Simon: Herr Müller-Karpe, wie schwerwiegend sind denn diese Plünderungen, Verwüstungen, zum Beispiel des von Ihnen angesprochenen Nationalmuseums in Bagdad und des Museums in Mossul? Gibt es vielleicht andere Einrichtungen, die vergleichbare Ausstellungsstücke oder Stücke im Lager haben, die man heranziehen könnte?
Müller-Karpe: Im Bezug auf die Geschichte Mesopotamiens gibt es keine weitere Institution, vom Umfang her könnte man vielleicht das Britische Museum oder den Louvre, der Eremitage, mit weitem Abstand auch Berlin, das Vorderasiatische Museum nehmen, aber bezüglich mesopotamischer Geschichte war das Irakmuseum weltweit einmalig.
Simon: Herr Müller-Karpe, Sie waren auch nach dem letzten Golfkrieg schon im Irak tätig. Einmal abgesehen von solchen schlagzeilenträchtigen Verlusten wie im Nationalmuseum, welche Schäden hinterlässt so ein Krieg mit der anschließenden Gesetzlosigkeit am Kulturerbe?
Müller-Karpe: Beim letzten Krieg 1991 war es so, dass die unmittelbar vom Krieg verursachten Schäden weitaus geringer waren, als man befürchtet hatte. Die eigentlichen Schäden sind erst im Anschluss entstanden in den Tagen, als Gesetzlosigkeit herrschte, während des Volksaufstandes sind acht Provinzmuseen geplündert worden. Seitdem fehlen 4.000 bis 5.000 Objekte, von denen sind drei Objekte im Kunsthandel aufgetaucht, die sind dem Irakmuseum zurückgegeben worden. Der Rest fehlt. Der eigentliche oder dennoch schlimmere Schaden waren dennoch nicht einmal diese Dinge sondern es waren die Raubgrabungen, die im Land grassierten. Große Teile des Landes waren nicht zugänglich für den irakischen Antikendienst und dort begannen Plünderungen der archäologischen Stätten. Dazu muss man wissen, dass der eigentliche Wert eines archäologischen Objektes gar nicht mal im Objekt selbst liegt, sondern in dem Befund, der Umgebung, aus der er stammt, aus der ein Archäologe viele Informationen gewinnen kann: Kommt ein Fund aus einem Grab, lag es in der Hand des Toten, wie war der Tote ausgestattet, welche gesellschaftliche Position hatte er. All diese Dinge sind im Grunde viel wichtiger, als das Objekt selbst. Im Grunde ist eine solche archäologische Stätte wie ein Buch, ein Geschichtsbuch, in dem Sie lesen können. Wenn Sie jetzt aus diesem Buch einen Buchstaben herausreißen, mag dieser Buchstabe vielleicht ganz hübsch anzuschauen sein, aber aus dem Kontext herausgerissen, ist er im Grunde wertlos.
Simon: Der Irak ist aber übersät von Ausgrabungsstätten, wirklich vom Norden bis zum Süden und wenn jetzt die Besatzungsmacht schon nicht in der Lage ist, die großen Museen zu schützen, steht zu befürchten, dass die Ausgrabungsstätten wieder geplündert werden?
Müller-Karpe: Das befürchten wir, ja. Und wenn dieser gesetzlose Zustand noch länger anhält, wird das auch nicht zu vermeiden sein. Der Irak hatte zehn Jahre lang mit Plünderungen zu kämpfen, gegen Ende hat der Antikendienst die Sache langsam wieder in den Griff bekommen. Das fürchten wir, wird jetzt wieder der Fall sein. Was jetzt dringend notwendig wäre: Dass man den Antikendienst wieder arbeitsfähig macht, die Kollegen dort unterstützt, ihnen Fahrzeuge zur Verfügung stellt, auch Truppen, Polizeitruppen, die die Ruinenstätten bewachen, dass man die Wächter dort wieder installiert und zwar schnell, innerhalb von Tagen, nicht von Wochen.
Simon: Wenn Sie davon sprechen, wissen Sie aber selber, dass in der Prioritätenliste diese Dinge leider ganz weit hinten stehen. Es gibt ja sehr viele deutsche Institute, die mit Ausgrabungen im Irak beteiligt sind, gibt es da Anstrengungen, auf eigene Faust etwas zu organisieren?
Müller-Karpe: Wir stehen in engem Kontakt untereinander, auch mit Kollegen in Amerika, die Kontakt zu den Alliierten Truppen haben. Dort hat man versichert, dass man sich der Bedeutung bewusst ist. Es hieß übrigens auch, das Irakmuseum würde geschützt, es habe einen Befehl gegeben, der sei aber nicht ausgeführt worden. Von Offizieller Seite besteht durchaus das Bedürfnis und auch das Bewusstsein wohl. Wie weit das bis zu denen vordringt, die Entscheidungen zu treffen haben, ist eine andere Sache. Insofern ist es wichtig, dass die Öffentlichkeit hier tätig wird, die Presse darüber berichtet.
Simon: Das war ein Gespräch mit dem Archäologen Michael Müller-Karpe vom römisch-germanischen Zentralmuseum in Mainz, er gräbt seit über 30 Jahren immer wieder im Irak, über die Bedrohung des Kulturerbes im Irak.
Link: Interview als RealAudio