaftlich geprägte Dörfer und auch nicht für Nomaden, die für ihre Herden Weidegründe brauchen. Helbling:

"In diesen Gesellschaften sind die Kriege ziemlich häufig."

Friedlichen Völker sind meist von überlegenen Nachbarn umgeben

Die wenigen wirklich friedlichen Völker sind meist von überlegenen Nachbarn umgeben, organisierte Gewalt ist für sie schlicht keine Option. Im Allgemeinen aber setzen Dorfgemeinschaften ihre Interessen auch mit Waffengewalt durch, wenn sie sich davon einen Vorteil versprechen.

"Man kann davon ausgehen, im Durchschnitt stirbt etwa ein Viertel der Bevölkerung, die stirbt an Folgen des Krieges, und bei den Männern ist es sogar ein Drittel. Und angesichts solch hoher Mortalitätsraten kann man wahrscheinlich nicht sagen, dass das etwas Seltenes ist."

Die Zahlen stammen von rund 30 Völkern, bei denen Ethnologen zum Teil über mehrere Jahrzehnte Todesursachen dokumentiert haben. Nicht alle Forscher halten die Zahlen für repräsentativ. Heidi Peter-Röscher betont, dass selbst in sehr gewaltbereiten Gesellschaften Kriege selten eskalieren.

"Und das liegt sicher daran, dass feindliche Dörfer ja nicht immer feindlich sind, sondern man heiratet ja auch. Man pflegt Heiratsbeziehungen mit diesen Dörfern. Es gibt also eine Vielzahl von Beziehungen zu denen auch gewaltsame Beziehungen gehören, aber es gibt auf der andren Seite auch viele Regeln des Tausches oder der Kompensation, die verhindern, dass man sich gegenseitig sozusagen ausrottet."

Konflikte fordern hohen Blutzoll

Trotzdem fordern die ständigen Auseinandersetzungen einen hohen Blutzoll. Und der wiederum prägt die Gesellschaft. Wenn ein Dorf mit Überfällen rechnen muss, dann kann es nicht einseitig auf Frieden setzen. Das zeigt sich in der Größe der Dörfer auf Papua Neuguinea. Abgelegene Siedlungen zählen einige Dutzend Menschen, genug um erfolgreich zu wirtschaften. In den Dörfern der Zentralregion dagegen, dort wo es regelmäßig zu Konflikten kommt, leben mehrere Hundert Personen. Jürg Helbling:

"Und diese größeren Kooperationsgruppen letztlich, die dienen vor allem kriegerischen Zwecken. Man muss versuchen, möglichst viele Männer zu haben, möglichst mehr Männer zu haben, als die potentiellen Feinde in der Nachbarschaft. Und die kooperieren ja dann auch im Krieg."
Urwald auf Papua-Neuguinea.
Die Insel Neuguinea birgt 14.000 Pflanzenarten. (dpa)

Kooperation und Krieg hängen unerwartet eng zusammen. Das bestätigen auch die Funde aus Mecklenburg-Vorpommern. Der Gewaltausbruch im Tollensetal liegt zeitlich in einer Umbruchphase zwischen der Hügelgräber- und der Urnenfelderkultur. Die Siedlungsstruktur ändert sich. Schon 200 Jahre nach der Schlacht finden sich im Tollensetal neben vereinzelten Weilern auch größere, befestigte Siedlungen. Vielleicht eine Reaktion auf kriegerische Auseinandersetzungen.

"Das war die Schaufel, wahrscheinlich…"
"Hier, mach mal ein Loch"
"Hier kamen doch die Bronzeteile raus, die Axt und so ein Ring auch in der Tiefe."
"Es ist immer wichtig, dass das Ding in Bewegung bleibt, wenn es da drüber geht."
"Ich glaub hier tut sich nichts mehr."
"Das Ding geht ja."

Hier piept ein Metalldetektor an einer neuen Sondierung im Tollensetal. Die Grassoden ist säuberlich aufgestapelt. Jetzt graben sich die Helfer langsam tiefer. Die Tollense wird regelmäßig ausgebaggert, der Aushub am Ufer verteilt. Gelegentlich wandert dabei ein Stück Vergangenheit vom Grund des Flusses an Land. Gundula Lidke:

"Also wir haben hier verschiedene Arten von Bronzefunden. Zum einen so Schmuckgegenstände, wie Nadeln, mit denen man Kleidung zusammengehalten hat, vielleicht auch Haarnadeln, aber auch Waffen wie Beile, ein Tüllenbeil, fast alles was man sich an Bonze für diese Zeit vorstellen kann."

Aber eben leider nur an der Oberfläche und nicht in der Fundschicht selbst, bedauert Grabungsleiterin Gundula Lidke.

"Wir sind zwar in der Bronzezeit, haben aber wirklich nur Knochen."

An den Skeletten lassen sich Spuren von Pfeilen genauso nachweisen, wie schwerste Schädelverletzungen durch Keulen im Nahkampf. Schwertverletzungen gibt es dagegen nicht. Für Thomas Terberger damals schon eine wichtige Erkenntnis aus dem Tollensetal.

"Die effektivsten Waffen, die sich über Jahrtausende gehalten haben, sind eben solche Waffen, wie Pfeil und Bogen, die jeder herstellen kann, die jeder hatte, und auch Holzwaffen, die sich jeder anfertigen konnten. Es sind, wenn man so möchte, die Waffen des kleinen Mannes oder des einfachen Mannes, die aber sehr effektiv sind und mitunter sich viel schneller und effektiver einsetzen lassen, als vielleicht eine schwerere Bronzewaffe."

