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Krim-Flüchtlinge in der Ukraine
Wenn die Heimat plötzlich verschwindet

Zu den Verlierern im Ukraine-Konflikt gehören die ukrainischen Krim-Bewohner. Viele von ihnen haben die Halbinsel bereits verlassen und müssen jetzt den Neuanfang organisieren. Vor allem Flüchtlinge ohne Verwandte auf dem Festland haben es schwer.

Von Florian Kellermann | 10.06.2014
    Das Hotel "Dnjepropetrowsk" aufgenommen am 26.03.2014 in der gleichnamigen Stadt in der Zentralukraine. Dort haben derzeit sieben Flüchtlingsfamilien von der Krim Zuflucht gefunden. Sie fühlten sich auf der von Russland annektierten Halbinsel bedroht. sich Schanna und Jakow binnen Stunden zur Flucht.
    In diesem Hotel in der zentralukrainischen Stadt Dnjepropetrowsk haben Flüchtlingsfamilien von der Krim Zuflucht gefunden. (Friedemann Kohler / dpa)
    Dmitrij Pritulenko blickt nervös mal in die eine, mal in die andere Richtung. Er kann das sommerliche Kiew nicht genießen, nicht die Straßencafes, nicht die Freiluft-Konzerte. Nachts träumt er davon, dass er immer noch in Simferopol lebt, 800 Kilometer weiter südlich, auf der Halbinsel Krim. Und auch am Tag lässt ihn die Erinnerung nicht los.
    "Ich bin an das Meer gewöhnt, ein Gefühl der Nostalgie begleitet mich ständig. Jetzt, im Juni, würde ich sicher ans Meer fahren und baden, mir fehlt das. Ich hänge irgendwie in der Luft, ich habe keinen Platz mehr auf der Welt. Dabei kann ich noch nicht einmal sagen, dass mir die Heimat weggenommen wurde, obwohl ich mich genau so fühle. Denn viele Krimbewohner haben sich ja gefreut über die Annexion durch Russland. Meine Heimat ist einfach verschwunden. Jetzt zahlen dort alle mit Rubel, überall hängt die russische Flagge, eine andere Ideologie ist eingezogen."
    Dmitrij verließ die Krim, bevor Russland die Bewohner dort im April faktisch dazu zwang, russische Pässe anzunehmen. Wer sich weigerte, nahm erhebliche Nachteile in Kauf. Der 28-Jährige wollte das nicht, obwohl seine Eltern ihn drängten. Er mag die Ukraine, weil sie darum kämpft, eine echte Demokratie zu werden, weil sie sich nach Europa öffnen will.
    Viele prowestliche Krimbewohner haben die Halbinsel verlassen
    Dmitrij organisierte ehrenamtlich Gesprächskreise in Fremdsprachen, zu denen er Krimbewohner und Ausländer einlud, auch einen englischen und einen deutschen Gesprächskreis. Sie sind inzwischen fast alle eingeschlafen. Viele Ausländer sind ausgereist, viele prowestliche Krimbewohner auch. Und diejenigen, die noch da sind, haben Angst, sich öffentlich zu verabreden.
    "Gerade sind vier pro-ukrainische Aktivisten verhaftet worden. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie terroristische Anschläge verüben wollten, obwohl es dafür keine Beweise gibt. Wer die neuen Machthaber ablehnt und das zeigt, der hat kein leichtes Leben auf der Krim. Die Befürworter des Anschlusses an Russland denken nach einem einfachen Schema: Wer nicht für uns ist, der ist ein Feind."
    Das musste der Medschliz, die Interessenvertretung der Krimtataren schon erleben. Als er vor Kurzem die ukrainische Flagge auf dem Gebäude befestigte, leitete die Staatsanwaltschaft sofort ein Strafverfahren ein - Schüren von Hass unter den Nationen, so der Vorwurf.
    Dmitrij hält weiter Kontakt zu Freunden, die noch auf der Krim leben. Von ihnen weiß er, dass die Euphorie über den Anschluss an Russland inzwischen verflogen ist. Vor allem wegen der stark gestiegenen Preise: Die Krimregierung erschwert die Einfuhr ukrainischer Waren - und russische Produkte sind deutlich teurer. Probleme es Übergangs, meinen diejenigen Krimbewohner, die zur Russland wollten.
    Dmitrij ist froh, dass er mit ihnen nicht mehr diskutieren muss, er ist bei seinem Bruder in der Nähe von Kiew untergekommen.
    Wer keine Verwandten auf dem Festland hat, hat es schwer
    Schwerer haben es die Flüchtlinge ohne Verwandte auf dem Festland. In einem Heim in der Nähe von Kiew sind Bürger aus der umkämpften Ostukraine und von der Krim untergebracht. Aijsche Ligus holt gerade ihre Tochter aus dem Zimmer ab, wo die Kinder neben Kleinerschränken und einer Waschmaschine spielen. Ihre siebenköpfige Familie, die aus einem Dorf bei Bachtschissaraj stammt, ist vor zwei Monaten aufgebrochen.
    "Wir sind gefahren, weil wir die Politik von Putin ablehnen. Sie unterdrückt die Muslime. Die Mädchen dürfen in der Schule jetzt keinen Hidschab mehr tragen, das traditionelle muslimische Kopftuch, das gleiche gilt für Frauen auf der Arbeit. Oder wenn beim Freitagsgebet der Platz in der Moschee nicht reicht und die Männer deshalb auf der Straße knien, dann gilt das in Russland gleich als illegale Versammlung. Dabei ist das Gebet doch eine Pflicht für jeden muslimischen Mann."
    Ajsche ist Ukrainerin und zum Islam übergetreten, als sie einen Krimtataren heiratete. Deshalb hat die Lehrerin auch verfolgt, wie die neue Krimregierung den Tataren im Mai verbot, mit einer großen Veranstaltung ihrer Deportation von der Halbinsel zu gedenken, vor genau 70 Jahren. Wegen der Gefahr von Provokationen seien Massenveranstaltungen untersagt, verfügte sie. Die Krimtataren halten das für vorgeschoben: Russland wolle schlicht nicht an die Verbrechen von Josef Stalin erinnert werden, meinen sie.
    Dmitrij Pritulenko und Ajsche Ligus wissen nicht, ob sie die Krim jemals wieder sehen werden. Aber zumindest sind sie auf dem ukrainischen Festland nicht alleine. Immer mehr ihrer Freunde gehen den gleichen Weg und verlassen die Halbinsel.