Es gab eine Schlacht - aber wo genau war das Schlachtfeld?

Mehr als zehn Jahre sind seit dieser Reportage im Tollensetal vergangen. In dieser Zeit hat das Team um Thomas Terberger weitergeforscht, zusammen auch mit vielen ehrenamtlichen Laienforschenden.
"Am meisten überrascht hat mich, dass wir praktisch jedes Jahr neue, hochinteressante, ja spektakuläre Entdeckungen erlebt haben", sagt der Archäologe, der heute an der Universität Göttingen lehrt.
Mehr Knochen, mehr Spuren von Wunden, mehr Waffen. Aber auch private Gegenstände, eine bronzene Gürteltasche, Goldringe, verzierte Nadeln, die längst verschwundene Mäntel zusammenhalten haben. Die Forscher sind diesen Funden Jahr für Jahre weiter flussaufwärts gefolgt.
"Und dann stellten wir fest, dass dort in einem Bereich, wo das Tal relativ eng ist, dass dort eben Holzreste, sprich Pfähle im Fluss entdeckt wurden, die genau in die Zeit um 1300 vor Christus datieren. Und nach und nach konnte dann unter anderem auch durch geomagnetische Prospektion konnten dann die Spuren, ich sage mal: einer Straße durch das Tal entdeckt werden. Allem Anschein nach der Punkt, wo dieses Gewaltereignis, dem wir nachspüren, seinen Ausgangspunkt genommen hat."

Nahkampf mit Holzkeulen und Lanzen

In groben Zügen lässt sich das Geschehen inzwischen nachzeichnen. Zwei große Gruppen treffen auf der Handelsstraße an der Tollensequerung aufeinander. Die unterlegene Seite versucht entlang des Flusses zu fliehen, wird von Bogenschützen verfolgt - viele Pfeilspuren finden sich an Rücken oder Hinterkopf. Am Ufer kommt es dann zum Nahkampf mit Holzkeulen aber auch Lanzen mit Bronzespitzen. Leichen im Flachwasser werden geplündert, nur bei den Skeletten in tieferen Bereichen finden sich heute noch Metallgegenstände.
In den Grabungen finden sich die Überreste von 150 Menschen, vermutlich hat es damals mindestens 500 Tote gegeben. Fast alles junge, kräftige Männer. Die Muskelansätze an den Knochen zeigen: viele schossen regelmäßig mit Pfeil und Bogen und alle sind sehr viel gelaufen. "Und das ist ein Hinweis darauf, dass das eben nicht Menschen waren, die, ich sage mal, einer gewöhnlichen, ich sage jetzt mal landwirtschaftlichen Tätigkeit zum Beispiel nachgegangen sind, sondern dass die trainiert waren. Ein weiteres Indiz dafür, dass wir ja, ich sage es mal am Anfang einer Professionalisierung des Kriegswesens stehen."

Ein Teil der Krieger kam aus dem Süden

Anhand von Strontiumisotopen in den Knochen lässt sich die Herkunft einzelner Menschen rekonstruieren. Einige stammten aus der Region, andere kamen aus südlicheren Gegenden. Auch eine gerade veröffentlichte Analyse der Pfeilspitzenformen zeigt, dass ein Teil wohl in Norddeutschland gefertigt wurde, ein Teil vielleicht im heutigen Bayern oder Tschechien. Beide Gruppen trafen bei der Tollensequerung aufeinander.
Terberger ist sich mittlerweile sicher: "Die Dimension des Konfliktes geht über einen lokalen oder regionalen Konflikt meines Erachtens deutlich hinaus."
Und das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis: Wandel geht doch nicht so gewaltfrei vonstatten, wie man sich das manchmal vorstellt.

Die Bronzezeit als Goldenes Zeitalter ist widerlegt

Terberger: "Sie wissen, dass der Blick auf die Vergangenheit natürlich immer auch ein Spiegel der heutigen, des heutigen Zeitgeistes ist. Man hat sich vor 25 Jahren nicht vorstellen können, dass wir in der Bronzezeit es mit einer Zeit zu tun haben, wo kriegerische Auseinandersetzungen, Gewaltkonflikte eine größere Rolle spielen, sondern man hatte eher das Bild des Goldenen Zeitalters, wo man Handel getrieben hat, man überregional vernetzt war."
Tatsächlich breitet sich gegen Ende der Bronzezeit eine neue Kultur Richtung Norden aus, die Urnenfelderkultur. Lange hat man vermutet, dass es hier um die friedliche Aneignung neuer Keramikformen, neuer Techniken der Bronzeverarbeitung und der Brandbestattung ging. Das hat sich als falsch herausgestellt: "Ich denke, dass die Funde aus dem Tollensetal dafür sprechen, dass diese massiven kulturellen Veränderungen auch mit heftigen militärischen oder Gewaltkonflikten einhergegangen sind."

Kein Wandel ohne Gewalt

3000 Jahre ist es her, dass an der Tollense hunderte von Männern gegeneinander gekämpft haben. Die Wurzeln des Krieges mögen in der Menschheitsgeschichte noch weiter zurückreichen. Aber hier auf dem bislang ältesten Schlachtfeld Europas werden die Opfer zum ersten Mal sichtbar.
Eine Neubearbeitung und Aktualisierung eines Features aus dem Jahr 2010.
Produktion: Deutschlandfunk 2023